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EIN REBELLISCHER MÖNCH 18-26

2017. november 22. 16:43 - RózsaSá

der kurz zuvor sein geisteswissenschaftliches Grundstudium als
Zweitbester von 17 Kandidaten abgeschlossen hatte. Stolz redete der
Vater den Sohn jetzt nicht mehr mit »du« an, sondern mit »Ihr«, und
er überreichte ihm eine ansehnliche Summe, damit er sich davon die
fürs Jurastudium nötigen Bücher kaufe.
Luther hatte sich ganz selbstverständlich dem väterlichen Willen
gefügt. Er war ja, wie alle seine Zeitgenossen, dazu erzogen, dem
Vater, den Lehrern, den Amtspersonen, dem Bischof, dem Fürsten,
dem Kaiser und dem Papst zu gehorchen. Das Gehorchen wurde den
Kindern eingeprügelt, auch dem kleinen Martin. »Denn welchen der
Herr lieb hat, den züchtigt er«, sagt Paulus, und das haben jahrhundertelang
alle frommen Hausväter auf ihre Rolle als Erzieher übertragen
und bis ins letzte Jahrhundert beherzigt. Zum Teil tun sie es
heute noch.
Als erwachsener Mann erzählte er: »Meine Eltern haben mich in
strengster Ordnung gehalten, bis zur Verschüchterung. Meine Mutter
stäupte mich um einer einzigen Nuss willen bis zum Blutvergießen.
… Mein Vater stäupte mich einmal so sehr, dass ich vor ihm floh und
dass ihm bange war, bis er mich wieder zu sich gewöhnt hatte.«1
Diese Prügelei ging weiter in der Schule. Die Lehrer dort, sagt
Luther, waren »grausam wie die Henker«. Ein Schulmeister rühmte
sich, im Lauf seines Berufslebens »911.527 Stockhiebe, 124.000 Peitschenhiebe,
136.715 Schläge mit bloßer Hand und 1.115.800 Ohrfeigen
« 2 ausgeteilt zu haben.
Dass er eigentlich immer eine eher ängstliche Natur gewesen ist,
schreibt der spätere Luther im Rückblick auf seine von Furcht vor
Strafe und Prügel geprägte Kindheit und Jugend: »Ein Kind, das einmal
kleinmütig geworden ist, ist zu allen Dingen untüchtig und verzagt.
Es fürchtet sich allezeit, so oft es etwas tun und anfangen soll.
Was aber noch ärger ist: Wo eine solche Furcht in der Kindheit ein-
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reißt, kann sie schwerlich wieder ausgerottet werden ein Leben lang,
denn weil sie bei einem jeden Worte der Eltern erzittern, so fürchten
sie sich auch nachher ihr Leben lang vor einem rauschenden
Blatte.« 3
Zunächst scheint es so, als ob genau diese Entwicklung auch bei
Luther vorgezeichnet wäre, aber es kommt anders. Aus einem ängstlichen,
immer mit der schlimmsten Gottesstrafe rechnenden jungen
Mann wird fast über Nacht ein Kerl, der einmal dichten wird:
Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen.

Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt, wie sau’r er sich stellt,
tut er uns doch nicht; das macht, er ist gericht’:
ein Wörtlein kann ihn fällen.
Vor dieser Wandlung, als er noch ängstlich jeder Autorität gehorchte
und kurz davor war, sich dem Willen seines Vaters zu fügen, schien
Luther aber schon bewusst gewesen zu sein: Ich gehorche nur äußerlich,
nicht innerlich, nicht aus eigenem Wollen und eigener Überzeugung.
Ich gehorche, um Nachteile zu vermeiden, keinen Ärger zu
machen. Ich gehorche, weil es nun mal seit Menschengedenken so
üblich ist, dass gute Kinder tun, was die Väter sagen. Also gehorche
auch ich. Deshalb das Jurastudium. Weil der Vater es so will und weil
er seinen Vater liebt. Weil dieser Vater auf ihn stolz ist, und weil er seinem
Vater dankbar sein muss für die kostspielige Ausbildung, die er
ihm ermöglicht hat. Und er sieht keine Möglichkeit, dieser geplanten
Zukunft zu entkommen. Er möchte es zwar, aber er möchte seinen
Eltern auch keinen Kummer bereiten – ein Konflikt, den heute junge
Migranten und besonders Migrantinnen erleben, die sich der Macht
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ihrer Clans und Väter entziehen und eigene Wege gehen möchten. Es
endet fast immer mit einem Bruch zwischen Vater und Kind, einem
Bruch mit der ganzen Familie.
