KAPITEL IX
Die zwanziger Jahre
Vollendung der Quantentheorie
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Berlin war das Zentrum der Welt. Das sagten alle, die in den zwanziger
Jahren die Reichshauptstadt erlebten. Der Krieg war verloren. Aber
als man die politischen und wirtschaftlichen Probleme halbwegs gelöst
hatte, zeigte sich, daß die Befreiung von den geistigen Fesseln mehr
zählte als die Niederlage. Theater und Film erlebten eine Glanzzeit.
In der Wissenschaft hatte das Reich die Führung auf vielen anwen-
dungsorientierten Gebieten verloren; aber in der Grundlagenfor-
schung war die alte Stellung erhalten geblieben. Das „goldene Zeital-
ter der deutschen Physik" nahm fast ungebrochen seinen Fortgang.
Die großen, die Wissenschaft prägenden Persönlichkeiten wie
PLANCK, SOMMERFELD, WIEN, NERNST, HABER und
WILLSTÄTTER wirkten weiterhin im Lande, und jüngere, kongeniale
Kräfte wie EINSTEIN, LAUE, HAHN und Lise MEITNER traten ihnen
bald zur Seite. Berlinblieb wie vor dem Kriege das Forschungszentrum,
und hochbegabteStudenten aus der ganzen Welt kamen wieder
- und erst recht - in die Reichshauptstadt, um hier in die modernste
Forschung eingeführt zuwerden. In den zwanziger Jahren „lernte man Deutsch“,
wie ERWIN SCHRÖDINGER einmal sagte, „um die Physik in ihrer Muttersprache zu
studieren.“
Besondere Bedeutung hatten die neuen Kaiser- Wihelm-Institute.
Am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie nahm dic Radioaktivität immer
größeren Raum ein. Schließlich wurde die Radiocheınie das Hauptar-
beitsgebiet, und OTTO HAHN der Direktor des Institutes. LISE MEITNER
übernahm die kernphysikalisehe Abteilung.
Ähnlich lagen die Verhältnisse am Kaiser- Wilhelm-Institut für Physik
zwischen EINSTEIN und MAX von LAUE. EINSTEIN war der Direktor,
LAUE sein Stellvertreter.
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Zwischen ihnen allen herrschte ein heiteres und kameradschaftliches
Einverständnis. EINSTEIN und LAUE waren bekannt dafür, daß sie
gerne und laut lachten. „Die Theologen haben das Glockenläuten, die
Physiker ihr Lachen“, schrieb BERT BRECHT. Einen Anlaß fanden sie
immer.
Während der Inflation machten LAUE und HAHN eine Woche Urlaub
in der Ramsau bei Berchtesgaden. Zur Rückfahrt fehlte LAUE eine
Million Reichsmark. OTTO HAHN half aus. Nach der Stabilisierung der
Mark war eine Million wieder ein Vermögen, wie man es aus der Vor-
kriegszeit gewohnt war, und HAHN machte sich einen Spaß daraus
LAUE daran zu erinnern, daß er ihm noch eine Million schulde.
Auch EINSTEIN liebte heiteren unverkrampften Umgang mit den
Freunden. Er haßte die offiziellen Feierlichkeiten. Die steife Würde
und das gravitätische Pathos, wie es trotz der Revolution in Gelehr-
tenkreisen noch weit verbreitet war, provozierten seine Spottlust. Als
die Physikalisch-Technische Reichsanstalt bei der Trauerfeier für
WERNER VON SIEMENS einen Kranz niederlegte, formulierte die Witwe
ihren Dank in papiernen Phrasen. „Für die banausische Nachwelt auf-
zuheben“, „auch WERTHEIMER zeigen“. schrieb EINSTEIN dazu: „Dies
fidele Bekenntnis einer auf Stelzen geborenen Seele zu Eurer Erbau-
ung. Da ist süß sterben.“
EINSTEIN hat aber auch sich selbst „nicht gar zu ernst genommen“; das
zeigen die Scherenschnitte, die er von sich und seiner Familie gemacht
hat, noch mehr aber die vielen kleinen Gelegenheitsgedichte. Als er
l928 von EMIL ORLIK beim Geigenspiel porträtiert wurde, setzte er
spontan an:
„Daß kein Künstler von Beruf dies ist, kannst Du ermessen, weil ein
solcher. . .“ - „ist nicht so verfressen“, sollte wohl noch kommen,
Wahrscheinlich befriedigte ihn aber der Rhythmus nicht und die
zweite Zeile blieb unvollendet. Er fing neu an und schrieb:
„Die Wissenschaft ist auch was wert,
kein Künstler ist so wohlgenährt.“
Bei den gemeinsamen Gebirgstouren von LAUE und HAHN war EIN-
STEIN nie dabei. Oft hatten sie vergeblich versucht, ihn von der Faszi-
nation der Berge zu überzeugen; doch als sportliche Betätigung
schätzte EINSTEIN nur das Segeln. Seit seinem fünfzigsten Geburtstag
1929 besaß er ein Sommerhaus in Caputh bei Potsdam, an einem der
Havelseen gelegen.
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Laue und Hahn als Bergsteiger 1923 auf der Blaueishütte oberhalb von
Berchtesgaden, Oberbayern. Von links nach rechts: Barkhausen, von Laue,
Hahn, der Hüttenwirt; vorne sitzend: Bobek.
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Urlaub an der Ostsee 1928. Einstein hielt nichts von der Bergsteigerei:
„ Wie man da oben herumlaufen kann, verstehe ich nicht", pflegte er zu sagen.
Seine einzige sportliche Beätigung war das Segeln.
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Aber Lise Meitner konnten die beiden „Bergfexen“ überzeugen. Oft
machte sie Hochtouren mit den Herren, oft wanderte sie mit ELISA-
BETH SCHIEMANN, einer anderen wissenschaftlichen Mitarbeiterin der
Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft. Manche Ferien verbrachten die beiden
Frauen gemeinsam. Mit dem Rücksack stiegen sie von Hütte zu Hütte.
Von den Touren mit ihren Kollegen erzählte Lise Meitner „Wie
glücklich konnte LAUE sein über. .. eine schöne Landschaft, über
Hochtouren im Gebirge. Ich habe eine Gletschertour in der Schweiz
1927 vom Silvaplana auf den Capütschin mit LAUE, HARDENBERG und
MARK in Erinnerung, wo LAUE überhaupt nicht mehr aus dcm Scher-
zen und Frohsein herauskam. Und am nächsten Tag gingen die Herren
auf den Piz Roseg.“
Die Hochtouren waren sehr ehrgeizig geplant, wer mithalten wollte,
brauchte eine gute Kondition. Wollte jemand beim Aufstieg rasten
und die Aussicht betrachten, dann sagte HAHN: „Weiter! Wir sind
doch keine Naturfatzken!“
MAX VON LAUE hatte sich 1906 habilitiert, OTTO HAHN 1907 und
ALBERT EINSTEIN 1908, LISE MEITNER konnte diese letzte und höchste
akademische Prüfung erst 15 Jahre später ablegen. Mit fehlender wis-
senschaftlicher Qualifikation hatte dies nichts zu tun: Frauen waren in
Preußen vor der Revolution nicht zur Habilitation zugelassen.
