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EIN REBELLISCHER MÖNCH 1-17

2017. november 22. 16:40 - RózsaSá

  1. Ein Jungphilosoph im Gewitter

Wir schreiben den zweiten Juli 1505, und die Welt weiß noch nicht, dass gerade das Mittelalter vergeht und die Neuzeit begonnen hat. Ein frischgebackener Magister der Philosophie, 21 Jahre jung, marschiert auf einsamen Wegen in Richtung Erfurt, wo er an der dortigen Universität Philosophie unterrichtet und ein Zweitstudium, Jura, begonnen hat. Er war bei seinen Eltern zu Besuch in Mansfeld, einem kleinen Ort zwischen Magdeburg und Erfurt.

Gleich wird der Blitz neben ihm einschlagen und seinem Leben eine entscheidende Wende geben. Nur zwölf Jahre später wird diese Wende im Leben des Magisters Martin Luder eine weltgeschichtliche Wende einleiten, und Luder wird sich Luther nennen, was von »Eleutherius« kommt und so viel bedeutet wie »der Befreite«. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Erfurt dagegen ist jetzt nahe. Sechs Kilometer noch. Den größten Teil seines rund hundert Kilometer langen Fußmarsches hat der Magister Luder hinter sich. Hundert Kilometer Einsamkeit. Hundert Kilometer über Felder und Wiesen, durch die Hitze des Tages und die Kühle der stockdunklen Nacht. Mühsame Wege durch Brachland und Heidelandschaft, vorbei an unbegradigten Bächen und Flüssen, an Sümpfen, Tümpeln und Weihern, über Berge und durch Täler. Viel Wald. Ab und zu eine dem Wald durch Brandrodung abgetrotzte Lichtung. Hier und da ein Weiler, seltener ein Dorf mit einer Gastwirtschaft, die zum Rasten und Essen und Trinken einlädt, noch seltener eine Ansammlung von Häusern, die man Stadt nennen könnte. Weit und breit nur Natur und Wildnis und Gefahr.

Für die Schönheit der Natur hat der junge Mann keinen Blick, denn darin konnte man umkommen. »Extra muros«, außerhalb der sicheren Stadtmauer, lauern Räuber, wilde Tiere, Geister, Hexen und Dämonen. Daher atmet er auf, als er müde, einsam und gedankenversunken in der Ferne die Stadtmauern von Erfurt erblickt. Aber nun zieht ein Gewitter auf. Wieder so eine Gefahr. Er fürchtet Gewitter. Obwohl er doch studiert hat, glaubt er, dass es bei einem Gewitter Gott ist, der donnert. Oder der Teufel. Jedenfalls eine überirdische, außernatürliche Macht, die strafen oder gar töten will.

Es wird noch zwei Jahrhunderte dauern, bis die Menschheit lernt, dass der Blitz eine natürliche Erscheinung ist, hervorgerufen durch den Zusammenstoß kalter und warmer Luftmassen, die sich elektrisch entladen, und nicht durch den Zorn Gottes. Und es ist dieser mittelalterliche, abergläubische Luther, der ohne eigenes Wollen dem menschlichen Denken einen Weg bahnt, an dessen Ende die »Krücke Gott« als Erklärung für die vielfältigen Erscheinungen der Natur nicht mehr gebraucht wird.

Er selbst bleibt dem Mittelalter verhaftet bis zu seinem Tod. Bis zuletzt ist er von der Vorstellung durchdrungen, dass Gott und der Teufel immer und überall unsichtbar anwesend sind und in das Weltgeschehen und jedes einzelne Leben eingreifen. Deshalb versteht er Blitz und Donner als Sinnbild für Gottes Zorn, aber auch als Warnungen und Drohgebärden, die sich an Einzelne oder Gruppen richten.