Etwas Ähnliches stand nun Martin Luther bevor. Sein Jurastudium,
das er als gehorsamer Sohn begonnen hatte, endete schon nach
wenigen Wochen. Weil der Blitz eingeschlagen hatte. Ein Zeichen
Gottes, wie Luther glaubt, wie er glauben möchte – der rettende,
höchst willkommene Vorwand, um selbst über sein Schicksal zu entscheiden.
Damit konnte er nun vor seine Autorität, den Vater, treten,
und sagen, eine noch höhere Autorität habe ihm geboten, einen ganz
anderen Weg einzuschlagen. Aus mir wird kein Staatsbeamter werden,
wie du es wünschst, sondern ein Mönch, wie Gott es wünscht.
Oder wie der Teufel es wünscht, wird der erzürnte Vater antworten.
»Möchte es nur nicht eine Täuschung und Blendwerk gewesen
sein.« 4
Oder wie Martin es heimlich wünscht? Er hatte viel Zeit zum Denken
und Grübeln auf seinem einsamen Weg von Mansfeld nach Erfurt.
Viele Stunden, Tage standen zur Verfügung, um ungestört über die
eigene Zukunft nachzudenken, den Beruf, eine Frau, eine Familie.
Vielleicht war es bei Martin nur eine ihm selbst nicht bewusste innerliche
Auflehnung vor der Zwangsverheiratung, die ihn ins Kloster
flüchten ließ. Oder der Wunsch, endlich der väterlichen Autorität zu
entkommen. Außerdem hatte er bohrende Fragen an Gott. Wo anders
als in einem Kloster hätte er die Antwort finden sollen?
Jura zu studieren, eine Familie zu gründen, Karriere zu machen,
hätte bedeutet, viele Jahre und voraussichtlich für den Rest des Lebens
vom Wesentlichen abgelenkt zu sein, daran gehindert zu werden,
sich ganz auf das zu konzentrieren, was ihn allein interessierte,
ihn im Innersten beschäftigte: Was hat es mit diesem Gott auf sich?
Wie muss ich leben, dass er mit mir zufrieden ist? Da kam doch der
Blitz gerade recht.
In der Nacht des 16. Juli 1505 bittet der Magister Martin Luder
um Aufnahme in das Erfurter Augustiner-Eremiten-Kloster. Seinen
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Eltern teilt er den Entschluss brieflich mit. Er weiß, dass dies den
Bruch mit seinem Vater bedeutet, und tatsächlich droht dieser seinem
Sohn, ihm »alle Gunst und väterlichen Willen« zu versagen,
wenn er seinen Entschluss nicht rückgängig machen wird. Der Sohn
denkt nicht daran, seinen Entschluss zu revidieren, und damit tritt
erstmals eine typische Charaktereigenschaft dieses Mannes hervor,
die sich später noch öfter zeigen wird, und die ihn in seine Rolle als
Reformator tragen wird: Obwohl ängstlich, voller Furcht, tut dieser
Mann, was er einmal als zu tun richtig und notwendig erkannt hat.
Später, als er zu der Überzeugung gelangt, dass Mönchtum und
Klosterleben nur unnütze Zeitverschwendung bedeuten und gar
nicht Gottes Willen entsprechen, wird er seinem Vater recht geben
und sagen, dass es der Teufel war, der ihn durch den Blitz ins Kloster
bugsiert hat. Wieder ein andermal wird er sagen, dass es doch Gott
war, der ihn ins Kloster geschickt hat, denn nur im Kloster konnte er
erkennen, was falsch läuft in der Kirche. Und nur im Kloster hatte er
die Zeit, durch intensives Bibelstudium zu erkennen, warum das, was
in der Kirche läuft, falsch ist.
Was genau überhaupt passiert ist, damals in Stotternheim, ob
Luther wirklich aus lauter Angst vor Blitz und Donner die heilige
Anna angerufen und ein klösterliches Leben versprochen hat, wissen
wir nur aus Geschichten, die Luther viele Jahre später erzählt hat, als
er schon eine internationale Berühmtheit war. Vieles, was man im
Alter über sich erzählt, ist eine Konstruktion aus Erinnerung, gefüllten
Erinnerungslücken, Verschweigen und nachträglicher Selbstdeutung
und Sinngebung. Man kann dann oft nicht mehr unterscheiden
zwischen äußeren Ereignissen, die einer inneren Entwicklung eine
andere Richtung gaben, und inneren Entwicklungen, die zu Bewusstwerdung
und äußeren Ereignissen führten. Selbst mit der größten
Wahrhaftigkeit entgeht man diesen Hürden der Erinnerung nicht,
und noch viel schwieriger ist das für berühmte Menschen, an deren
Biografien im Lauf von Jahrzehnten und Jahrhunderten viele andere
Menschen mitschreiben.