LISE MEITNER legte als Habililationsschrift vor: „Über die Entstehung
der Beta-Strahl-Spektren radioaktiver Substanzen". Das Gutachten
für die Fakultät schrieb MAX VON LAUE. „Da Fräulein MEITNER zu den
in der ganzen Welt anerkannten Forschern auf dem Gebiet der Radioaktivität gehört,
liegt ihre Habilitation durchaus im Interesse der Fakultät. lch stelle daher den Antrag,
sie zum Probevortrag und Kolloquium zuzulassen und füge noch hinzu,
daß ich den weitergehenden Antrag, ihr beides aufgrund... (ihrer besonderen Verdienste) zu er-
lassen, nur deswegen nicht stelle, um ihr Gelgenheit zu geben, auch auf
anderen Gebieten der Physik ihr durchaus gründliches Wissen vor der
Fakultät zu zeigen." Die Fakultät verzichtete aber doch auf Probevor-
trag und Kolloquium. So hielt LISE MEITNER ihre Antrittsvorlesung an
der Universität Berlin am 31. Oktober 1922, mit der sie, dem alten
akademischen Brauch entsprechend, in die Gemeinschaft der Lehren-
den eintrat. Ihr Thema war: „Die Bedeutung der Radioaktivität für
kosmische Prozesse.“ OTTO HAHN amüsierte sich köstlich, als in einer
Tageszeitung das Thema verballhornt wurde zu „kosmetischen Pro-
zessen“.
LISE MEITNER erhielt den Titel eines Professors. Mit der Würde des
Professors hatte LISE MEITNER auch die Zerstreutheit eines solchen
erworben. 1922 wurde sie bei einem Kongreß von Kollegen begrüßt:
„Wir haben uns ja schon früher kennengelernt.“ Frau MEITNER erin-
nerte sich nicht: „Sie verwechseln mich wohl mit OTTO HAHN!“ Dieser
erzählte die Geschichte mit großem Behagen: „Weil wir so viele Ar-
beiten gemeinsam veröffentlicht haben, hält sie die Verwechslung of-
fenbar für möglich.“
Mit der Aufklärung der Eigenschaften der Beta-Strahlung hatte sich LISE
MEITNER eine Wichtige, aber schwierige Aufgabe gestellt. Die Strah-
lung ist die Begleiterscheinung einer radioaktiven Kernumwandlung.
Es ist also möglich, daß die Elektronen aus dem Atomkern stammen.
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Bunsentagung über Radioaktivität in Münster, Westfalen, 1932.
Stehend von links: von Hevesy, Frau Geiger, Lise Meitner, Otto Hahn;
sitzend von links: Chadwick, Geiger, Rutherford, Stefan Meyer, Przibram.
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Aber auch die Atomhülle besteht aus Elektronen. Wurden nun Elek-
tronen registriert, so blieb unklar, ob es sich um solche aus dem Kern,
oder aus der Hülle handelte. Im ersten Fall sprach man von primären,
im zweiten Fall von sekundären Beta-Strahlen.
Die Untersuchung der Energie der Elektronen mit dem Massenspek-
trometer ergab eine ganze Reihe von scharfen Linien. l914 entdeckte
JAMES CHADWICK neben diesem Linienspektrum noch ein kontinuier-
liches Energiespektrum.
Ganz im Geiste der Quantumchemie war LISE MEITNER davon über-
zeugt, daß das kontinuierliche Spektrum sekundären Ursprungs ist.
Primäre Elektronen, stellte sie sich vor, verlieren Energie (und zwar in
verschiedenem Maße), wenn sie nach dem Verlassen des Kerns durch
das starke elektrische Feld im Innern des Atoms hindurchgehen (etwa
durch Bremsstrahlung oder durch Stoß mit Hüllenelektronen).
- D. ELLIS in Cambridge war anderer Auffassung. Eine Polemik ent-
wickelte sich.
ELLIS erdachte ein Experiment, um seine Auffassung zu beweisen. Er-
reicht man durch eine geeignete Versuchsanordnung, daß die bei dem
Zerfallsprozeß auftretende Energie sich vollständig in Wärme umsetzt
und bestimmt man diese Wärmemenge, so gibt es zwei Möglichkeiten.
Als Mittelwert über viele Einzelprozesse kann sich ergeben
1) der Maximalwert des kontinuierlichen Spektrums,
2) der Mittelwert des kontinuierlichen Spektrums.
Man fand entgegen den Erwartungen von LISE MEITNER den Mittel-
wert. Damit aber war der Zerfall rätselhafter als je zuvor. NIELS BOHR
erklärte: Der geheiligte, bis auf die Zeiten von JULIUS ROBERT MAYER
und HERMANN VON HELMHOLTZ zurückgehende Energiesatz ist außer
Kraft gesetzt.
LISE MEITNER hielt das mit Recht für unmöglich. Mit ihrem Mitarbeiter
WALTER ORTHMANN wiederholte sie die Versuche. Sie war überzeugt,
daß irgendwelche Energien dem Nachweis entgangen waren. Wahr-
scheinlich, so meinte sie, treten mit den Elektronen noch Gamma-Quanten
auf und diese bringen den Energiesatz wieder in Ordnung.
Aber es gelang nicht die Strahlen zu finden. Diese oft wiederholten
und sehr genauen Messungen von LISE MEITNER lieferten WOLFGANG
PAULI die Grundlage für seine Neutrino-Hypothese. Wenn definitiv
Gamma-Quanten auszuschließen sind, dann muß eben, das war sein unge-
wöhnlicher Schluß, ein anderes neutrales Teilchen auftreten. Am
- Dezember 1930 begann in Tübingen ein Kongreß iüber Radioaktivi-
tät, an dem HANS GEIGER und LISE MEITNER teilnahmen.
WOLFGANG PAULI konnte nicht selbst von Zürich herüberkommen,
aber er gab einem Mitarbeiter einen Brief mit. Adressiert war dieser
Brief an die „Lieben radioaktiven Damen und Herren“. Hier sprach
PAULI zum ersten Mal seine berühmt gewordene Neutrino-Hypothese
aus. LISE MEITNER hat diesen Brief PAULIs Zeit ihres Lebens sorgfältig
bewahrt.
Wieder in Berlin, tröstete OTTO HAHN die Kollegin: Auch ihm sei eine
Reihe von Entdeckungen entgangen. Entscheidend war ja nur, daß
man gemeinsam dem Ziel näher kam. War es nicht eine Wunderbare
Zeit? Jeder Tag fast brachte eine neue Erkenntnis.
Arbeitsmöglichkeiten hatten sie in der Tat hervorragende. Wie es bei
der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die Absicht gewesen
war, konnten sie wirklich ihre Arbeitskraft ungeteilt der Wissenschaft
zuwenden, LISE MEITNER hielt gar keine Vorlesungen, und OTTO HAHN
nur, weil es ihm Spaß machte. So verbrachten sie wie gewohnt den
größten Teil ihrer Zeit im Institut, diesem Prachtbau im Wilhelmini-
schen Stil.
Anders ALBERT EINSTEIN und MAX VON LAUE. Die saßen zu Hause,
ihre Wohnung war ihr Arbeitsplatz. Zum Bau des Institutes für physikalische Forschung
war es durch den Kriegsausbruch nicht mehr gekommen.
Das Institut existierte nur im juristischen Sinne. Und den-
noch konnte auch dieses Institut eine segensreiche Tätigkeit für die
Wissenschaft entfalten.
Für ihr Institut hatten EINSTEIN und LAUE einen (nicht unbeträchtli-
chen) Etat. Als theoretische Physiker benötigten sie selbst keine
„Sachmittel“ und kamen mit Papier und Bleistift aus.
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Titelseite der „Funkpost”, Heft 3, Berlin 1930: Einstein bei der Eröffnung der
Deutschen Funkausstellung und Phonoschau. Seinen Vortrag begann er mit den
Worten: „Liebe An- und Abwesenden“ Für Einstein gehörten auch Wissen-
schaft und Technik zu den Bildungsgütern: „Sollen sich alle schämen, die ge-
dankanlos sich der Wunder der Wissenschaft und Technik bedienen und nicht
mehr davon erfaßt haben, als eine Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit
Wohlbehagen frißt.“
Einstein (rechts) begleitet seine Stieftochter Margot und Dimitri Marianoff ih-
rem Hochzeitstag (/930).
