XII. Aufräumen in Wittenberg
112 Der eine nannte den anderen »Erzteufel in Schafskleidern<<, einen
»reifšenden Wolf<<, der ››nur Mord und Aufruhr und Blutvergießen
anrichten« wolle. Der andere konterte mit Zuschreibungen wie »Bru-
der Mastschwein«, »Gevatter Leisetritt«, ›>Stocknarr«, »das giftige
Würmlein mit seiner beschissenen Demut«.
Mit ››Erzteufel in Schafskleidern« und »reißenden Wolf« hat
Martin Luther Thomas Müntzer gemeint, von dem wir noch hören
werden. Dieser sandte als Retourkutsche an Luther den Titel »Mast-
schwein« und die anderen Beschimpfungen.“
Man war nicht zimperlich damals. Die Political Correctness war
noch nicht erfunden. Aus den Druckereien verbreiteten sich Karika-
turen, Beleidigungen, Hasskommentare, die heutiger Facebook-Het-
ze durchaus ebenbürtig waren. Und sowohl Luther wie auch seine
Gegner, die ››Römlinge<<, verstanden sich gut darauf. Bezeichnete
Luther den Papst als ››Antichrist«, so bezeichneten ihn die Papisten
als ›>Afterpapst<<. Mächten sich Luther und Melanchthon über den
Papst als Esel lustig und zeichnete Lucas Cranach den ››Papstesel<<,
so beschimpften Luthers Kritiker ihn als Sprachrohr des Teufels und
illustrierten die Schmähung mit des Teufels Sackpfeife - der Teufel
bläst in einen Dudelsack, der die_Form des Luther'schen Mönchskopfs
hat.
Die Angriffe der Römlinge bekümmerten Luther weniger, die be-
trachtete er als ››normak<, und sie konnten in gleicher Münze heimge-
zahlt werden. Schmerzlicher waren die Angriffe der ehemals eigenen
Anhänger, die sich von Luther absetzten und - »auf eigene Faust<<,
wie Luther empfand - ihre eigenen Baustellen der Reformation er-
richteten.
Seit dem Anschlag der 95 Thesen waren noch keine vier Jahre ver-gangen, aber das, was sie im ganzen Land ausgelöst haben, und was
im weiteren Verlauf immer häufiger ›>reformatio<< genannt, aber nir-
gends definiert wurde, hatte längst ein unkontrollierbares Eigenle-
ben entwickelt, das nicht mehr steuer- und nicht mehr vorhersagbar
war. Die Zahl der Baustellen des Reformationsprojekts wurde rasch
immer größer. Und wenn Luther gedacht haben sollte, er sei der al-
leinige Bauherr und Architekt dieses Umbaus der mittelalterlichen
Gesellschaft, dann wurde er schon während seines Aufenthalts auf
der Wartburg eines Besseren belehrt. So drang etwa die Nachricht zu
ihm, dass er in Wittenberg eine Lücke hinterlasse, die andere zu fül-
len trachteten und die sich berufen fühlten, Luthers Lehren schnell
in eine neue kirchliche Praxis umzusetzen.
Da war zum Beispiel Andreas Karlstadt, Luthers Doktorvater, der
die Heiligenbilder und die Musik aus den Kirchen verbannen, den
Zölibat abschaffen, den Gottesdienst erneuern und das Abendmahl
anders feiern wollte als es bisher Tradition war. Seinen Studenten
empfahl er, die Lehrbücher wegzuwerfen und die Hacke zur Hand zu
nehmen., weil der Bauer der wahre, der gottgefällige Stand sei. Zum
Weihnachtsfest 1521 zelebrierte er die erste evangelische Messe auf
Deutsch, trug dabei kein Priestergewand, sondern weltliche Kleider,
und war davon überzeugt, sicher ganz im Sinne Luthers zu handeln.
Die Heirat mit Anna von Mochau Anfang des Jahres 1522 bezeugte
seinen Bruch mit dem Zölibat. Im Februar 1522 ließ er die Bilder
aus Wittenbergs Kirchen entfernen. Dabei kam es zu Ausschreitun-
gen und Tumulten, denn nicht alle Sympathisanten der Reformati-
on waren damit einverstanden, und der junge Philipp Melanchthon
schwankte unentschieden zwischen Anerkennung und Ablehnung
der Wittenberger Bilderstürmer, hätte wohl auch zu wenig Autorität
gehabt, um erfolgreich dagegen einzuschreiten.