Besser so eine Warnung als ewig in der Hölle schmoren – die schlimmste Strafe, vor der sich alle immerzu fürchten. Dass die Guten in den Himmel kommen, die Bösen in die Hölle, und ein großer Teil erst im Fegefeuer für seine Sünden büßen muss, bevor es doch noch den ersehnten Passierschein in den Himmel gibt, glauben zu jener Zeit fast alle. Wer daran zweifelt, tut es heimlich und ist sehr wahrscheinlich ein Fürst, König oder Kaiser, vielleicht auch ein Bischof, Kardinal oder Papst im fernen Rom.

Das normale Volk aber lebt in der Überzeugung, dass sein Erdenleben nur eine kurze, jedoch entscheidende Zwischenstation auf dem Weg in den Himmel oder zur Hölle ist. Die Erde ist eine Scheibe, darunter verbirgt sich die Hölle, und von dort aus versucht der Teufel, möglichst viele Seelen zu sich nach unten zu ziehen. Aber darüber wölbt sich der Himmel, und von dort aus versuchen Gott, Jesus, der Heilige Geist, Maria und alle Engel und Heiligen, die Seelen zu sich nach oben zu ziehen. Der Schauplatz dieses Ringens zwischen Himmel und Hölle um jede einzelne Menschenseele ist diese flache Erdscheibe, sie ist der Ort der Bewährung des Menschen. Hier muss der Mensch sich entscheiden zwischen Gut und Böse, Gott und dem Teufel.

Aber kann er das? Hat er überhaupt einen freien Willen? Was kann denn der Mensch tun, dass er in den Himmel kommt? Viel, sagen die Priester, die Mittler zwischen Gott und Mensch. Gute Werke soll er tun. Gehorsam gegenüber Papst und Kaiser, allen Obrigkeiten und natürlich auch gegenüber jedem Priester soll er seine Pflichten erfüllen. Vater und Mutter ehren, den Feiertag heiligen, Gott fürchten und beten soll er. Nicht stehlen soll er, nicht lügen, nicht betrügen, nicht morden, keine Unzucht treiben, nicht schlecht über andere reden und keine sündigen Gedanken hegen. Aber weil besonders Letzteres fast unmöglich ist, soll er regelmäßig beichten, seine Sünden und seine sündigen Gedanken aufzählen, bereuen, büßen, fasten, sich von seinen Sünden loskaufen und sicherheitshalber auch für seine verstorbenen Angehörigen eine Messe lesen lassen, eine Kerze stiften, einen Ablassbrief kaufen. Der Papst in Rom und die Bischöfe und Kardinäle in ganz Europa leben gut davon.

Aber wenn es hilft? Wenn man sich tatsächlich seine Planstelle im Himmel durch gute Werke auf Erden erarbeiten und, wenn’s nicht ganz reichen sollte, den Rest kaufen könnte, dann wäre ja alles gut.

Wenn es aber nicht hilft? Warum überhaupt sollte es helfen?

Das ist die Frage, die Luther seit seiner Jugend umtreibt und in späteren Jahren immer stärker plagt, oft schier verzweifeln lässt und in eine Frage mündet, die uns heute völlig fremd ist: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Letztlich ist es diese Frage, aus der sich alles Weitere entwickelt und schließlich in jenen Vorgang mündet, der »Reformation« genannt wird.

Heute tun wir uns so schwer damit, das zu verstehen, weil Luthers Frage schon lange nicht mehr unsere ist. Unsere Frage lautet eher: Gibt es überhaupt einen Gott? Und vielen stellt sich nicht einmal mehr diese Frage. Sie ist ihnen gleichgültig, oder sie haben längst entschieden, dass Gott eine Illusion sei.

Für Luther aber und seine Zeitgenossen war die Existenz Gottes und auch des Teufels eine selbstverständliche Realität, und auch, dass dieser Gott am Ende aller Tage über jedes einzelne Menschenleben richten und entscheiden wird: ewiges Glück im Himmel oder immerwährende Qualen in der Hölle. Und dieses Ende ist nah. Viele, auch Luther, erwarteten den baldigen Weltuntergang, das Jüngste Gericht, die ewige Höllenqual.

