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LUTHER DEUTSCH 174-189

2017. december 31. 08:49 - RózsaSá

für dieselbst Luther die sofortige Verbrennung des Ketzers auf dem

Scheiterhaufen .gefordert hätte. Der Ketzer behauptet, dass kein

Schöpfergott über die Welt regiere, dieser Gott gar nicht existiere,

die Erde ein zufällig, von selbst entstandenes Gebilde sei, das nicht

im Zentrum des Universums stehe, der Mensch durch den Tod mit

seinem Körper ausgelöscht werde, dem keine unsterbliche Seele ent-

weiche. Nur die Materie, aus der er besteht, wandle sich und bleibe ,

ewig und unzerstörbar bestehen. Die Liebe zwischen den Menschen

sei nichts weiter als eine List der Natur, mit der diese den Menschen

dazu bringe, sich fortzupflanzen. Überhaupt bestehe das Grundprin-

zip des ganzen Kosmos darin, dass sich dauernd Atome mit Atomen

verbinden und wieder lösen und dadurch aus sich heraus die Weltx

und die ganze Vielfalt der Erscheinungen der Natur hervorbringen.

Die Religion aber sei nichts als Aberglaube. Es gebe weder Himmel

noch Hölle, auch keine Erbsünde und keine Erlösung.

In diesem Text ist sie da, die Neuzeit, viel zu früh, wie es scheint,

denn bis sich das darin enthaltene atheistisch-naturwissenschaftliche

Weltbild durchsetzt, vergehen noch viele Jahrhunderte. Wer aber hat

das geschrieben, und warum hat die Kirche nicht zuvorderst den Ur-

heber dieser Dichtung De rerum natura (Von der Natur der Dinge)

verfolgt, statt Luther? Die verblüffende Antwort lautet: Ihr Verfasser konnte nicht me _ r

verfolgt werden, weil er schon sehr lange tot war. Lukrez heißt er, ein

römischer Dichter und Philosoph war er, und geschrieben hatt; er

diesen Text im ersten Jahrhundert vor Christus. Lange war der fext

verschollen. Aber im Jahr 1417 wurde er wiederentdeckt. und so gr

verbreitet, wenn auch im Geheimen - von Klerıkern, Mannern er

Kirche, aber auch von den Humanisten. . Poggio Bracciolini heißt der Entdecker. Er ließ den Text heim ic

nachdrucken Andere druckten ebenfalls nach und verbreiteten ihn

geheim weiter. Als im Jahr  h61fi2ıUSk21m› W215 fh' heimliälzl Ve;

breitet worden war, schritt die Kirche ein und ließ Jeden Nach riâc

verbieten. Aber da kursierten längst zahlreiche Drucke und wur en

heimlich weitergereicht.17 Der Lukrez'sche 'Atheismus inspirierte und infizierte .seit 1:

zahlreiche Gelehrte in Europa und half mindestens so viel wie Lut ers

Theologie, der Neuzeit und Aufklärung den Weg ZU befeltell Mont“

gne (1533-1592) hatte das Werk gelesen, Shäkeäpeäfe (1564-1616)

kannte es und schmuggelte in »Romeo und Julia« ein Gespann von

kleinen Atomen ein, das über die Nasen von Schlafenden fahrt, Mo i-

ère (1622-1673) übersetzte es ins Französische.

Auch wenn so etwas nur von wenigen l-lochgebildeten irn Stillen

Kämmerlein gelesen und nur heimlich daruber diskutiert wird, kann

dennoch nicht ausbleiben, dass etwas davon nach außen diffundiert,

in andere Köpfe dringt, und sei es nur unbewusst, und sein Werk176 verrichtet, Zweifel sät, Verunsicherung erzeugt, das Bestehende und

scheinbar felsenfest Unverrückbare einem allmählichen Prozess der

Erosion und Zersetzung unterwirft ~ zusätzlich zu dem, was durch

Luther für allgemeine Verunsicherung sorgte.