Luther auf seiner Burg erkannte natürlich hinter all diesen Um-
trieben seine eigenen Gedanken. Er selbst hatte gelehrt, dass Bilder
zu Götzen werden, wenn man diese statt Gott anbetet. Er selbst hatte
die Heiligen- und Reliquienverehrung verworfen, den Zölibat infrage
114gestellt, das Mönchtum als unnütz bezeichnet und das Priestertum
aller Gläubigen gelehrt.
Aber bisher beruhte all seine Kritik auf theoretischen Überlegun-
gen. Dass sie schon jetzt so schnell in die Praxis umgesetzt werden,
noch dazu ohne ihn zu fragen, empfand er als unerhört, und so sorgte
er sich, dass ihm die Dinge entgleiten könnten. Als ihn dann der Rat
der Stadt Wittenberg um Hilfe bat, weil die Karlstadt'schen Neuerun-
gen in Wittenberg etlichen Gemeindemitgliedern zu weit gingen und
es zu heftigen Auseinandersetzungen in der Gemeinde kam, hielt ihn
nichts mehr auf seiner Burg. Gegen den Rat des Kurfürsten kehrte er
am 6. März 1522 nach Wittenberg zurück.
Der Kurfürst bangte um Luthers Leben, denn noch immer
schwebte das »Wormser Edikt« wie ein Damoklesschwert über ihm.
Davor schützen konnte ihn der Kurfürst nur auf seinem eigenen klei-
nen Territorium, aber selbst dort war Luther nicht vor Entführung
und dem Zugriff römischer Häscher gefeit. Der aber hatte schon lan-
ge keine Angst mehr, vertraute auf Gott und schrieb selbstbewusst
und frohgemut an den Kurfürsten, er »komme gen Wittenberg in gar
viel einem höheren Schutz denn des Kurfürsten<<,“ nämlich in dem
Gottes. Er habe auch nicht im Sinn, den Schutz des Kurfürsten zu
begehren, sondern wolle den Kurfürsten mehr schützen als dieser
ihn schützen könne, »denn wer am meisten glaubt, der wird hier am
meisten schützen<<.42
Als er in Wittenberg eintraf, wollte er sofort wieder sein gewohn-
tes Leben als Wittenberger Mönch, Lehrer und Prediger fortsetzen,
kehrte in die Turmstube seines Klosters zurück, ließ sich seinen Bart
rasieren und die Haare schneiden, zog die Mönchskutte an - aber das
Wittenberg, in das er nun kam, war nicht mehr dasselbe wie das, das
er vor einem Dreivierteljahr verlassen hatte. Sein Kloster war fast un-
bewohnt. Und verarmt. Nur zwei seiner Mitbrüder lebten dort noch,
die anderen hatten sich vom Mönchtum losgesagt und das Kloster
verlassen. Da das Betteln nun aufgehört hatte und den Ausgetretenen
Abfindungen gezahlt worden waren, fehlte es dem Kloster an Geld.
116
Damit kam Luther aber ganz gut zurecht. Sowieso hatte er für sei-
ne Lehrtätigkeit als Professor nie, ein Gehalt bekommen, denn er war
ja ein Bettelmönch. Fürs Predigen an der Wittenberger Stadtkirche
bekam er acht Gulden pro Monat, weniger als ein Zwölftel von Me-
lanchthons Professorengehalt, und für seine zahlreichen Schriften,
die ihn hätten reich machen können, hat er nie ein Honorar genom-
men.
Geld war ihm nicht wichtig. Viel wichtiger war ihm, wieder Ord-
nung in das Chaos zu bringen, das er vorfand, nicht nur in Witten-
berg, sondern im ganzen Reich, denn ihm war zu Ohren gekommen,
dass es überall gärte.
Zunächst kümmerte er sich um Wittenberg. Mit der ganzen Auto-
rität, die er sich inzwischen erworben hatte, nimmt er nun den Kampf
auf gegen die, wie er sie nennt, ››Schwärmer«, ››Rottengeister« und
›>Aufrührer<<. Seinem Doktorvater und ehemaligen Mitstreiter Karl-
stadt kündigt er nicht nur die`Freundschaft, sondern setzt- autoritär
wie ein Papst - ein Predigtverbot gegen ihn durch und erwirkt eine
Zensur- und Beschlagnahmung seiner Schriften durch die Universität.