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Und Luther selbst war gewiss einer, der sich beim Erzählen an das
Motto gehalten hat: »Nur wer gar keine Fantasie hat, erzählt eine Geschichte
so, wie sie wirklich war.« Es ist aber heute völlig unwichtig,
welche Einzelheiten Luther dazu brachten, sein Studium zu schmeißen
und Mönch zu werden. Wichtig bleibt nur: Wenn er damals, an
jenem Sommertag im Juli 1505, nicht an die Klosterpforte geklopft
und sich stattdessen dem väterlichen Willen gefügt hätte, wäre die
Weltgeschichte anders verlaufen. Aber er hat es getan. Und sich damit
die Zeit erkämpft, die er brauchte, um in der Stille des Klosters, über
Bücher gebeugt, zum Wesentlichen vorzustoßen. Das dauerte zwölf
Jahre. Dann machte er Geschichte.
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Ein Mönch geht seinen Weg
Am Morgen des 17. Juli 1505 schließt sich die Pforte des Erfurter
Augustinerklosters hinter Martin Luther. Zwanzig Jahre lang, zwischen
seinem 22. und 42. Lebensjahr, wird er nun als Mönch leben.
Jetzt, so denkt er, könne seinem ewigen Heil nichts mehr im Wege
stehen, denn nun gehört er Gott ganz, mit Leib und Seele, mit Haut
und Haaren. Eifrig erfüllt er alle seine Pflichten. Dass er wie ein Hausknecht
gehalten wird, dem der Besen in die Hand gedrückt wird, damit
er Demut und Gehorsam erlerne und er sich auf seine universitären
Abschlüsse nicht allzu viel einbilde, findet er gerade richtig.
Obwohl die Augustiner ein Bettelorden sind, ist das Kloster vermögend.
Schenkungen, Erbschaften, Vermächtnisse, Spenden, der
Fleiß der Mönche – da hat sich viel angesammelt im Verlauf der Jahrhunderte.
Dennoch wird der Novize Martin Luder zum Betteln über
die Dörfer geschickt, damit er die Lebensweise Jesu und seiner Jünger
am eigenen Leib erfahre. Auch sonst ist das Leben im Kloster streng:
eine unbeheizte Sechs-Quadratmeter-Zelle, ein Tisch, ein Schemel,
eine Pritsche mit Strohsack, ein Wasserkrug und ein Kruzifix. Zwei
karge Mahlzeiten pro Tag, dafür aber sieben Gebete, das erste morgens
um drei, das letzte um Mitternacht. Rund hundert Fastentage
pro Jahr sind einzuhalten.
Bruder Martinus, wie er jetzt heißt, ordnet sich willig allem unter,
steigt in dieses Leben ein, als ob er nie anders gelebt hätte, und absolviert
sein Probejahr problemlos. Vom ersten Tag an gab er seinen
Oberen und Mitbrüdern zu verstehen, dass es ihm tief ernst ist mit
seinem Entschluss. Dieser Mönch wird alles tun, was verlangt wird,
um das ewige Seelenheil zu verdienen, und wenn es sein muss, auch
mehr.
Im September 1506 wird er für immer in die Ordensgemeinschaft
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aufgenommen und gelobt Armut, um sich von der Gier nach Reichtum
und Besitz loszusagen. Das fällt ihm leicht. Reich zu werden und
große Besitztümer zu erwerben, war nie Luthers Ziel. Zwar wird aus
ihm später ein relativ wohlhabender Mann, aber das ergab sich als
Nebenwirkung aus seiner unbändigen Schaffenskraft, seinem Fleiß
und nicht zuletzt aus der Tüchtigkeit seiner späteren Frau Katharina
von Bora.
Er gelobt Gehorsam gegenüber Gott, um sich von der Gier nach
Macht und Geltung loszusagen. Das Problem an diesem Gelöbnis ist,
dass man von Gott keine Briefe mit Anweisungen bekommt, die man
nur ausführen muss. Nein, es sind immer andere fehlbare Menschen –
der Vater, der Abt, der Beichtvater, der Bischof, der Papst – die angeblich
wissen, was Gottes Wille sei. Also gehorcht man Gott, indem
man diesen anderen gehorcht. Genau das wird Luther später zum
Problem.