Das Zeitalter des skeptischen Denkens hatte begonnen, des sich

Vorwärtstastens durch Versuch und Irrtum - ein schmerzlicher Pro-

zess für Völker, die gewohnt waren, nicht denken zu müssen, da sie ja

ihren Glauben hatten, der zugleich Wissen war.

Schon die Existenz zweier christlicher Wahrheiten machte Fürs-

ten, Königen, Geistlichen, Gebildeten, aber auch Handwerkern und

Bauern schwer zu schaffen. Viele hielten es tatsächlich für verrückt,

dass da zwei einander widersprechende ››Wahrheiten« nebeneinander

existierten. Es konnte doch nur eine wahr sein! Schlimmstenfalls gar

keine. Aber doch nicht zwei gleichzeitig. Das menschliche Bedürfnis nach Gewissheiten aber ist groß. Man

will in Sicherheit leben, sich auf das, was gelehrt wurde und wird,

verlassen können, und wasschon immer gültig war und ist, sollte

auch künftig gültig bleiben. In dem Maß, in dem dieses Bedürfnis

enttäuscht wird, wächst die nostalgische Sehnsucht nach alten Ge-

wissheiten und die Bereitschaft, zu diesen zurückzukehren. Im selben

Maß wächst auf der Gegenseite das Bedürfnis, die alten Sicherheiten

durch neue zu ersetzen, den alten, als Irrtum erkannten Gewisshei-

ten die eigenen neuen, nun gültigen Gewissheiten entgegenzusetzen.

Die Folge ist, dass ein tiefer Riss durch die Gesellschaft geht. Und das

Ergebnis ist nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Verunsicherung.

Golo Mann nennt die Reformation ein ››Grundereignis« der deut-

schen Geschichte, sie habe das Land »glatt in zwei Hälften gespal-

ten«, eine Spaltung, die bis ins postchristliche Heute nachwirkt. Eine

Spaltung, unter der so viele litten, dass es zunächst sehr nahelag,

eine Entscheidung herbeizuführen, um die Spaltung zu überwinden

und zu den alten Gewissheiten zurückzukehren oder sie endgültig zu

erledigen. „

176 Wie führt man eine Entscheidung herbei, wenn das ewige Disputieren

zu keinem Ergebnis führt? Mit Macht und mit Gewalt. Das ist stets die

große Versuchung. In diese Versuchung schlitterte Europa hinein, als am 23. Mai

1618, ein dreiviertel Jahrhundert nach Luthers Tod, drei Männer aus

einem Fenster der Prager Burg in den Burggraben geworfen wurden.

Eigentlich hätte nur einer aus dem Fenster fliegen sollen, der böhmi-

sche König Ferdinand von Steiermark. Aber der war gerade nicht

da, als Aufständische in die Burg eindrangen und dann eben die drei

Männer ergriffen, die zufällig da waren und dem König im Rang am

nächsten standen. Ursache des Aufstandes war die Verletzung einer Zusage. Dem

überwiegend protestantischen Teil Böhmens war 1609 in einem Ma-

jestätsbrief von Kaiser Rudolf II. das Recht auf freie Religionsaus-

übung zugestanden worden. Dann aber bemühte sich die böhmische

Obrigkeit um eine Rekatholisierung des Landeš.¬Die Protestanten sa-

hen ihre Rechte zunehmend beschnitten, immer häufiger kam es zu

Unruhen, und diese kulminierten eines Tages in jenem berühmten

Prager Fenstersturz, den die drei Männer aber wie durch ein Wun-

der überlebten. Tatsächlich behaupteten die Katholiken hinterher, die

Jungfrau Maria höchstselbst habe die drei vor dem 'lbde bewahrt. Die

Protestanten konterten mit der Legende, die drei seien in einen wei-

chen, dampfenden Misthaufen gefallen. 4. Ob es nun ,so oder anders gewesen war - dieser Fenstersturz mar-