Dann steigt er auf die Kanzel und predigt Geduld. Die Umsetzung
reformatorischer Gedanken in reformatorische Praxis müsse wohl be-
dacht sein, aber vor allem habe man dabei Rücksicht zu nehmen auf
jene, die nicht so schnell mitkommen. Das ist der Inhalt seiner acht
››Invokavitpredigten<< - benannt nach dem Namen des ersten Sonn-
tags der Passionszeit - die er im März 1522 in Wittenberg hält.
Hier entfaltet er seine Vorstellung davon, wie es nun im Leben der
Gemeinde weitergehen solle: »So wie jede Mutter ihre Kinder ganz
allmählich großziehe und kein sofortiges Erwachsensein erwarte, so
sei der Gemeinde genügend Zeit einzuräumen, auf dass ihr Glaube
allein durch Gottes Wort gestärkt werden könne«
Und ja, selbstverständlich brauchen neue Inhalte auch neue For-
men, und selbstverständlich muss man daher auch neue Formen des
Gottesdienstes entwickeln, aber zuvor muss das Wort nicht nur ins
Ohr, sondern durchs Herz gedrungen'sein. Und ja, auch er verabscheue jede Abgötterei von Heiligenbildern -
die er ››Ölgötzen« nannte - doch habe es Gott den Menschen überlas-
sen, sie als Zeichen zu betrachten. V
Und ja, er selbst habe sich schon auf der Wartburg vom Mönch-
tum losgesagt und die Gelübde für nichtig erklärt, dennoch trage er
seine Mönchskutte weiter und werde sie erst ablegen, wenn er sich
innerlich frei fühle dazu. Wer jedoch sein Kloster mit gutem Glauben
und Gewissen verlassen wolle, der solle getrost gehen.
Luther wird seine Kutte noch zwei weitere Jahre tragen. Den Got-
tesdienst hält er in geweihten Gewändern, mit Gesang und mit latei-
nischen Zeremonien. Damit demonstriert er, wie er sich den Prozess
der Reformation vorstellt: einen Schritt nach dem anderen machen
und den Leuten genau begründen, warum nun dieser Schritt nötig ist
und was der nächste sein wird. 4 P
Wenn man gedanklich zu dem Schluss gekommen ist, dass sich
die Institution des Mönchtums nicht biblisch begründen lässt, muss
man es natürlich abschaffen, aber doch nicht über Nacht. Es gibt
schließlich zahlreiche praktische Fragen zu klären, wie etwa, was mit
dem Besitz und den Gebäuden der Klöster geschehen soll. Und wenn
man gedanklich zu dem Schluss gekommen ist, dass der Gottesdienst
auf Deutsch, in neuen Formen und in anderen Gewändern gefeiert
werden sollte, muss man doch vorher genau geklärt haben, in wel-
chen Formen, welchen Gewändern und warum gerade in diesen.
Jeder Schritt will sorgsam bedacht sein, bevor man ihn ausführt.
Hat man aber alles gründlich durchdacht, kann er entschlossen getan
und der nächste Schritt überlegt werden. Änderungen kommen also
für Luther erst dann infrage, wenn sie von der Bibel her so begründet
werden können, dass sie auf einem sicheren theologischen Funda-
ment stehen. Bis dahin muss erst mal mit dem Alten weitergemacht
werden, denn wer ein altes Haus abreißt, bevor er ein neues gebaut
hat, wird oft im Regen stehen. Aber vor allem: Nicht mit Gewalt sol-
len die Änderungen herbeigeführt werden, sondern durch die Kraft ` ^,
des Wortes.
119 Dieses Wort Gottes habe bisher allein den Kampf gegen das Papst-
tum geführt und es entscheidet geschwächt, während er mit Me-
lanchthon in aller Ruhe wittenbergisch Bier getrunken habe.“ Mit
dieser besonnen-vermittelnden Haltung bei gleichzeitig scharfer Ab-
grenzung gegenüber Karlstadt und allen ››Abweichlern« in den eige-
nen Reihen gelingt es Luther, wieder Ruhe hineinzubringen in die
Wittenberger Gemeinde. Aber eben nur dort.
Was ihm in Wittenberg gelingt, gelingt nicht mehr im Rest der
Welt. Andere sind ungeduldiger, preschen voran, wollen aus den
Gedanken Luthers eine neue Welt und eine neue Kirche entstehen
lassen oder doch zumindest sicht- und erlebbare Veränderungen als
Konsequenz aus Luthers Lehren, und zwar schnell, notfalls auch mit
Gewalt.