Und er gelobt Keuschheit, um dem sexuellen Begehren zu entsagen.
Das fällt ihm schwer, aber er habe sich – nach eigener Auskunft –
daran gehalten, wenn auch nicht lebenslang, denn irgendwann gelangt
er zu der Überzeugung, dass das Unsinn ist, dieses Ehe- und
Sexverbot für Priester. Und dann bricht er es.
Das Streben nach Geld, Macht und Sex – diese drei sind es, mit denen
die Menschen selten richtig umzugehen wissen. Luther wird das
nie bestreiten, denn er weiß: Aus dem falschen Umgang mit diesen
drei Mächten entsteht jene Folge von Verhängnissen und Katastrophen,
die wir als Weltgeschichte bezeichnen. Die Frage lautete daher
schon immer: Wie können wir das Zusammenleben der Menschen so
organisieren, dass nicht diese drei Mächte uns beherrschen, sondern
wir diese?
Eine Antwort der Kirche war das klösterliche Leben. Wie Jesus
einst aus der Menge seine Jünger berufen und mit ihnen einen exklusiven
Kreis der zwölf gegründet hatte, von denen jeder zu hundertprozentiger
Hingabe und zum Verzicht auf Autonomie verpflichtet
war, so sollten Mönche und Nonnen sich von Jesus berufen fühlen,
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ihm ganz zu dienen nach dem Grundsatz: Nicht was ich will, soll
mein Handeln bestimmen, sondern was Gott will. Durch diese radikale
Absage an die eigene Selbstverwirklichung wurde man Mitglied
eines herausgehobenen Kreises, der sich von der Menge deutlich unterschied
und stellvertretend für die Menge die Forderungen Gottes
lebte und dieser zugleich eine Orientierung gab.
Ein weiterer Gedanke war: Wenn sich Menschen aus freien Stücken
an einem Ort versammeln, um radikal allen weltlichen Mächten
und Einflüssen abzuschwören, müsste dann nicht eine ganz andere
Welt entstehen? Müsste man in so einer Welt nicht einen Vorgeschmack
auf jenes Reich Gottes bekommen, das uns in der Bibel verheißen
ist? Und müsste sich die Gewissheit des ewigen Heils nicht wie
von selbst einstellen? Das ist die allen Ordensgründungen zugrunde
liegende gemeinsame Erwartung. Gott stellt radikale Forderungen an
den Menschen. Aber wenn er sie erfüllt, wird er etwas vom Reich Gottes
schmecken.
Bruder Martin ist ganz begierig auf diesen Geschmack. Wird aber
nie dergleichen zu schmecken bekommen, und warum das so ist, darüber
zu grübeln hat er jetzt Zeit.
Schon zwei Jahre nach seinem Eintritt wird der eifrige Mönch
im April 1507 zum Priester geweiht. Am 2. Mai feiert er seine erste
Messe, die feierliche Primiz, zu der seine Familie und frühere Freunde
aus Eisenach und Mansfeld anreisen.5 Zu Luthers Freude kommt
auch sein inzwischen halb versöhnter Vater, der einerseits nun auch
auf diesen »Karriereschritt« seines Sohnes stolz ist und deshalb ein
großzügiges Fest bezahlt und dem Kloster den ansehnlichen Betrag
von 20 Gulden stiftet, und andererseits doch weitergrummelt und die
Entscheidung seines Ältesten für töricht hält.
Das Beste an dessen Leben im Erfurter Kloster ist, dass ihm jetzt
ein großer Schatz zur Verfügung steht, Bücher – die Bücher des Kirchenvaters
Augustinus, aus dessen Gedanken Luther Funken schlagen
wird; die Bücher des Aristoteles, dessen Einfluss auf die Kirche
Luther für unheilvoll hält; Schriften der Mystiker Johannes Tauler
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und Meister Eckhart, die sein eigenes Denken stark beeinflussen,
schließlich die Bibel, das wichtigste aller Bücher, das Buch, ohne das
man alles andere nicht versteht, und das er am eifrigsten studiert.