Hieronymus Bosch hat sie gemalt, diese Qualen der Hölle. Sein Weltgerichtstriptychon versetzte die Betrachter in Angst und Schrecken, vor allem auch deshalb, weil der Tod allgegenwärtig, die durchschnittliche Lebenserwartung niedrig war. Krankheiten, Seuchen, eine hohe Kindersterblichkeit, das Kindbettfieber, das viele Mütter umbrachte, aber auch die harte Arbeit, die feuchte Kälte in vielen Wohnungen, das alles schuf ein Bewusstsein für den Tod, der jederzeit an die Tür klopfen konnte.

Was muss ich tun, damit mir das Fegefeuer oder gar die ewigen Qualen der Hölle erspart bleiben? Was kann ich für meine verstorbenen Verwandten tun? Das war die Frage, die alle umtrieb.

Und Luther kam, je länger er darüber nachdachte, umso sicherer zu der niederschmetternden Erkenntnis: Nichts kannst du tun. Jeder landet in der Hölle. Wir sind alle verloren, denn der Kampf gegen das Böse in uns ist von uns nicht zu gewinnen.

Gott sieht doch ins Herz hinein, grübelt Martin Luther, und da sieht er das unstillbare Verlangen nach Sex, Macht, Reichtum, Ehre, Ansehen, Geltung – ein kochendes, mühsam unter dem Deckel gehaltenes Gebräu, das einer mithilfe eines äußerlich tadellosen Lebens gut vor allen anderen und sogar vor sich selber verbergen kann, aber nicht vor Gott. Luther, und das unterscheidet ihn möglicherweise von fast allen seinen Zeitgenossen, blickt offenen Auges in dieses Gebrodel aus unbefriedigten Sehnsüchten, heimlichen Wünschen und Begierden, um zu sehen, was Gott sieht. Wo andere wegsehen, bewusst die Augen schließen oder sogar instinktiv und unwillkürlich den Blick abwenden, da schaut Luther geradezu magisch angezogen hin.

Wenn es aber nicht hilft? Warum überhaupt sollte es helfen?

Das ist die Frage, die Luther seit seiner Jugend umtreibt und in späteren Jahren immer stärker plagt, oft schier verzweifeln lässt und in eine Frage mündet, die uns heute völlig fremd ist: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Letztlich ist es diese Frage, aus der sich alles Weitere entwickelt und schließlich in jenen Vorgang mündet, der »Reformation« genannt wird.

Heute tun wir uns so schwer damit, das zu verstehen, weil Luthers Frage schon lange nicht mehr unsere ist. Unsere Frage lautet eher: Gibt es überhaupt einen Gott? Und vielen stellt sich nicht einmal mehr diese Frage. Sie ist ihnen gleichgültig, oder sie haben längst entschieden, dass Gott eine Illusion sei.

Für Luther aber und seine Zeitgenossen war die Existenz Gottes und auch des Teufels eine selbstverständliche Realität, und auch, dass dieser Gott am Ende aller Tage über jedes einzelne Menschenleben richten und entscheiden wird: ewiges Glück im Himmel oder immerwährende Qualen in der Hölle. Und dieses Ende ist nah. Viele, auch Luther, erwarteten den baldigen Weltuntergang, das Jüngste Gericht, die ewige Höllenqual.

Hieronymus Bosch hat sie gemalt, diese Qualen der Hölle. Sein Weltgerichtstriptychon versetzte die Betrachter in Angst und Schrecken, vor allem auch deshalb, weil der Tod allgegenwärtig, die durchschnittliche Lebenserwartung niedrig war. Krankheiten, Seuchen, eine hohe Kindersterblichkeit, das Kindbettfieber, das viele Mütter umbrachte, aber auch die harte Arbeit, die feuchte Kälte in vielen Wohnungen, das alles schuf ein Bewusstsein für den Tod, der jederzeit an die Tür klopfen konnte.