So berufen sich zwar alle auf Luther, aber legen ihn und die Bi-
bel nach eigenem Gutdünken aus und fühlen sich dazu gerade durch
Luther legitimiert, denn hatte er nicht das Priestertum aller Gläubi-
gen gelehrt? Und wenn jeder ein vom Heiligen Geist geleiteter Pries-
ter ist,.wer kann behaupten, was ihm der Geist eingegeben habe, sei
falsch?
Da ist zum Beispiel der Reichsritter Franz von Sickingen, von An-
fang an ein glühender Anhänger Luthers. Ihm gefällt dessen Angriff
gegen den Papst, denn Sickingen hat selbst ein Problem mit Auto-
ritäten.'Aber vor allem hat er ein Problem mit dem Niedergang sei-
nes einst so stolzen Reichsritterstands. Ritter werden nicht mehr so
gebraucht, seit mit Artillerie und Landsknechtsheeren erfolgreicher
Krieg geführt wird. Der Niedergang schlägt sich direkt in den Finan-
zen der Ritter nieder und indirekt in sinkendem politischen Einfluss.
Um dem Bedeutungsverlust entgegenzuwirken, wird Sickingen, zu-
sammen mit anderen, ab dem Jahr 1515 zum Raubritter, nimmt
Kaufleute als Geiseln, zündet Dörfer an, belagert Städte und baut
sich mit der Beute eine Streitmacht auf, gegen die kaum ein Fürst
zu kämpfen wagt.
120Als dann Jahre später über Luther und dessen Anhänger die Reichs-
acht verhängt wird, bietet er diesen seinen Schutz an. Luther ver-
zichtet darauf, aber andere Reformatoren wie etwa Martin Bucer oder
Caspar Aquila finden Unterschlupf auf Sickingens Ebernburg südlich
von Bingen. Auch Ulrich von Hütten, damals einer der bekanntesten
Dichter des Reiches, verfasst auf dieser Burg Schmähgedichte gegen
den Papst, den Klerus und das Mönchtum.
lm Lauf der Zeit entsteht auf der Burg eine evangelische Gemein-
de, welche die tägliche Messe durch einen sonntäglichen Gottesdienst
ersetzt. Die Ebernburg wurde deswegen als »Herberge der Gerechtig-
keit« bezeichnet.
Im Jahr 1522 greift Sickingen den Trierer Erzbischof Richard von
Greiffenklau an, um sich dessen Besitz anzueignen, verkündet aber
offiziell, es gehe ihm um das Evangelium, daher habe der Bischof sich
.von seinem kirchlichen Besitz zu trennen. Doch Greiffenklau ist vor-
bereitet, hält Sickingens 7 000 Fußknechten stand, zwingt sie sogar
zum Rückzug auf die Burg Nanstein bei Landstuhl, nimmt die Burg
unter schweren Beschuss und belagert sie, bis der bei den Gefechten
schwer verletzte Sickingen aufgibt. Am 7. Mai 1523 erliegt er seinen
Verletzungen. ~
Die ehemals von Sickingen bedrohten Städte, Bischöfe und Fürs-
ten holen nun zum großen Gegenschlag aus gegen die verbliebenen
Ritter, darunter auch gegen den berühmt-berüchtigten Götz von Ber-
lichingen. Davon erholt sich die Reichsritterschaft nicht mehr und
verschwindet als politische Kraft.
Luther sah diese Verquickung des Evangeliums mit Gewalt, Raub
und persönlichen Interessen mit wachsendem Unbehagen und ge-
wann zunehmend die Überzeugung, dass hier der Teufel persönlich
am Werk sei, um der Reformation zu schaden. Er reagiert darauf
in der ihm eigenen Weise, indem er wieder ein Problem gründlich
durchdenkt und dann daraus eine Schrift verfasst: Von weltlicher Ob-
rigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. . ' _
Luther entfaltet darin die später sogenannte Zwei-Reiche-Lehre,
die besagt: Glaubensfragen unterstehen dem Regiment Gottes. Kei-
ne Macht der Welt darf den Christen in Glaubensfragen Vorschriften
machen. Hier haben sich Kaiser, Könige und Fürsten gefälligst her-
auszuhalten.