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Notgemeinschafi der Deutschen Wissenschaft: Tagung des sogenannten Hoshi
Elektrophysik-Ausschusses, Berlin 1924. Der Ausschuß erhielt seinen Namen
nach dem japanischen Industriellen Hajime Hoshi, der die deutsche Wissen
schaft während der Inflationszeil durch eine Yen-Spende wesentlich unterstützte.
Silzend links: Fritz Haber; Mitte: Max Planck; rechts Richard Willstätter; ste-
hend der zweite von rechts: Otto Hahn.
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Runde der Berliner Physiker um einen amerikanischen Gast in der Wohnung
Max von Laues. Von links nach rechts: Nernst, Einstein, Planck, Millikan, Laue.
Einstein fühlte sich in Berlin wissenschaftlich gut aufgehoben. „Heimat” ist ihm
die Stadt allerdings nicht geworden.
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Solvay-Kongreß 1927. Einstein hatte sich vergeblich gegen die Ausformung und
erkenntnistheoretische Deutung der Quatentheorie gesträubt, die 1925 bis
l927 vor allem Werner Heisenberg und Niels Bohr geleistet haben. Die Entwick-
lung ging über Einstein hinweg. Wieder wurde der Wendepunkt durch einen Sol-
vay-Kongreß markiert. In der ersten Reihe von links: Langmuir, Planck,
Madame Curie, Lorentz, Einstein; in der letzten Reihe von rechts: Brillouin,
Fowler, Heisenberg, Pauli.
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Aber auch für„Personalmittel“ konnten sie ihr Geld nicht ausgeben: Beiden lag es
nicht, mit einer großen Zahl von Schülern zu arbeiten. Viel lieber woll-
ten sie allein, jeder für sich, über die ewig geheimnisvolle Welt reflek-
tieren.
So führten EINSTEIN und LAUE aus, was FRIEDRICH SCHMIDT-ORR,
dem zuständigen Referenten im Preußischen Kultusministeriurn, schon bei
der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als Aufgabe vorge-
schwebt hatte: Die gezielte Förderung der Forschung nicht nur in ei-
genen Instituten, sondern auch durch finanzielle Unterstützung ande-
rer, schon bestehender Institute. Dies sollte nach dem Willen von
SCHMIDT-ORR nicht nach einem „Gießkannenprinzip“ geschehen,
sondern gezielt für die wirklich wichtigen Forschungsprojekte.
Schon bald nach der (juristischen) Gründung des Kaiser- Wilhelm-Institutes
für physikalische Forschung am l. Oktober 1917 bewährte sich
diese Art der Forschungsförderung. Das Büro des Institutes „Berlin
W 30, Haberlandstraße 5“ (EINSTEINS Privatwohnung) arbeitete gut.
EINSTEIN war noch von seiner Tätigkeit am Patentamt in Bern geübt,
das Wesentliche eines Antrages rasch zu erfassen.
Der erste Vertrag wurde mit dem jungen Astronomen ERWIN
FREUNDLICH geschlossen, mit dem EINSTEIN schon seit Jahren in Ver~
bindung stand. FREUNDLICH konnte sich nun ganz der Aufgabe wid-
men, die Allgemeine Relativitätstheorie durch astronomische Beobach-
tungen zu prüfen.
FRIEDRICH SCHMIDT-ORR regte die Gründung einer Organisation an,
die für das Ganze der deutschen Wissenschaft das leisten sollte, was
bisher schon EINSTEIN mit seinem Kaiser- Wilhelm-Institut in be-
schränktem Umfange für die Physik geleistet hatte. Diese „Notge-
meinschatft der Deutschen Wissenschaft“ hat dann seit 1920 eine se-
gensreiche Wirkung entfaltet und existiert noch heute unter dem Na-
men „Deutsche Forschungsgemeinschaft“`.
Auch nach Gründung der „Notgemeinschaft“ förderte das Kaiser-
Wilhelm-Institut für Physik weiterhin wichtige physikalische Arbeiten.
Das ging so vor sich, daß die Kollegen an EINSTEIN oder LAUE Anträge
richteten. So beantragte PETER DEBYE am 2. Juli 1918 Mittel, um
„Röntgenstrahlen beliebiger Wellenlänge von genügender Intensität“
zu erzeugen. Er wollte Aufschluß gewinnen über die „interatomisti-
sche Ursache der Zerstreuung". „Der Brief spricht für sich selbst“,
schrieb EINSTEIN auf den Antrag: „Ich glaube, daß wir unser Geld
nicht besser Verwenden können.“
Einer der fleißigsten Antragsteller war MAX BORN. So wurde vom
- Oktober 1924 bis 1. April 1926 ein Stipendium für PASCUAL JORDAN
vom Kaiser- Wilhelm Institut Physik bezahlt; anschließend über-
nahm die Notgemeinschalt die Finanzierung.
Die von MAX BORN angeleiteten jungen Quantenphysiker wie WERNER
HEISENBERG, WOLFGANG PAULI und PASCUAL JORDAN
hatten sich schon in jungen Jahren für EINSTEINs Spezielle Relativitätstheorie begeistert.
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Sitzung der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Max Planck neben dem Redner mit der Amtskette als “beständiger Sekretar” der Akademie. Einstein auf der linken Seite hinten.
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Wichtig waren für sie nicht nur die Aussagen dieser Theorie, nämlich
die Revision der traditionellen Begriffe von Raum und Zeit; Vorbild
für sie wurde auch die Methode EINSTEINs. Wie es EINSTEIN beispiel-
haft vorgeführt hatte, verlangten sie nun auch für eine Theorie des
Atoıms, daß die benutzten Begriffe wenigstens im Prinzip meßbar
seien und daß sie Beziehungen aufdecken zwischen Größen, die unab-
hängig voneinander gemessen werden. „Die schönste Leistung der Re-
lativitätstheorie war“, so urteilte WOLFGANG PAULI, „die Meßergeb-
nisse von Maßstäben und Uhren, die Bahnen der frei fallenden Mas-
senpunkte und die der Lichtstrahlen miteinander in eine feste, innige
Verbindung gebracht zu haben.“
Hier fand auch HEISENBERG den Ansatz zur (später sogenannten)
Göttingener Quantenmechanik: „Bekanntlich läßt sich gegen die formalen
Regeln, die allgemein in der Quantentheorie zur Berechnung be-
obachtbarer Größen (zum Beispiel der Energie im Wasserstoffatom)
benutzt werden, der schwerwiegende Einwand erheben, daß jene Re-
chenregeln als wesentlichen Bestandteil Beziehungen enthalten zwi-
schen Größen, die... prinzipiell nicht beobachtet werden können (wie
zum Beispiel Ort, Umlaufszeit des Elektrons), daß also jenen Regeln
offenbar jedes anschauliche physikalische Fundament mangelt.“
„HEISENBERG hat ein großes Quantenei gelegt“, kommentierte EIN-
STEIN: „In Göttingen glauben sie daran (ich nicht).“ HEISENBERG war
erstaunt über die Ablehnung. Seinen Ansatz hatte er als Verwirkli-
chung der Ideen EINSTEINs empfunden.
EINSTEIN ging einen anderen Weg. 1905 hatte er sich mit der Strahlung
befaßt; 1925 interessierte er sich für die Eigenschaften des Gases.
Seine Schlüsse von 1925 waren nicht minder revolutionär: Er demon-
strierte in seinen Formeln Interferenzeffekte zwischen Molekülen.