Was muss ich tun, damit mir das Fegefeuer oder gar die ewigen Qualen der Hölle erspart bleiben? Was kann ich für meine verstorbenen Verwandten tun? Das war die Frage, die alle umtrieb.

Und Luther kam, je länger er darüber nachdachte, umso sicherer zu der niederschmetternden Erkenntnis: Nichts kannst du tun. Jeder landet in der Hölle. Wir sind alle verloren, denn der Kampf gegen das Böse in uns ist von uns nicht zu gewinnen.

Gott sieht doch ins Herz hinein, grübelt Martin Luther, und da sieht er das unstillbare Verlangen nach Sex, Macht, Reichtum, Ehre, Ansehen, Geltung – ein kochendes, mühsam unter dem Deckel gehaltenes Gebräu, das einer mithilfe eines äußerlich tadellosen Lebens gut vor allen anderen und sogar vor sich selber verbergen kann, aber nicht vor Gott. Luther, und das unterscheidet ihn möglicherweise von fast allen seinen Zeitgenossen, blickt offenen Auges in dieses Gebrodel aus unbefriedigten Sehnsüchten, heimlichen Wünschen und Begierden, um zu sehen, was Gott sieht. Wo andere wegsehen, bewusst die Augen schließen oder sogar instinktiv und unwillkürlich den Blick abwenden, da schaut Luther geradezu magisch angezogen hin.

Er erblickt einen Abgrund, über den der Mensch keine Macht hat. Vier Jahrhunderte vor Sigmund Freud entdeckt Luther, was Freud später das »Es« nennen wird, jene Wirklichkeit in uns, die uns nicht bewusst ist und über die wir deshalb keine Kontrolle haben.

Wohl kann einer gute Werke tun, aber die heimliche Freude verhindern, die sich automatisch einstellt, wenn er jemandem begegnet, der kleiner, dümmer, hässlicher, ärmer ist als er selbst, kann er nicht. Schneller als man sich einen schlechten Gedanken verbieten kann, ist er schon da. Unsere Wünsche und Gedanken kommen aus einem Reich, das wir nicht kontrollieren können, und oft münden sie in Taten, die besser nie geschehen wären.

Deshalb braucht es die Polizei, Richter, Henker und das Jüngste Gericht. Ohne sie bräche das ganze widerliche Gebräu aus den Menschen hervor, und sie würden einander belügen und betrügen, berauben, vergewaltigen und umbringen.

Luther erschrickt zutiefst, als er erkennt, dass er den Kampf gegen das Gebrodel nicht gewinnen kann, dass niemand ihn gewinnen kann, also alle verdammt sind, denn Gott, so steht es in der Bibel, ist ein gerechter Gott. Und wenn er wirklich gerecht über jeden Einzelnen urteilt, kann dieses Urteil eigentlich nur die Verdammung sein.

Das und seine Angst vor der fürchterlichen Strafe Gottes treiben diesen Luder in eine Entwicklung, die ihn zu Luther reifen lässt, zum Reformator, Entdecker des Gewissens, Widerständler gegen die höchsten Autoritäten, zum Ketzer. All das hat er eigentlich nie werden wollen. Stets ist es ihm nur darum gegangen, Gewissheit darüber zu erlangen, dass er in den Himmel kommt, und nicht in die Hölle. Sein ganzes Leben entwickelt sich aus diesem Kampf um sein privates Seelenheil, aber dieser private Kampf treibt Luther voran zu Gedanken, die ihn selber verblüffen, von denen er weiß, dass sie ketzerisch sind, aber wahr und daher wert, gegen alle Welt, auch gegen den Papst, verteidigt zu werden.