Andererseits lebt auch ein Christ in der Welt unter dem Regiment
von Kaisern, Königen und Fürsten. Deren weltliche Ordnung stammt
ebenso von Gott wie die geistliche und ist darum im Kern auch gut,
bewahrt sie doch die Welt vor Chaos und vor dem Faustrecht. Daher
verbiete es sich einem Christen, gewaltsam gegen die weltliche Ob-
rigkeit vorzugehen.
Beide Sphären sind für Luther getrennt, und darum dürfe man sie
auch nicht vermischen. Die Heilige Schrift lehre nicht, wie man Ehen
schließen, Häuser bauen, Kriege führen oder Schifffahrt treiben soll,
dazu genüge die weltliche Vernunft, die natürlich schlechter sei als
die göttliche, aber für irdische Belange ausreichend. Daher dürfe man
das von göttlicher Weisheit regierte Reich nicht auf Erden erwarten,
sondern erst im Jenseits. Hier im Diesseits jedoch habe man sich mit
der Unvollkommenheit der Welt und dem Platz, der einem von Gott
zugewiesen wurde, abzufinden.
Immer stärker schält sich nun heraus, dass dieser Luther kein
Revolutionär ist, sondern tatsächlich ››nur« ein Reformator. ››Refor-
matio« - das heißt nicht Umsturz, sondern zurück zu den Ursprün-
gen, Wiederherstellung der guten alten Ordnung. Und Luther betont
auch immer wieder, er habe nichts Neues hervorgebracht, sondern
im Grunde nur das verschüttete Uranliegen Christi wieder freigelegt.
Im Lauf der Geschichte führte diese Zwei-Reiche-Lehre zu ver-
hängnisvollen Folgen, denn es entwickelt sich daraus der autoritäre
deutsche Obrigkeitsstaat mit obrigkeitshörigen Untertanen. Das hat
Luther natürlich nicht voraussehen können. Ihm war es damals nicht
um die zukünftigen Folgen seiner Lehren gegangen, sondern um eine
Befriedung seiner Gegenwart, vor allem um die Vermeidung von Ge-
walt und Blutvergießen.
Wie berechtigt diese Sorge war, sollte sich schon bald herausstel-
122 len, als die Bauern Luthers »Freiheit eines Christenmenschen« gar \ 1
zu wörtlich verstanden und in einen Krieg gegen die Obrigkeit zogen,
den sie nicht gewinnen konnten. Ihr Anführer hieß Thomas Münt-
zer, jener ehemalige Anhänger Martin Luthers, der diesen als »Mast-
schwein« verunglimpft und den Luther als »Erzteufel in Schafsklei-
dern« geschmäht hatte.
»Kein armer Tier auf Erd' man find', muss arbeiten bei Regen, Wind
und gewinnen, was all' Welt verschlingt, des Haferstrohs man mir
kaum gönnt« 44 - so dichtete 1525 der Nürnberger Schumacher, Meis-
tersinger und Dramatiker Hans Sachs über den Bauernstand. Auf die-
se Klage über das Los der Bauern antwortet höhnisch die Obrigkeit:
››Esel, du bist dazu geborn, dass du sollst bauen Weiz' und Korn
und doch essen Distel, Dorn. Darum geh hin ohn alles Morrn. Willst
nicht mit Lieb, so musst mit Zorn, denn ich sitz gewaltig auf dir vorn
und schlag dich tapfer um die Ohrn, stupf dich dazu mit scharfem
Sporn. Du bist mein eigen und geschworn, du musst tanzen nach
meinem Horn.<<45
Hans Sachs, auch ein Anhänger Luthers, zeigt hier Empathie für
die Bauern und fragt zwischen den Zeilen: Dieses Unrecht, das den
leibeigenen Bauern geschieht, diese Ausbeutung, diese Rechtlosigkeit
gegenüber ihren Ausbeutern - das soll von Gott gedeckt sein?
Luther weiß durchaus, wie die Bauern von Abgaben (auch an die
Kirche), Fronarbeit und Schulden geplagt waren. Und er sagt den
Fürsten und Fürstbischöfen: »Man wird nicht, man kann nicht, man
will nicht eure Tyrannei und Mutwillen auf die Dauer leiden. Gott
will's nicht länger haben.« Er ermahnt also die Fürsten und Bischö-
fe, ihre Bauern besser zu behandeln. Er ermahnt aber auch die Bau-
ern, nicht gewaltsam aufzubegehren. An deren Leibeigenschaft sieht
er nichts Verwerfliches. So ist nun mal die weltliche Ordnung, und
wenn Gott eine andere Ordnung wollte, würde er sie schon ändern.