Auch die Materie muß, das war EINSTEINs Ergebnis, Welleneigen-
schaften besitzen. „Die Doppelnatur des Lichtes als Lichtwelle und
Lichtquant überträgt sich auf das Elektron und weiterhin auf alle Ma-
terie; neben ihre korpuskulare Natur stellt sich, theoretisch und expe-
rimentell als gleichberechtigt, ihre Wellennatur.“ So erfaßte später
ARNOLD SOMMERFELD in seinem Lehrbuch „Atombau und Spektralli-
nien“ diese Erkenntnis prägnant in Worte.
Zur Stütze seiner Ansicht verwies EINSTEIN auf die Dissertation von
LOUIS DE BROGIE. „Wie durch Energie und Impuls ist ein Teilchen
auch durch Frequenz und Wellenlänge gekennzeichnet.“ Diese Ge-
danken vermittelte EINSTEIN an ERWIN SCHRÖDINGER, der sie 1926 zu
einer Theorie ausgestaltete.
In welchem Verhältnis stehen die beiden Theorien? Die mathemati-
sche Äquivalenz konnte gezeigt werden- aber um so schärfer blieb die
Kluft in der erkenntnistheoretischcn Auffassung.
Wieder war es eine Solvay-Tagung in Brüssel, die als „Gipfel- und Kri-
senkonferenz“ die Entscheidung brachte. Auf dem 5. Kongreß 1927
legte NIELS BOHR (unterstützt von HEISENBERG, PAULI und anderen)
die sogenannte Kopenhagener Interpretation vor, mit der Heisenberg-
schen Unschärferelation. Vergeblich bemühte sich EINSTEIN, einen
Fehler aufzudecken. „Schachspielartig“, berichtete ein Teilnehmer,
brachte „EINSTEIN immer neue Beispiele. Gewissermaßen Perpetu-
um mobile 2. Art, um die Ungenauigkeitsrelationen zu durchbrechen.
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Brief Einsteins an den Berliner Physiker Peter Pringsheim vom 1. November 1923.
Der Brief zeigt, wie Einstein eingebunden war in das Fachgespräch zwischen den Kollegen.
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BOHR stets aus einer dunklen Wolke von philosophischem Rauchge-
wölke die Werkzeuge heraussuchend, um Beispiel nach Beispiel zu
zerbrechen.“
Mit der „Kopenhagener Deutung“ der Quantentheorie hat sich EINSTEIN
(wie auch MAX VON LAUE) nie abfinden können. Immer wieder
betonte er, daß man „die Realität" doch nicht „auf Wahrscheinlich-
keitsgesetze“ zurückführen dürfe. Trotzdem hat EINSTEIN den Prota-
gonisten der Kopenhagener Schule, WOLFGANG PAULI, später als sei-
nen eigentlichen Nachfolger angesehen, der in der Physik vollenden
sollte, was ihm zu schaffen nicht mehr vergönnt sei.
In früheren Jahren hatte EINSTEIN einen untrüglichen Sinn für die phy-
sikalische Wirklichkeit besessen; immer waren von ihm die wesent-
lichsten „facts“ zur Grundlage seiner großen Theorien gemacht wor-
den. Als es aber seit Ende der zwanziger Jahre sein wissenschaftliches
Hauptanliegen wurde, Gravitation und Elektrodynamik zu einer
„einheitlichen Feldtheorie“ zusammenzufassen, begannen in seinen
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Runde der Berliner Physiker. Von den neun Männern sind im Laufe der Jahre fünf mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Albert Einstein (links sitzend), James Franck (auf dem Sofa in der Mitte), Fritz Haber (rechts auf der Sofalehne sitzend), Otto Hahn (rechts) und Gustav Hertz (stehend rechts oben).
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Ansätzen mehr und mehr die „formalen Gesichtspunkte“ zu überwie-
gen. Dabei hatte er von diesen noch 1917 auf einer Postkarte an FELIX
KLEIN gesagt, daß sie „fast stets als heuristische Hilfsmittel versagten.“
In einem an EINSTEIN gerichteten Brief hat PAULI Ende 1929 dessen
neue Theorie vernichtend kritisiert: „Erstens ist zu rügen, daß schon in
der ersten Näherung das eine System der Maxwellschen Gleichung nur
in differenzierter Form herauskommt. Zweitens existiert kein Integral
für Gesamtenergie und Gesamtimpuls... Und wo bleibt ferner die
Deutung der Periheldrehung des Merkur und der Lichtablenkung
durch die Sonne? Die scheint doch bei Ihrem weitgehenden Abbau der
Allgemeinen Relativitätstheorie verloren zu gehen. Ich halte jedoch an
der schönen Theorie fest, selbst wenn sie von Ihnen verraten wird!“
Für alle Welt und insbesondere für die Karikaturisten, war EINSTEIN
das „Super-Gehirn“. Wie in den frühen Sagen der Völker Menschen
eine Rolle spielen, die sich durch Körperkräfte auszeichnen wie SIEG-
FRIED oder Listenreichtum wie ODYSSEUS, so war nun EINSTEIN in un-
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serem von der Wissenschaft geprägten Zeitalter ein Mensch von sa-
genhafter Geisteskraft: EINSTEIN hat eine neue Idee - und die Kolle-
gen werden verrückt oder begehen Selbstmord, weil sie nichts begrei-
fen.
Die Wirklichkeit war freilich erschütternd anders: Zwanzig Jahre lang,
von 1905 bis 1925, hatte EINSTEIN die Physik mit seinen Ideen geprägt.
Dann aber war seine Schöpferkraft gebrochen.
Diesen Bruch wie bei EINSTEIN hat es für seine gleichaltrigen Freunde
nicht gegeben. OTTO HAHN, ILSE MEITNER und MAX VON LAUE
beschäftigten sich mit konkreten Problemen, Kernisometrie, Beta-Strahlspektrum
und Supraleitung beispielsweise. Da bedarf es nicht jedesrnal
einer genialen Inspiration, um zum Ziel zu gelangen. Notfalls
genügte es, ohne allzu große Originalität gelernte Methoden anzuwenden.
Wie zur physikalischen Realität verlor EINSTEIN auch die Verbindung
zu den ihm nahestehenden Menschen. Es war sicher nicht leicht für
seine Frau ELSA, mit EINSTEIN verheiratet zu sein. „Ich bin ein richti-
ger Einspänner“, sagte er von sich, „der dem Staat. der Heimat. dem
Freundeskreis, ja selbst der engen Familie nie mit ganzem Herzen an-
gehört hat, sondern all diesen Bindungen gegenüber ein nie sich le-
gendes Gefühl der Fremdheit und des Bedürfnisses nach Einsamkeit
empfunden hat." Dieses „Bedürfnis nach Einsamkeit" läßt sich sehr
gut verstehen, vor allem aufgrund der übergroßen Neugier seiner
Mitmenschen. EINSTEIN hat sich oft mit dem Märchenkönig MIDAS
verglichen: Diesem wurde alles, was er berührte, zu Gold. Was dem
Naiven als unwahrscheinliches Glück scheint, erwies sich als schreckli-
cher Fluch. „Mir geht es so wie MIDAS“, sagte EINSTEIN oft, „mit dem
Unterschied, daß sich alles in Zeitungsgeschrei verwandelt."
Sein Ruhm war längst ins Legendäre gewachsen. Als er 1930 Amerika
besuchte, schien der ganze Kontinent außer Rand und Band: „An-
kunft in New York. War ärger als die phantastischste Erwartung.
Scharen von Reportern kamen bei Long Island aufs Schiftfl Dazu ein
Heer von Photographen, die sich wie ausgehungerte Wolfe auf mich
stürzten. Die Reporter stellten ausgesucht blöde Fragen, die ich mit
billigen Scherzen beantwortete, die mit Begeisterung aufgenommen
wurden.“
Die humorvollen Lebensweisheiten, die er in den Interviews von sich
gab, und die spontan-witzigen Bemerkungen machten ihn zum ge-
suchten Objekt der Zeitungsleute. Seine ungespielte Bescheidenheit
und das völlige Desinteresse an der äußeren Erscheinung prägten un-
verwechselbar sein Bild in der Öffentlichkeit. EINSTEIN wurde die Per-
sonifizierung des weltfremden Genies, dessen Gedankenflügen kein
gewöhnlicher Sterblicher zu folgen vermag.