Leidenschaftlich, verzweifelt, bar aller Hoffnung, angstgepeinigt, masochistisch wie wohl keiner seiner Zeitgenossen forscht, denkt und grübelt er, ob das wirklich sein kann, dass es keinen Ausweg gibt. Und dann macht er die Entdeckung seines Lebens, die zur Jahrhundertentdeckung wird und – wiederum für uns heute schwer verständlich – die ganze Welt umkrempelt: Wir brauchen diesen Kampf nicht zu gewinnen, denn er ist schon gewonnen. Von Gott. Für uns. Und wir müssen das nur glauben.

Die Erkenntnis, dass wir nicht verloren, sondern längst gerettet sind, hat Luther so sehr von seiner erdrückenden Last befreit, dass explosive Kräfte in ihm freigesetzt wurden – Kräfte, die viele seiner Zeitgenossen erschüttert haben, bis nach Rom gedrungen sind und die Mauern des Vatikans und der ganzen katholischen Kirche erbeben ließen. Ohne dass er es wollte, und ohne dass er es gleich bemerkt hätte, geriet der kleine unbekannte Bergmanns-Sohn aus der sächsischen Provinz durch seine befreiende Erkenntnis – und einen »Zufall« namens Tetzel, von dem wir noch hören werden – fast zwangsläufig in eine lebensbedrohliche Auseinandersetzung mit einer fast unumschränkt herrschenden Supermacht: der römischen Kir

 

Aus diesem Konflikt kommt der Nobody aus Sachsen nicht mehr heraus, sondern gerät immer tiefer hinein und entwickelt sich dadurch im Lauf der Jahre zum weltbekannten Ketzer, der dem Papst die Stirn bietet, zum Rebellen, der nur noch Gott und dessen Wort als einzige Autorität anerkennt, und darum weder den Tod noch den Kaiser oder irgendeine andere irdische Macht fürchtet, der den Mönchstand als nichtsnutzig und Klöster zu überflüssigen Einrichtungen erklärt, daher seine Mönchskutte auszieht, das Kloster verlässt und – Skandal – eine entlaufene Nonne schwängert und heiratet. So wurde er zum Reformator und Gründer einer neuen Kirche und nebenher auch noch Bibelübersetzer, Schöpfer der deutschen Sprache, Schriftsteller, Bestseller-Autor und Ahnherr der Institution des evangelischen Pfarrhauses.

Doch davon ahnt die Welt im Jahre 1505 noch nichts. Und auch der Student, der an jenem zweiten Juli 1505 bei Stotternheim das letzte Stück Weges von Mansfeld nach Erfurt zurücklegt, weiß nichts davon, ahnt nicht, dass zwölf Jahre später sein Name dem Papst, dem Kaiser und allen Fürsten bekannt sein wird. Er hätte es wohl kaum geglaubt, wenn ihm damals jemand gesagt hätte, dass er als einer der ganz großen Beweger eine schon länger gärende Entwicklung so beschleunigen wird, dass es zu einem Epochenwechsel kommt, dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.

Heutigen Historikern ist diese Einteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit viel zu grob und daher schon lange suspekt. Ihre Fülle an Wissen über Details, einzelne Entwicklungsstränge und deren komplizierte Verästelungen in der Zeit erlaubt es ihnen nicht mehr, in solch grobschlächtigen Kategorien zu denken.

Für uns Laien, die wir das Ganze aus großer Distanz nur grob überblicken, bleibt diese Einteilung weiterhin hilfreich, denn trotz allen Differenzierens ragen vier Namen aus der damaligen Zeit bis heute so hoch heraus, dass wir von einem Epochenwechsel sprechen können: Johannes Gutenberg, Erfinder des Buchdrucks (1400 bis 1468), Christoph Kolumbus, Entdecker Amerikas (1451 bis 1506), Nikolaus Kopernikus, Lehrer des heliozentrischen Weltbilds (1473 bis 1543) und eben: Martin Luther, Entdecker des Gewissens, Ketzer, Reformator, Kirchenspalter und vieles mehr (1483 bis 1546). Noch heute wirkt auf der ganzen Welt nach, was diese vier mutigen Männer vor fünf Jahrhunderten gedacht und getan haben.