»Als ich jung war, gewöhnte ich mich zur Bibel, las dieselbe oftmals
und machte mir den Text vertraut; da ward ich darin so bekannt, dass
ich wusste, wo jeglicher Spruch stünde und zu finden war, wenn davon
geredet ward.«
Doch je eifriger er die Bibel erforscht, desto mehr schwindet seine
Hoffnung, in ihr den ersehnten gnädigen Gott zu finden. Wann
immer er das Buch aufschlägt, trifft er auf einen fremden, zornigen,
strafenden, fordernden Gott, vor dem kein Mensch bestehen kann.
»Keine Zunge kann sagen, keine Feder beschreiben, was der Mensch
in solchen Augenblicken erleidet. Da erscheint Gott über alle Begriffe
furchtbar in seinem Zorn und mit ihm die ganze Kreatur. Keine
Flucht ist möglich, nichts gibt es, was einen trösten könnte. Alles ist
eine einzige Anklage.« Vom Reich Gottes ist nichts zu schmecken.
Bruder Martin reagiert darauf mit gesteigerter Leistung, legt
zusätzliche Fastentage ein, schläft auf dem Steinfußboden, sitzt als
Dauergast im Beichtstuhl, kniet nieder, bekennt seine Schuld, bereut,
erhält Lossprechung, arbeitet die verordneten Bußstrafen ab und besetzt
gleich darauf wieder den Stuhl. Kapituliert ein Beichtvater vor
diesen stundenlangen Geständnissen, geht Martinus zum nächsten.
Und geht damit seinen Beichtvätern allmählich auf die Nerven.
Was tun mit so einem Hochleistungschristen? Was tun mit einem,
der Gott mit guten Werken zwingen, ja geradezu erpressen
will? Der Mann muss raus, muss unter die Leute, bevor er sich selbst
und die anderen verrückt macht. Also schicken sie ihn nach Wittenberg.
Dort soll er ab dem Jahr 1508 an der Universität Philosophie
unterrichten und weiter Theologie studieren und promovieren. Dort
haben die Augustiner auch ein Kloster, in dem Luther wohnen kann.
Einerseits ist das eine Beförderung. Andererseits ist es eine Versetzung
aus dem städtischen Erfurt in die ländliche Provinz. Wittenberg
mit seinen höchstens zweieinhalbtausend Einwohnern ist ein
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»Nest am Rand der Barbarei«, wo der Marktplatz ein »Dunghaufen«
ist, wird Bruder Martinus später sagen.
So schlecht war dieser Ort – aus der Rückschau betrachtet – gar
nicht, denn Luther kam an eine im Jahr 1502 neu gegründete, also
junge Universität. Es gab keine verkrusteten Strukturen, alles war
noch offen, formbar, und der einzige Platzhirsch, dem sich Luther
unterordnen musste, wurde bald dessen Beichtvater, Gesprächspartner,
Förderer und väterlicher Freund: Johann von Staupitz, Gründungsprofessor
der neuen Universität in Wittenberg, zugleich Dekan
an deren theologischer Fakultät und Generalvikar des Augustinerordens.
Er erkannte früh Luthers Fähigkeiten und Talente.
Staupitz war es auch, der Luther im Jahr 1510 – vielleicht auch
1511, da streiten die Gelehrten noch – nach Rom schickt, um dort,
zusammen mit einem Klosterbruder, eine Ordensangelegenheit zu
klären. Eigentlich eine tolle Sache. Nur: Es sind 1.500 Kilometer zurückzulegen,
zu Fuß, dann wieder zurück, im Winter, über die Alpen.
Andererseits: Ein junger Mönch auf seiner ersten großen Reise
von einem »Nest am Rand der Barbarei« über Nürnberg, Ulm, Bregenz,
die Schweiz, Norditalien in die Welthauptstadt Rom und über
Bayern wieder zurück – was für ein Abenteuer.6 Wer das hinter sich
bringt, der hat was zu erzählen.
Aber seltsam: In Luthers späteren Aufzeichnungen findet sich
kaum ein Wort darüber. Und wenn er bei seinen berühmten Tischgesprächen
doch ab und zu auf Rom zu sprechen kam, dann schilderte
er die Stadt als babylonischen Sündenpfuhl, in dem der Papst, dieser
Teufel, dieser Antichrist, residierte.
Hatte Luther kein Auge für die Seen, Berge, Täler, Schluchten,
den Schnee, das Eis? Natürlich nicht, denn schließlich befand sich
der mittelalterliche Mensch Luther wieder »extra muros«, draußen,
in der abweisenden, lebensfeindlichen Natur. Besonders wilde, halsbrecherische

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