Die Antike und insbesondere das Mittelalter liebten die Allegorie: Ein
abstrakter Begriff ließ sich auf diese Weise sinnlich erfassen. Als im
- Jahrhundert die theoretische Physik immer unanschaulicher wur-
de, da trat das in der ganzen Welt in immer neuen Pressephotos ver-
breitete Bild EINSTEINs an die Stelle der für den Laien unverständli-
cheın Theorie. Wie früher etwa die Astronomie durch die Göttin URA-
NIA dargestellt wurde, eine der neun Musen, in der Hand den Him-
melsglobus, so versinnbildlichte nun ALBERT EINSTEIN die Abstrakt-
heit der modernen theoretischen Physik.
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Einstein und Charlie Chaplin 1931: Gemeinsam fuhren sie nach Los Angeles,
um in der Stadl der Uhraufführung des Films „City Lights“ beizuwohnen. Sie wurden von den Menge erkannt und begeistert begrüßt. Chaplin kommentierte:”Ihnen applaudieren die Leute, weil Sie keiner versteht, und mir, weil mich jeder versteht.”
Ankunft Einsteins in New Yoek 1921. Die „Publicity“ brach über Einstein wie
eine Naturkatastrophe herein. “Habe ich denn etwas von einem Scharlatan oder Hypnotiesur an mir, das die Menschen wie zu einem Zirkusclown zieht?” fragte
sich Einstein, der bescheidene Mann, der nichts anderes wollte, als in Ruhe seine Arbeit tun zu können.
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Wahlversammlung der deutschen Wissenschaft für Adolf Hitler am 11. Novem -
ber 1933 in Leipzig. Man erkennt am Vorstandstisch ganz rechts den Chirurgen
Ferdinand Sauerbruch und als Vierten von links den Philosophen Martin Hei-
degger. An der Versammlung nahmen auch der Kunshistoriker Wilhelm Pinder
und der Anthropologe Eugen Fischer teil.
ENDE IX
Kapitel X
Denk’ ich an Deutschland in der Nacht
„Machtergreifung“ in der Wissenschaft
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EINSTEIN war für die Nationalsozialisten nicht einfach nur ein Wissen-
schaftler jüdischer Abstammung. Die Verehrung für ihn in allen
Schichten des Volkes hatten EINSTEIN in der Öffentlichkeit Gehör und
damit politischen Einfluß verschafft. Als überzeugter Demokrat und
Pazifist war er den Bestrebungen der Nationalsozialisten und
Deutschnationalen entgegengetreten und diente deshalb seit Jahren
als Zielscheibe einer Hetzkampagne. Die Machtergreifung HITLERs
am 30. Januar 1933 bot die Möglichkeit der „Abrechnung“. Auch hier
benutzten dic Nationalsozialisten die ihnen eigenen Mittel. Am
- März 1933 wurde EINSTEIN, zusammen mit einer Reihe von Künst-
lern und Schriftstellern, vom „Völkischen Beobachter“, der Parteizei-
tung der NSDAP, heftig angegriffen.
Glücklicherweise blieb der Welt das Schauspiel eines im Konzentra-
tionslager geschundenen EINSTEIN erspart, Am Tag der Machtergrei-
fung befand er sich außer Landes und damit in Sicherheit. Er war mit
seiner Frau ELSA zu Besuch in den Vereinigten Staaten. Zweck der
von einer amerikanischen Stiftung finanzierten Reise sollte - Ironie
der Geschichte - die „Verbesserung der deutsch-amerikanischen Be-
ziehungen" sein. Die Tragweite der aus Deutschland kommenden
Nachrichten hat EINSTEIN sofort begriffen.
Auch OTTO HAHN hielt sich damals in den USA auf. Er war von der
Cornell University in Ithaca im Staate New York für ein Semester als
Gastprofessor eingeladen. OTTO HAHN verachtete die Nationalsoziali-
sten und nie hatte er HITLER seine Stimme gegeben. Als ihn aber ame-
rikanische Journalisten nach dem Reichstagsbrand interviewten und
viele Fragen - bohrende Fragen - über die Ausnahmegesetze. die die
Grundrechte aufheben. über Zeitungsverbote, über die Verhaftungen
stellten, da fühlte er sich doch verpflichtet, über Deutschland und die
Regierung nur Gutes zu sagen.
Er hätte es so gerne selbst geglaubt. Gespräche mit seinem Freund
RUDOLF LADENBURG, der schon vor Jahren aus Berlin in die Vereinig-
ten Staaten ausgewandert war, halfen ihm, die Ereignisse besser zu
verstehen. Naiv blieb er trotzdem. Im April l933 fuhr er nach Wa-
shington zum deutschen Botschafter HANS LUTHER, einem früheren
Reichsminister und Reichskanzler der Weimarer Republik, um scine
Bedenken vorzutragen. Das waren Illusionen. HANS LUTHER war
ebenso ohne Einfluß wie er selbst.
Als einziger hatte EINSTEIN, der überzeugte Pazifist, verstanden, daß
gegen das Dritte Reich nur politische Härte und Festigkeit helfen kön-
- Am 10. März 1933 gab er einer amerikanischen Journalistin ein in-
terview. Er sagte: „Solange mir eine Möglichkeit offen steht, werde ich
mich nur in einem Land auflwalten, in dem politische Freiheit, Toleranz
und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz herrschen. Zur politischen
Freiheit gehört die Freiheit der mündlichen und schriftlichen Äuße-
rung politischer Überzeugung, zur Toleranz die Achtung vor jeglicher
Überzeugung eines Individuums. Diese Bedingungen sind gegenwär-
tig in Deutschland nicht erfüllt. Es werden dort diejenigen verfolgt, die
sich um die Pflege internationaler Verständigung besonders verdient
gemacht haben.“
In der deutschen Presse fand dieses Interview ein negatives Echo. Mit
Bestürzung verfolgten die Kollegen die Konfrontation mischen EIN-
STEIN und der neuen „nationalen Regierung“. „Ich erfahre mit tiefer
Bekümmernis allerlei Gerüchte“, schrieb MAX PLANCK, „die sich über
Ihre öffentlichen und privaten Kundgebungen politischer Art in dieser
unruhigen und schwierigen Zeit gebildet haben. Ich bin nicht in der
Lage, ihre Bedeutung zu prüfen. Nur das eine sehe ich ganz klar, daß
diese Nachrichten es allen denen, die Sie schätzen und verehren, au-
ßerordentlich schwer machen, für Sie einzutreten.“
Am 29. März verlangte der im Kultusministerium eingesetzte Reichs-
kommissar von der Preußisce Akademie die Nachprüfung der Zei-
tungsberichte über die Kritik EINSTEINs am Dritten Reich - und gege-
benenfalls ein Disziplinarverfahren. Eine Vermittlung schien PLANCK
ausgeschlossen: „Denn es sind hier zwei Weltanschauungen aufeinan-
der geplatzt, die sich miteinander nicht vertragen. Ich habe weder für
die eine noch für die andere volles Verständnis. Auch die Ihrige ist mir
fern, wie Sie sich erinnern werden von unseren Gesprächen über die
von Ihnen propagierte Kriegsdienstverweigerung.“
Zwanzig Jahre zuvor hatte PLANCK den damals noch jungen EINSTEIN
an die Akademie nach Berlin geholt. Die Achtung, die beide Männer
für einander empfanden, war zur Freundschaft geworden. Bei aller
Verschiedenheit - der politischen Ansicht, des Alters, des Tempera-
ments - hegten sie eine schwer bestimmbare, aber unzweifelhaft tief-
gehende gegenseitige Verehrung. So wurde es PLANCK schwer, EIN-
STEIN zu einem freiwilligen Austritt aus der Akademie aufzufordern,
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Albert Einstein