Dass Luther seine Ketzereien überlebt hat, ist fast ein Wunder. Mit Leuten wie ihm hatte die Kirche eigentlich immer kurzen Prozess gemacht. Ketzer wurden in den Kerker geworfen, gefoltert, gerädert, gevierteilt, verbrannt. 90 Jahre vor Luthers Fußmarsch nach Erfurt wurde Jan Hus in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er in Prag etwas gelehrt hatte, was der offiziellen Wahrheit der Kirche widersprach. Luther wird an einem ähnlichen Schicksal knapp vorbeischrammen und es nur einer Serie von Zufällen, politischen Verwicklungen und Interessenskonstellationen zu verdanken haben, dass er dem Feuer entgeht.

Aber nun schlägt erst einmal der Blitz neben ihm ein, und damit beginnen die Geschichten und Legenden, die sich später um sein Leben ranken werden. Er selbst ist häufig die Quelle solcher Legenden, auch für die vom Blitzschlag. Er habe sich in Todesangst auf den Boden geworfen, erzählte er später, und geschrien: »Hilf du, Sankt Anna, ich will ein Mönch werden.« Und Anna, die Schutzpatronin der Bergleute, half.

 

Luthers Vater war Bergmann und später Besitzer einer eigenen Mine. Die ganze Gegend, in der Luther aufwuchs, entwickelte sich damals dank des Bergbaus zu einer wirtschaftlich aufsteigenden Region. Deshalb rief Luther die heilige Anna um Hilfe.

Luther überlebt den Blitzschlag, aber ob er eine Strafe Gottes war oder ein Anschlag des Teufels auf ihn, oder ob Gott erzwingen wollte, dass er ein Mönch wird, oder ob es gar der Teufel war, der ihn im Kloster sehen wollte – darauf gibt Luther zu verschiedenen Zeiten verschiedene Antworten. Fakt ist: Nachdem er heil in Erfurt angekommen war, dauert es noch vierzehn Tage, dann geht er dort tatsächlich ins Schwarze Kloster der Augustiner-Eremiten und wird Mönch.

Warum? Nur weil er es so gelobt hat?

Es gibt selten nur ein einziges Motiv für das, was man tut. Meistens vermengen sich mehrere Motive miteinander, edle mit unedlen, bewusste mit unbewussten. Luthers »Über-Ich« könnte gesagt haben: Du musst ins Kloster, weil Gott es so will. Luthers »Ich«: Das Kloster muss jetzt einfach sein. Es kann mir helfen, meine drängenden Fragen zu klären. Das »Es«: Du willst doch gar nicht Jura studieren. Du willst dich nicht dem Willen deines Vaters unterwerfen. Du kannst ihm mit dem Kloster ein Schnippchen schlagen.