Sie wissen inzwischen, dass die »Pfaffen« und Fürsten ein aus-
schweifendes Leben auf Kosten der Bauern führen. Sie sehen, wie die
Kirchen und Klöster durch Stiftungen, Erbschaften, Spenden immer
reicher werden und ihnen trotzdem immer mehr von dem abnehmenwas sie durch ihrer Hände Arbeit erwirtschaften. Auch alte, seit Jahr-
hunderten bestehende Rechte und ungeschriebene Gesetze zu ihren
Gunsten - Weide-, Holzschlag-, Fischerei-, Jagdrechtel- wurden von
ihren Grundherren beschnitten oder abgeschafft, sodass immer mehr
Bauern verarmten und in bitterster Not lebten. W
Sie haben auch schon gehört, dass man in Rom durch Vettern-
wirtschaft und Bestechung in die höchsten Ämter kommt\und in Saus
und Braus lebt. Daher wurden sie hellhörig, als Luther gegen Rom
aufbegehrte. Sie lasen oder ließen sich vorlesen, was Luther über die
»Freiheit eines Christenmenschen« schrieb. Und sie suchten in der
Luther'schen Bibelübersetzung nach Rechtfertigungen für die An-
sprüche von Adel und Klerus, fanden aber nichts. Ganz in Luthers
Sinn folgerten sie daher: Wennivon der Einschränkung ihrer Rechte
durch die Grundherren' nichts in der Bibel steht, kann es sich auch
nicht um göttliches Recht handeln. V ' G
Also begehren sie nun auf. In Memmingen wollen sie nicht mehr
darauf warten, dass Gott oder die Obrigkeit das Los der Bauern ver-
bessern und sie erst im Jenseits für ihr Stillhalten belohnt werden.
Stattdessen kämpfen sie - in der Überzeugung, dass Gott mit ihnen
sei - für eine Verbesserung ihres Lebens im Diesseits.
Anfang des Jahres 1525 schreiben sie ihre Forderungen in zwölf
Artikel: Der ››Zehnte<<, eine Abgabe an die Kirche, soll abgeschafft
werden, ebenso der sogenannte Todfall, eine Art Erbschaftssteuer
beim Ableben des I-lofpächters, und auch die=Leibeigenschaft. Die
ausufernden Frondienste sollen vermindert werden. Die alten Jagd-,
Fischerei- und Weiderechte fordern sie zurück.
Die zwölf Artikel, im März 1525 gedruckt, verbreiten sich genauso
schnell wie einst Luthers Schriften und erreichen innerhalb von zwei
Monaten eine Auflage von 25 000. Auch Luther kennt sie und kommt
um eine Stellungnahme nicht herum. Er antwortet mit der Schrift
Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauemschaft, in
Schwaben.
Obwohl er mit einigen Forderungen sympathisiert, verhält er sich
anderen Forderungen gegenüber ablehnend. Er bittet die Bauern,
sich mit ihren Obrigkeiten gütlich zu einigen und auf Gewalt zu ver-
zichten. Tun die aber nicht. Im Gegenteil. Überall im Land stürmen
sie Klöster und Burgen, auch in Thüringen und Sachsen und, ganz in
Luthers Nähe, im Umkreis von Mansfeld.
Als er selber durch das thüringische Aufstandsgebiet reist, um die
Bauern zur Mäßigung aufzurufen, macht er eine neue, für ihn unge-
wohnte und darum einschneidende Erfahrung: Statt ihm mit Respekt
und Ehrerbietung zu begegnen, wird er mit Klingelgeläut verhöhnt,
niedergeschrien und verlacht.
In Orlamünde und in der Saalegegend trifft er auf seinen alten
Rivalen Karlstadt, den er doch aus Wittenberg gejagt und als erledigt
betrachtet hatte, dem aber jetzt die Leute nachlaufen und aufmerk-
samer zuhören als ihm, Luther. Und Thomas Müntzer, der ebenfalls
schon mehrfach aus verschiedenen Gemeinden verjagt worden war,
ist auch wieder da und agiert einfach in anderen Gegenden weiter, in
Eisenach, im Mansfelder Land und in der freien Reichsstadt Mühl-
hausen. Dort versucht er seine Vorstellungen einer gerechten Gesell-
schaftsordnung umzusetzen: Klöster werden aufgelöst, Räume für
Obdachlose geschaffen, eine Armenspeisung eingerichtet. Müntzer,
seiner Zeit weit voraus, fordert die ›>Gemeinschaft aller Güter die
gleiche Verpflichtung aller zur Arbeit und die Abschaffung aller Ob-
richkeit«.