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aber die Pflicht schien es ihm zu gebieten. Von München aus, auf dem
Wege nach Sizilien in den Urlaub, schrieb PLANCK an den nun so weit
entfernten Freund. Nur PLANCK, der EINSTEIN berufen und nie einen
Zweifel an seiner Wissenschaftlichen Bedeutung geduldet hatte, durfte
es wagen, dieses Ansinnen zu stellen. Jedoch hatte EINSTEIN schon von
sich aus auf sein Amt verzichtet: „Ich habe mir schon gedacht, daß es
der Akademie lieber ist (oder wenigstens ihren besseren Mitgliedern),
wenn ich meine Stellung niederlege.“
Das Ziel schien erreicht: Die Trennung von dem für die neue Regie-
rung „untragbaren“ EINSTEIN war vollzogen, und die Akademie hatte
doch, wenigstens nach außen hin, ihre Würde wahren können. Aber
die Gelehrten hatten das Netz zu fein gesponnen; so vornehm machten
es die Nazis nicht. Das Kultusministerium übermittelte den „dringen-
den Wunsch“ nach einer öffentlichen Stellungnahme. In Abwesenheit
der drei anderen Sekretäre verfaßte der Rechtsgelehrte ERNST HEY-
MANN die schmachvolle Erklärung, daß die Akademie keinen Anlaß
habe, „den Austritt EINSTEINs zu bedauern.“
Diese Erklärung war der Beitrag der Akademie zum „Tag des Ju-
den-Boykotts“. An diesem l. April 1933, an dem die Akademie ihre
Stellungnahme zum Fall EINSTEIN veröffentlichte, wurden von der
Berliner SA die Universität und die Technische Hochschule besetzt,
jüdische Professoren und Assistenten aus ihren Institutsräumen ge-
wiesen, beschimpft und mißhandelt. SA-Mannschaften drangen in
Gerichtssäle ein und unterbrachen die jüdischen Richter. In der Stadt
wurde die Bevölkerung am Betreten jüdischer Geschäfte gehindert.
Bei den Willkürmaßnahmen fungierten SA und SS als „Hilfspolizei“,
handelten also im Auftrag und mit Zustimmung der neuen Machtha-
ber.
Über diese Vorkommnisse empfunden viele deutsche Gelehrte Empö-
rung und Scham; aber sie verbargen ihre Gefühle. Dem sensiblen und
leicht erregbaren MAX von LAUE fehlte die kluge Selbstbeherrschung.
Er konnte - und wollte sich nicht beruhigen. Mit Entschiedenheit
sprach er gegen die von HEYMANN im Alleingang verfaßte offizielle
Verlautbarung; er beanstandete, daß kein einziges Mitglied der ma-
thematisch-physikalischen Klasse, zu der EINSTEIN gehörte, ge-
schweige denn MAX PLANCK und HEINRICH von FICKER, die zuständi-
gen Klassensekretäre, gefragt worden waren. LAUE bereitete einen
Antrag vor - Behandlung des Falles in einer außerordentlichen Plenar-
sitzung - und bemühte sich, möglichst viele Unterschriften zu erhal-
ten. Wie viele Ausreden mag er da gehört haben? Schließlich fand er
zwei Kollegen, die sich ihm anschlossen.
Das Telegramm LAUEs an PLANCK nach Taormina: „Persönliche An-
wesenheit hier dringend erwünscht“ war vergeblich - PLANCK war da-
von überzeugt, daß LAUE sich grundlos aufregte.
So fiel LAUEs Antrag durch. Die Akademie billigte die Erklärung ge-
gen EINSTEIN und sprach HEYMANN den „Dank für sein sachgemäßes
Handeln“ aus. Von den ehemaligen Kollegen wurde die Trennung von
EINSTEIN als ein unter den veränderten politischen Bedingungen un-
vermeidlicher Akt verstanden. Man war der Auffassung, daß es sein
mußte und daß es gefährlich wäre, sich zu sträuben. Die Mehrheit bil-
ligte sogar auch, daß die Trennung unter dem von der Akademie öf-
fentlich erhobenen Vorwurf der „Greuelhetze“ erfolgte.
In der ruhmvollen Geschichte der im Jahre 1700 gegründeten Preußi-
schen Akademie der Wissenschaften hatte es bisher im wesentlichen
nur eine einzige dunkle Episode gegeben: Im Jahre 1751 war von der
Akademie das korrespondierende Mitglied SAMUEL KÖNIG der Fäl-
schung eines Briefes des Philosophen GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ
bezichtigt worden, um die vermeintliche Priorität des Akademie-Prä-
sidenten MAUPERTUIS an einer wichtigen Entdeckung, dem „Prinzip
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Max von Laue
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Einstein mit seiner Sekretärin Helene Dukas (ganz links) und seiner Stieftochter
Margot in Princetorı. „Ich hab’ mich überm Teich behaglich eingerichtet",
schrieb Einstein an den alten Freund Max von Laue: „Doch denke ich oft, daß
der kleine Kreis von Menschen, der früher harmonisch verbunden war, wirklich
einzigartig gewesen ist.“
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Brief Sommerfelds an Einstein aus Südtirol vom 26. August 1934.
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der kleinsten Aktion“, zu verteidigen. Mehr noch als damals im Fall
„SAMUEL KÖNIG“ erniedrigte sich nun die Akademie im Fall „ALBERT
EINSTEIN“. Einsichtige, wie MAX von LAU und MAX PLANCK, konnten
sich gegen die mit Blindheit geschlagene Mehrheit nicht durchsetzen.
Wie sich damals - vor fast zweihundert Jahren - der zu Unrecht ange-
griffene SAMUEL KÖNIG in einem würdigen „appel au public“ an die
Öffentlichkeit wandte, so wies jetzt ALBERT EINSTEIN die ungerecht-
tertigten Vorwürfe der Akademie zurück. Neben einem offiziellen
Schreiben richtete er einen zweiten, persönlichen Brief an MAX
PLANCK:
„Ich habe mich an keiner ,Greuelhetze` beteiligt. Ich nehme zugunsten
der Akademie an, daß sie eine derartige verleumderische Äußerung
nur unter äußerem Druck getan hat. Aber auch in diesem Fall wird es
ihr kaum zum Ruhme gereichen, und mancher von den Besseren wird
sich dessen heute schon schämen. Sie haben wahrscheinlich gehört,
daß man mir auf Grund derartiger falscher Anklagen meinen Besitz in
Deutschland beschlagnahmt hat . . . Wie das Ausland über die mir ge-
genüber angewandten Praktiken denkt, können Sie sich leicht vorstel-
len. Es wird wohl eine Zeit kommen, in der sich anständige Menschen
in Deutschland unter anderem auch dessen schämen, in wie niedriger
Weise man mir gegenüber sich verhalten hat. Ich muß jetzt doch daran
erinnern. daß ich Deutschlands Ansehen in all diesen Jahren nur ge-
nützt habe und daß ich mich niemals daran gekehrt habe, daß - beson-
ders in den letzten Jahren - in der Rechtspresse systematisch gegen
mich gehetzt wurde, ohne daß es jemand für der Mühe wert gehalten
hat, für mich einzutreten.“
Biographen haben berichtet, EINSTEIN sei in Abwesenheit zum Tode
verurteilt worden, und man hätte eine hohe Summe, 20000 Reichs-
mark, als Kopfpreis ausgesetzt. Das ist nicht richtig; es handelt sich
dabei um eine spätere Legendenbildung. Es bleibt aber genug des Un-
rechts. Die beiden Stieftöchter EINSTEINs, ILSE und MARGOT, wurden
polizeilich verhört, die Berliner Stadtwohnung und das Landhaus in
Caputh durchsucht. Darüber berichtete HELENE DUKAS, die Sekretä-
rin EINSTEINs: „Die ,Vernehınung` fand statt in der Wohnung von DR.