kiert den Beginn eines 30 Jahre währenden Krieges, bei dem es an-

fangs noch um Glaubensfragen ging, im weiteren Verlauf aber immer

,mehr um Hëgemonie, Macht, Interessen, Pfründe, Land, Geld. Ge-

bündelt wurden all diese Kónflikte in einen Kampf »katholisch gegen

evangelisch«, »Kaiser und Katholische Liga« gegen »Pfotestantlsche

Union«. Der Kampf eskalierte zu einem brutalen Gemetzel, einem ge-

genseitigen sich-Abschlachten, bei dem religiöse Fragen immer mehr

in den Hintergrund traten und ein normaler Krieg um Macht und

Territorien geführt wurde. 178Mord, Raub, Brandschatzung, Vergewaltigung, Hunger und die

Pest plagten drei Jahrzehnte lang Soldaten und die Zivilbevölkerung.

Ganze Landstriche wurden entvölkert. In Teilen Süddeutschlands

überlebte nur ein Drittel der Bevölkerung. Erst als alle Ressourcen

erschöpft, alle Teilnehmer so ermattet waren vom Kämpfen, dass die

Kräfte für eine Fortsetzung des Schlachtens nicht mehr reichten, wa-

ren die Kriegsparteien bereit, zu verhandeln, einen Kompromiss zu

schließen und den Frieden herbeizuführen.

Dieser »Westfälische Friede<<, der in Münster und Osnabrück be-

schlossen wurde, hat neben territorialen und verfassungsrechtlichen

Veränderungen vor allem eine neuzeitliche Errungenschaft hervor-

gebracht, die man zwar auch schon dreißig Jahre früher ohne Blut-

vergießen hätte haben können, aber nun dennoch, besonders bei den

Protestanten, feierte: die vollkommene Gleichstellung beider Konfes-

sionen. Beide hatten das gleiche Recht auf freie Religionsausübung,

und auf den Reichstagen durfte in Religionssachen keine Konfession

von der anderen überstimmtcwerden. Es dauerte fast ein Jahrhundert

bis sich das verwüstete, ausgeblutete Land von diesem Krieg wieder

erholt hatte.

XVII. Luther - wer war er eigentlich?  '“

Wenn sich die Welt am 31. Oktober 2017 dieses altdeutschen Bet-

telmönchs namens Martin Luther erinnert, dann kann in der Flut

der Feiern und Reden das erstaunlichste Phänomen der ganzen Ge-

schichte leicht untergehen: dass dieser Mann im Grunde genommen

nur vier Jahre gebraucht hatte, um die Weltgeschichte so gravierend

zu verändern, dass wir noch ein halbes Jahrtausend später eine so

große Sache daraus machen. Eine Sache die er allein durch sein Wort

zustande gebracht hat, vor allem durchs geschriebene.

Dieses Zutexten der Welt hat Luther am 31. Oktober 1517 mit den

95 Thesen begonnen. Ein Mensch von heute, der am liebsten Thriller

liest und sich US-Serien wie Homelandl oder Breaking Bad reinzieht,

langweilt sich zu Tode, wenn er die Thesen der Reihe nach liest. Aber

die damalige Welt war so elektrisiert davon, dass wir noch heute da-

wn sprechen, während wir"davon ausgehen können, dass in 500 Jah-

ren niemand mehr von Breaking Bad sprechen wird, während die 95

Thesen zumindest in den Geschichflsbüchërn und Lexika überdauert

haben dürften. Daher sollte man den Text- am besten zwischen zwei

Staffeln einer US~Serie - doch wenigstens einmal gelesen haben.

r Nach den 95 Thesen veröffentlichte Luther in rascher Folge den

Sermon von Ablass und Gnade, je eine Schrift über die Sakramen-

te, die Buße, die Taufe, das Abendmahl, das Papsttum und das Neue

,Testament -"iind da schreiben wir erst das Jahr 1520. Im selben Jahr

erscheinen seine drei Hauptschriften An den christlichen Adel deut-

scher Nation, Von der babylorıischen Gefangenschaft der Kirche und

Vcm der Freiheit eines Christenmenschen. 1521 schreibt er Wider die

Miinchsgelübde und den Trakíat vom Missbrauch der Messe.