Während Luther von den Bauern verspottet wird, folgen sie dem
»Satan Müntzer«, der nicht nur zu gewaltsamen Aufständen aufruft,
sondern auch eine eigene Theologie vertritt, die, wie Luther meint,
seine Lehre verfälscht. Zwar setzt auch Müntzer auf die Schrift,
kommt aber zu einer anderen Auslegung. Die Buchweisheiten der
Schriftgelehrten verachtet er, stattdessen setzt er auf Visionen und
unmittelbare göttliche Eingebungen. Und mit biblischen Zitaten be-
gründet er auch das Recht auf ein gewaltsames Vorgehen gegen die
gottlosen Fürsten und Bischöfe.
126In dieser Situation tut Luther etwas schwer Verständliches: Er
schreibt einen Text, in dem er sich nicht nur auf die Seite der Fürsten
schlägt, sondern diese zu gnadenlosem Vorgehen gegen die Aufstän-
dischen anstachelt. In seiner berühmt-berüchtigten Schrift Wider die
räuberíschen und mörderísc/zen Rotten der Bauern sagt er den Fürs-
ten, sie sollen die Bauern >›zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich
und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen
muss.«
Das hätte er den Fürsten gar nicht sagen müssen. Sie hätten das
auch ohne Luther getan. Haben es schon getan. Und hier wäre es an
Luther gewesen, die Fürsten zur Mäßigung aufzurufen. Stattdessen
konnten sie auf das Einverständnis Luthers setzen, und auch auf das
von Melanchthon. Der war am 18. Mai 1525 von Kurfürst Ludwig V.
von der Pfalz gefragt worden, was vom Aufruhr der Bauern zu hal-
ten sei. Und Melanchthon hatte geantwortet, die Obrigkeit tue recht,
wenn sie gegen das »wilde ungezogene Bauernvolk« vorgehe. Außer-
dem sei der Zehnte rechtens, die Leibeigenschaft und Zinsen nicht
frevelhaft. ››Die Obrigkeit kann die Strafe setzen nach der Not im Lan-
de und die Bauern haben nicht das Recht, der Herrschaft ein Gesetz
zu diktieren. Für solch ein ungezogenes, mutwilliges und blutgieri-
ges Volk nennt Gott das Schwert«
Nur vier Tage später zog der Kurfürst mit 4 500 Landsknechten,
1 800 Reitern und mehreren Geschützen von Heidelberg bis nach
Bruchsal gegen die Bauern und rang sie blutig nieder. Aber das war
fast schon ein Nachhutgefecht, denn die größte Niederlage war den
Bauern schon eine Woche zuvor in der Schlacht bei Frankenhausen
zugefügt worden.
In ihr wurden die Aufständischen unter Thomas Müntzer durch ein
Fürstenheer vollständig besiegt. Müntzer selbst wurde gefangen ge-
nommen und am 27. Mai in Mühlhausen enthauptet, nachdem er
auf die Festung Heldrungen gebracht und gefoltert worden war. Die
überlebenden Bauern wurden danach vom geistlichen und weltlichen
Adel mit maßlos überzogenen Schadenersatzforderungen und Stra-
fen verfolgt. Ungerührt kommentiert Luther: »Wer den Müntzer ge-
sehen hat, der mag sagen, er habe den Teufel leibhaftig gesehen« Und
Melanchthon: »Dieses Ende Thomas Müntzers ist zu bedenken, damit
jeder daraus lerne, wie hart Gott Ungehorsam und Aufruhr gegen die
Obrigkeit straft.<<
Danach war für sehr lange Zeit wieder Ruhe im Lande - so wie
Luther es gewollt hat.
Die Bauern ihrer Obrigkeit wieder untertan, Luthers schlimmster
Feind, der »Teufel Müntzer«, nicht nur besiegt, sondern auch hinge-
richtet, die göttliche Ordnung also wiederhergestellt - so konnten
sich die Wittenberger Reformatoren als Sieger fühlen. De facto waren
sie das auch. '
Jedoch: Beim gemeinen Volk hatte Luther an Ansehen verloren.