RUDOLF KAYSER, EINSTEINs Schwiegersohn. Frau ILSE KAYSER war ge~
rade bettlägerig, MARGOT EISTEIN wohnte dort in diesen Tagen. Es
kamen ein Polizeibeamter - in Zivil - und zwei uniformierte SA-Leu-
te, die aber nur dabeistanden. Die Fragen stellte der Polizei-Beamte,
dem offensichtlich die Sache gegen den Strich ging. Er fragte wegen
,Material für Greuelpropaganda und ob sie kürzlich von ihrem Vater
gehört hätten, MARGOT gab keine Antwort, ebenso ihr Schwager -nur,
daß sie nichts wüßten. Dabei lag auf dem Tisch ein Brief EINSTEINs, in
dem er sich über HITLER lustig gemacht hatte. Der Polizeibeamte sagte
Dann: ,Da Sie ja anscheinend kürzlich nichts von Ihrem Vater gehört
haben, wissen Sie wohl auch nichts“, und verabschiedete sich höflich.
Zur gleiehen Zeit fand auch eine ,Haussuchung“ in der EINSTEINschen
Wohnung statt, wo aber nur die Hausangestellte war. die sie in die ver-
schiedenen Zimmer führte. Mitgenommen wurde weiter nichts. Was
beschlagnahmt wurde, waren die Bankkonten, Frau EINSTEINs Safe
etc., ebenso das Haus in Caputh, in dem dann der ,Bund Deutscher
Mädel“ hauste, ebenso Professor EINSTEINs Segelboot, das in Caputh
lag.“
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Einsteins Landhaus in Caputh bei Potsdam un den Märkischen Seen gelegen.
Seit 1929 verbrachte er hier mit Vorliebe die heißen Sommermonate, 1933
wurde das Haus sofort beschlagnahmt.
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Das geschah im Jahre 1933 dem Manne, den die Welt als einen neuen
NEWTON verehrte, dem Manne, dem die deutsche Naturwissenschaft
zum guten Teil ihr „goldenes Zeitalter“ verdankte, dem Manne, dem
zuliebe nach dem Ersten Weltkrieg viele Ausländer wieder Beziehun-
gen zu Deutschland angeknüpft hatten.
Nach der Rückkehr PLANCKs aus Sizilien beschäftigte sich die Akade-
mie am 11. Mai 1933 noch einmal mit dem „Fall EINSTEIN“. In der ehr-
lichen Überzeugung, daß die Mitglieder der Akademie eine besondere
Loyalitätspflicht besitzen, sagte PLANCK, es sei „tief zu bedauern, daß
Herr EINSTEIN selber durch sein politisches Verhalten sein Verbleiben
unmöglich gemacht hat.“ Aber ebenso unmißverständlich gab er zu
Protokoll: „Ich glaube, im Sinne meiner akademischen Fachkollegen
sowie der überwältigenden Mehrheit aller deutscher Physiker zu spre-
chen, wenn ich sage: Herr EINSTEIN ist nicht nur einer unter vielen her-
vorragenden Physikern, sondern Herr EINSTEIN ist der Physiker, durch
dessen in unserer Akademie veröffentlichten Arbeiten die physikali-
sche Erkenntnis in unserem Jahrhundert eine Vertiefung erfahren hat.
deren Bedeutung nur an den Leistungen JOHANNES KEPLERs
und ISAAC NEWTONs gemessen werden kann. Es liegt mir vor allem deshalb daran,
dies auszusprechen, damit nicht die Nachwelt einmal auf den Gedan-
ken kommt, daß die akademischen Fachkollegen Herrn EINSTEINs
noch nicht imstande Waren, seine Bedeutung für die Wissenschaft zu
begreifen“
In einer großen Zahl von deutschen wissenschaftlichen lnstitutionen
hatte EINSTEIN mitgewirkt. Mit dem Austritt aus der Preußischen Akademie
wurden all die vielen Fäden zerrissen, die ihn mit dem gei-
stigen Leben des Landes verbunden hatten. Von sich aus - wo nicht
freiwillig, dann auf Wink von oben - begannen nun auch die anderen
Körperschaften, ihr Verhältnis zu EINSTEIN zu überprüfen. Doch EIN-
STEIN war es leid, nun eine lange und unerquiekliche Korrespondenz
aufzunehmen, in die sich womöglich wieder die Presse ınischen würde.
So schrieb EINSTEIN an MAX von LAUE: „Ich habe erfahren. daß meine
nicht geklärte Beziehung zu solchen deutschen Körperschaften, in de-
ren Mitgliederverzeichnis mein Name noch steht, manchem meiner
Freunde in Deutschland Ungelegenheiten bereiten könnte. Deshalb
bitte ich Dich, gelegentlich dafür zu sorgen, daß mein Name aus den
Verzeichnissen dieser Körperschaften gestrichen wird. Hierher gehört
zum Beispiel die Deutsche Physikalische Gesellschaft, die Gesellschaft
der Ordens Pour le Mérite. Ich ermächtige Dich ausdrücklich, dies für
mich zu veranlassen. Dieser Weg dürfte der richtige sein. da so neue
theatralische Effekte vermieden werden."
Die Vertreibung EINSTEINs, des „Papstes der Physik“, aus Berlin und
sein Umzug in die Neue Welt wurden weithin beachtet - und symbo-
lisch verstanden: nun war die führende Rolle, die Deutschland in der
Physik innegehabt hatte, beendet und auf die Vereinigten Staaten
übergegangen.
Schlag auf Schlag verwandelte sich der Rechtsstaat in eine Diktatur.
Am 7. April 1933 wurde das „Gesetz zur Wiederherstellung des Be-
rufsbearntentums“ erlassen. Dies war reine Willkür. Die Verbeam-
tung der Professoren war „auf Lebenszeit“ erfolgt. Dieses verbriefte
Recht wurde jetzt durch einen Federstrich beseitigt. Die Entlassung
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konnte nach Paragraph 4 erfolgen, einem Gummiparagraphen, der die
weidlich benutzte Möglichkeit zur politischen Erpressung und Ein-
schüchterung bot. Der gegen die jüdischen Beamten gerichtete Para-
graph 3 traf wissenschaftlich hochqualifizierte Gelehrte, die sich häu-
fig aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Abstammung keineswegs als
„Nicht-Deutsche“ fühlten. sondern ebenso national dachten wie die
Mehrzahl der Bürger.
Nach diesem Gesetz mußte den nach mehr als zehnjähriger Dienstzeit
entlassenen Beamten ein Ruhegeld gezahlt werden, und Frontkämp-
fer des Ersten Weltkrieges konnten überhaupt nicht entlassen werden.
An diese Bestimmungen hielt man sich aber nur in den ersten Mona-
ten. Dann gab es keine „Milde“ mehr. Juden waren rechtlos. Wo soll-
ten sie sich beschweren?