Aber klar ist: Nur mit einem »Gott will es, und ich habe es bei der Heiligen Anna geschworen«, also mit der höchsten Autorität ausgestattet, kann Luther sich dem Willen der anderen Autorität, der seines strengen Vaters, widersetzen.
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II. Hundert Kilometer Einsamkeit
Sein Weg von Mansfeld nach Erfurt führte Luther durch ein sonderbares
Land. Von der Grafschaft Mansfeld gelangte er über das Herzogtum
Sachsen ins Kurfürstentum Sachsen und von dort ins kurmainzische
Erfurt. Wäre er weitermarschiert, wäre er durch weitere
zahlreiche Herzogtümer, Grafschaften, Fürstentümer, freie Städte,
Reichsstädte, Bistümer und Erzbistümer gekommen. Alle zusammen
nannten sich zwar schon deutsch, aber Deutschland gab es noch
nicht. Eine deutsche Hauptstadt gab es nicht. Und obwohl dieses
deutsche Kleinstaaten-Konglomerat Teil eines sogenannten »Heiligen
Römischen Reiches Deutscher Nation« war, hat es auch noch
keine deutsche Nation gegeben und auch keinen klassischen Nationalstaat
von der Art, wie er heute üblich ist.
Zu Luthers Lebzeiten glich das Heilige Römische Reich Deutscher
Nation ein bisschen der heutigen EU, nur ohne einheitliche Währung.
Es gab den Taler, den Heller und Pfennig, den Rappen, Schilling
und Dukaten und die Umrechnung war schwierig. Das große Reich
umfasste ganz Mitteleuropa sowie Teile West-, Ost-, Mittel- und Südeuropas.
An der Spitze dieses Reiches stand ein Kaiser. Der hatte aber keinen
festen Amtssitz, sondern zog durchs Reich und hielt Reichstage
ab. Einer dieser Reichstage wird später zur großen Bühne für Martin
Luther.
Die Macht des Kaisers war begrenzt. Er wurde gewählt von den
sieben Kurfürsten, einem Gremium aus vier weltlichen und drei geistlichen
Herrschern. Und der Papst in Rom, wenngleich nicht wahlberechtigt,
hatte ebenfalls ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.
Der Kaiser, mit dem Luther es schon bald zu tun bekommen sollte,
war Karl V., der Mann, der von sich sagen konnte, dass in seinem
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Reich die Sonne nicht untergehe – weil es sich inzwischen mit dem
Segen des Papstes bis nach Amerika ausgedehnt hatte, wo die kaiserlichen
Truppen in Begleitung von Mönchen den Heiden die Bibel
brachten und ihnen dafür deren Land und Besitz nahmen.
Luther hat sich zeit seines Lebens nie dafür interessiert, was
sich im neu entdeckten Kontinent abspielte. Und als er von seinem
Elternhaus in Mansfeld aufbrach, um nach Erfurt zu marschieren,
wird er sich kaum Gedanken über die große Weltpolitik gemacht haben.
Die hat ihn nie so fasziniert wie das Thema Himmel und Hölle.
Aber nicht nur darüber wird er gegrübelt haben auf seinem Fußmarsch,
sondern auch über Näherliegendes, über das, was jeden Menschen
dieses Alters bedrängt: seine Zukunft. Welchen Beruf soll ich
ergreifen? Wo will ich arbeiten? Für wen? Wofür? Aber auch: Soll ich
heiraten? Wann? Wen? Will ich Kinder haben? Eine Familie gründen?
Allerdings war über diese Zukunft eigentlich schon entschieden.
Sein Vater, ein sozialer Aufsteiger, der sich im Bergbau vom »armen
Häuer«, wie Luther einmal sagte, zum wohlhabenden Bergbau-
Unternehmer und angesehenen Stadtrat hochgearbeitet hatte, plante
den weiteren Aufstieg der Familie und hatte daher seinem Sohn gesagt,
was er zu tun habe: Du wirst Jura studieren.
Das versprach die besten Karriereaussichten: Beamtenlaufbahn,
in den Dienst eines Fürsten treten, sich hochdienen, in gesicherten
finanziellen Verhältnissen leben und die glänzende Karriere vielleicht
sogar mit einer Erhebung in den Adelsstand krönen – in solchen
Kategorien dachte Luthers ehrgeiziger Vater.
Und natürlich gehört dazu auch eine standesgemäße Ehe. Möglicherweise
war sogar schon eine Frau für ihn ausgesucht worden, wir
wissen das nicht, aber es war ja damals und noch lange danach üblich,
dass erfahrene Väter die Ehepartner für ihre unerfahrenen Kinder
aussuchten. Und knapp ein Jahrzehnt später wird Luther selbst
erzählen, dass sein Vater ihn »durch eine ehrenvolle Heirat zu fesseln
« versucht hatte.
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Wahrscheinlich waren diese väterlichen Pläne sogar der Grund,
warum der Sohn mitten im Semester von Erfurt nach Mansfeld beordert
wurde. Ein Vater plante das Glück und Wohlergehen seines Sohnes,

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