Er war nun nicht mehr die von allen anerkannte unumschränkte Au-
torität, als die er sich selber gesehen hatte ~ und ist es auch nie mehr
geworden.
Dass er nach dem Bauernkrieg an der Seite der weltlichen und
geistlichen Obrigkeit als Sieger stand, hat der gerade entstandenen
neuen Bewegung den revolutionären, vorwärtsdrängenden Geist ge-
nommen. Die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse wurden
damit für lange Zeit zementiert mit dem Glaubenssatz »Seid untertan
der Obrigkeit<<. Es dauerte bis 1789, also mehr als zwei Jahrhunderte,
bis sich in Frankreich die ausgebeuteten, entrechteten Massen wieder
gegen ihre Ausbeuter erhoben und die Herrschaft der Kirche und des
Adels beendeten. In Deutschland hat es noch länger gedauert, und
einer der Gründe dafür ist bei Martin Luther zu finden. Der hieß Auf-
ruhr nur gut, wenn er selbst dessen Urheber war, und auch nur, wenn
es sich um geistigen oder geistlichen Aufruhr handelte, nicht aber
um gewaltsamen. Kam der Aufruhr von anderen, gar gewaltsam, sah
er den Teufel am Werk.
Immer sah er den Teufel, Hexen, Dämonen am Werk, wenn es
nicht nach seinem Kopf ging. Tief im Herzen und auch im Geist war
128er daher weiter dem mittelalterlichen Denken verhaftet geblieben.
Dass ihn die Entdeckung Amerikas nicht sonderlich interessierte,
wurde schon gesagt. Dass er Kopernikus durch die Bibel widerlegt
sah, wurde ebenfalls schon erwähnt. Aber es gibt nochmehr Äuße-
rungen, Verhaltensweisen, Gedanken, die ihn als Mann des Mittelal-
ters ausweisen. So kam es, dass etliche derer, die anfangs von Luther
begeistert waren, weil sie ihn für einen Geistesverwandten und Ver-
bündeten hielten, sich später enttäuscht von ihm abwandten.
Einer der Prominentesten unter den von Luther Enttäuschten
ist der Humanist Erasmus von Rotterdam. Der dachte anfangs auch,
dass in Luther ein moderner Mensch stecke, ein Humanist, der das
Alte abschütteln wolle, einer, der davon überzeugt sei, dass die hu-
manistische Bildung den Menschen befähige, die in ihm angelegten
Möglichkeiten optimal zu entfalten und seine wahre Bestimmung zu
erkennen. Und er dachte, dass Luther ebenfalls von der in der An-
tike herrschenden Geistesfreiheit angesteckt sei und gelernt habe,
den kontroversen Streit um die Wahrheit als etwas Normales, ja Er-
wünschtes, den Erkenntnisfortschritt Beförderndes zu betrachten.
Und er dachte, in Luther einem neuzeitlichen Skeptiker zu begegnen,
der auch zur Skepsis gegenüber seiner eigenen Lehre imstande und
daher bereit sei, sie jederzeit auf den Prüfstand zu stellen.
Aber all das war Luther nicht. Er war kein Mensch des Mittelalters
mehr, aber ein Mensch der Neuzeit war er auch nicht. Er stand quer
zu seiner Zeit. Dass es sich so verhält, lernte Erasmus, als er mit Luther über die
Willensfreiheit stritt. Luther hatte in einer seiner Disputationen be-
stritten, dass der Mensch über einen freien Willen verfüge. Diese Auf-
fassung folgte logisch aus seiner Gewissheit, dass allein Gottes Gnade
dem Menschen das Heil ermögliche und nicht dessen Tun. _
Für Erasmus mit seiner humanistischen Hochschätzung der
menschlichen Möglichkeiten war das eine Provokation. Deshalb ver-'
öffentlichte er 1524 die Schrift De líbero arbítrío ›>Vom freien Wil-
len<<, worin er zu begründen versuchte, warum der Mensch eben dochüber einen freien Willen verfüge. Und ganz vorsichtig gegen Luthergewandt schrieb er, dass nicht alles, was in der Bibel steht, so eindeutig sei, dass man felsenfeste Urteile auf sie gründen könne. Dies gelteauch und besonders für die Frage des freien Willens. Diese sei allein mit der Schrift nicht eindeutig zu klären.
Dem widersprach Luther 1525 in seiner Schrift De servo arbitrío,