So wurden unter der wahnwitzigen Parole, Deutschland groß zu ma-
chen, die Größten aus dem Lande gejagt. Der Aderlaß für die deut-
sche Wissenschaft war ungeheuer. Genaue Zahlen über die Emigra-
tion gibt es nicht. Aus einer unvollständigen Aufstellung von 1937
geht hervor, daß von 7758 Mitgliedern des Lehrkörpers der deutschen
Universitäten und Technischen Hochschulen allein bis zum Winter-
semester 1934/35 1145 Professoren und Dozenten, das heißt 15%,
entlassen worden waren. ln der Physik lagen die Zahlen höher, so daß
insgesamt. nach dem geistigen Gewicht gemessen, etwa ein Viertel der
Intelligenz das Land verlassen hat. Auf die geistige Emigration folgte,
teilweise ursächlich bedingt, ein scharfer Rückgang der Studentenzah-
len an den deutschen Hochschulen auf die Hälfte, von 112000 im
Jahre 1929 auf 56000 im Jahre 1939.
Mit Scham und ohnmächtiger Wut sahen die deutschen Gelehrten zu,
wie Kollegen fast über Nacht das Land verlassen mußten, Kollegen,
mit denen sie jahrelang in der gleichen Fakultät gesessen, gemeinsame
Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekte durchgeführt und in de-
ren Häusern sie oft Gastfreundschaft genossen hatten.
Besonders tragisch war der Fall FRITZ HABER. Mit der Überzeugung, in
Krieg und Frieden das Richtige für sein Vaterland getan zu haben,
hatte HABER, der „Vater des Gaskrieges“ im Ersten Weltkrieg, jahre-
lang die Ächtung durch die Weltöffentlichkeit getragen. Als er aber
erlebte, daß nach 1933 von der neuen „nationalen Regierung“ alle
vom Auslande verurteilten „Kriegsverbrecher“ als Heroen und Mär-
tyrer gefeiert wurden, er dagegen - wegen seiner jüdischen Abstam-
mung » abermals verstoßen war, da verlor er das früher sprichwörtli-
che Selbstvertrauen.
„lch habe keinen anderen Institutsdirektor gekannt, für den das Insti-
tut so sehr ein Teil seiner selbst war. So war denn auch, als er es 1933
aufgeben mußte, die Wunde unheilbar“, berichtete MAX von LAUE:
„Icb habe mit eigenen Augen den wochenlangcn Kampf angesehen, in
welchem Haber sich zu seinem Rücktrittsgesuch durchrang. Die An-
fälle von Angina pectoris, an denen er seit mehreren Jahren schon litt,
häuften sich, und ich erinnere mich, wie er nach einem solchen Anfall
seufzte: ,Es ist schlimm mit solcher Krankheit. Man stirbt davon so
1angsam'.“
Fast täglich waren MAX VON LAUE und LISE MEITNER bei HABER, und
diese erzählte später: „Ich war voll Bewunderung über LAUEs Einfüh-
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lungsvermögen und die Herzenswärme, mit der er HABER seine
schwierige Situation zu erleichtern suchte.“
In dieser Zeit schrieb ALBERT EINSTEIN an MAX BORN, ein Emigrant an
den anderen: „Du weißt, daß ich nie besonders günstig über die Deut-
schen dachte (in moralischer und politischer Beziehung). Ich muß aber
gestehen, daß sie mich doch überrascht haben durch den Grad ihrer
Brutalität und Feigheit.“ EINSTEIN wußte nicht. daß PLANCK entschlos-
sen war, persönlich bei ADOLF HITLER zu intervenieren: „Nach der
Machtergreifung durch HITLER hatte ich als der Präsident der Kai-
ser- Wilhelm-Gesellschaft die Aufgabe, dem Führer meine Aufwar-
tung zu machen. Ich glaubte, diese Gelegenheit benutzen zu sollen, um
ein Wort zu Gunsten meines jüdischen Kollegen FRITZ HABER einzule-
gen, ohne dessen Verfahren zur Gewinnung des Ammoniaks aus dem
Stickstoff der Luft der vorige Krieg von Anfang an verloren gewesen
wäre. HITLER antwortete mir wörtlich: ,Gegen die Juden an sich habe
ich gar nichts. Aber die Juden sind alle Kommunisten, und diese sind
meine Feinde, gegen sie geht mein Kampf.“ Auf meine Bemerkung,
daß es doch verschiedenartige Juden gäbe , . . darunter alte Familien
mit bester deutscher Kultur, und daß man doch Unterschiede machen
müsse, erwiderte er: ,Das ist nicht richtig. Jud ist Jud; alle Juden hän-
gen wie Kletten zusammen. Wo ein Jude ist, sammeln sich sofort an-
dere Juden aller Art an. Es wäre die Aufgabe der Juden selber gewe-
sen, einen Trennungsstrich zwischen den verschiedenen Arten zu zie-
hen. Das haben sie nicht getan, und deshalb muß ich gegen alle Juden
gleichmäßig vorgehen.“ Auf meine Bemerkung, daß es aber geradezu
eine Selbstverstümmelung wäre, wenn man wertvolle Juden nötigen
würde auszuwandern, weil wir ihre wissenschaftliche Arbeit nötig
brauchen und diese sonst in erster Linie dem Ausland zugute komme,
ließ er sich nicht weiter ein, erging sich in allgemeinen Redensarten
und endete schließlich: ,Man sagt, ich leide gelegentlich an Nerven-
Schwäche. Das ist eine Verleumdung. Ich habe Nerven wie Stahl.“ Da-
bei schlug er sich kräftig auf das Knie, sprach immer schneller und
schaukelte sich in eine solche Wut hinauf, daß mir nichts übrig blieb,
als zu verstumrnen und mich zu verabschieden.“
PLANCKS Antrittsbesuch war das erste und letzte Mal, daß der „Führer
und Reichskanzler“ einen prominenten Wissenschaftler zum Vortrag
empfing. HITLER hatte sich nie um Grundlagenforschung gekümmert,
er hat ihre Bedeutung für den modernen Industriestaat nicht begriffen.
Und noch schlimmer: Er besaß Ressentiments. Die Verachtung, die
ihm persönlich vor 1933 von Gelehrten entgegengebracht worden
war, hatte er nicht vergessen.
Ungerührt sah das Staatsoberhaupt, der Führer der „nationalen Re-
gierung“, wie das kostbarste Gut der Nation, das intellektuelle Po-
tential, verschleudert wurde. Während eine rücksichtslose Machtpoli-
tik begann, die dem Reich die Weltherrschaft bringen sollte, wurde in
ideologischer Verblendung gleichzeitig der Hauptpfeiler, auf den sich
die Weltstellung Deutschlands gründete, untergraben,
um den völligen Zusammenbruch des von der Kündigungswelle be-
sonders schwer geschädigten HABERschen Instituts zu verhindern,
setzte PLANCK im Einvernehmen mit HABER als kommissarischen Lei-
ter OTTO HAHN ein. Er holte ihn mit einem Telegramm aus den Verei-
nigten Staaten zurück nach Berlin. Am 2l . Juli 1933 übernahm OTTO
HAHN seine neue Aufgabe. Wenige Tage später wurde vom Kultusmi-
nisterium ein Chemiker namens GERHARD JANDER zu HABERs Nachfol-
ger erklärt. Von ihm hatte man in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, wo
man über die wirklichen Fachleute genau Bescheid wußte, noch nie
gehört. Er war, wie sich herausstellte, ein wissenschaftlich bedeu-
tungsloser Privatdozent aus Greifswald. Dafür war er politisch als
Deutschnationaler hervorgetreten.
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Brief Einsteins an Max von Laue vom 23. März 1934: „Ich hab' immer gefühlt
und gewußt, daß Du nicht nur ein Kopf sondern auch ein Kerl bist.“
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Walther Nernst untl Lise Meitner: Ernste Gespräche am Rand einer Feier der
Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft. Es handelte sich vermutlich um das Jubiläum an-
läßlich des 25. Gründungstages am l0. Januar 1936, das eine Demonstration
der Unabhängigkeit der Gesellschaft gegenüber dem nationalsozialistischen
Staate war.
ENDE X