Damit hat er innerhalb von vier Jahren die Legitimität des Papst-

nrııtes bestritten, den Papst als Antichrist beschrieben, das Priester-

180 amt ab- und die weltlichen Berufe aufgewertet, Mönche und Nonnen

für überflüssig erklärt, das Priestertum aller Gläubigen begründet,

den Laien das Recht auf Mitbestimmung in der Kirche zugesprochen,

das Abendmahl neu interpretiert, die Zahl der Sakramente von sieben

auf zwei reduziert, die Heiligen- und Reliquienverehrung abgeschafft

und den ganzen christlichen Glauben auf drei Säulen gestellt: sola

fide, sola gratia, sola scriptura - allein der Glaube, allein die Gnade,

allein die Schrift. In diesen vier Jahren hat er außerdem die päpstliche Bann-

Androhungsbulle öffentlich verbrannt, sich in Worms der Aufforde-

rung zum Widerruf verweigert und auf der Wartburg das Neue Tes-

tament aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt. Somit war am

Ende des Jahres 1521 alles schon da, was die Reformation ausgemacht

und zur Entstehung der evangelischen und reformierten Kirchen ge-

führt hat. Das Einzige, was noch fehlte, war seine Selbstentbindung

von den Mönchsgelübden und demZölibat. Das hat er vier Jahre spä-

ter durch seine Heirat mit Katharina nachgeholt. Eine Nebenwirkung

davon war die Entstehung einer neuen Institution: das evangelische

Pfarrhaus. Wie gewaltig die Leistung Luthers gewesen ist, und wie folgen-

schwer, das ist den Deutschen und der Welt erst im Lauf der Zeit auf-

gegangen, umso deutlicher, je größer der zeitliche Abstand wurde.

Natürlich haben auch Luthers Zeitgenossen schon gesehen, dass hier

ein ganz besonderer Geist am Werk ist, aber wie tiefgreifend die Fol-

gen seines Wirkens sein würden, konnten sie weder sehen noch ah-

nen. Auch Luther selbst hätte wohl sehr gestau-nt, wenn ihm damals

erzählt worden wäre, wie sehr der Fortgang der Welt- und Geistesge-

schichte in den nächsten 500 Jahren von dem beeinflusst wurde, was

er in jenen kurzen vier Jahren gedacht und getan hatte - zumal er

doch das baldige Weltende erwartet und überhaupt nicht damit ge-

rechnet hatte, dass man ein halbes Jahrtausend später noch über ihn

reden würde. Stattdessen breiteten sich seine Lehren über die ganze

Welt aus. Der Lutherische Weltbund zählt heute 136 Mitgliedskirchen

in 76 Ländern, denen über 61,7 Milliorien der weltweit 65,4 Millionen

Lutheraner angehöreh“. Sie und die vielen reformierten Kirchen, die

nicht zu diesem Weltbund gehören, feiern am 31. Oktober 2017 die

Reformation. Schon früh, noch zu seinen Lebzeiten, wurde Luther auf eine Wei-

se verklärt, die den Blick auf seine Größe eher verstellte als erhell-

te, und die er selbst auch nie gewollt hätte. So wehrte er sich gegen

das ab 1522 geläufige Wort ››1utherisch<<: ››Zum ersten bitte ieh, man

wolle meines Namens schweigen und sich nicht lutherisch sondern

Christ nennen.  Ist doch die Lehre nicht mein, ebenso bin ich auch

für niemand gekreuzigt,  Wie käme denn ich armer, stinkender

Madensack dazu, dass man die Kinder Christi mit meinem heillosen

Namen benennen sollte? Nicht so, liebe Freunde, lasst uns die Par-

teinamen tilgen und uns Christen nennen, nach dem, dessen Lehre

wir haben.«89 Das hat nichts genützt. Im Gegenteil: Nach seinem Tod nahm die

Lutherverehrung religiöse›Züge an. Man sah in ihm den wiederge-

kehrtgn Elia oder den »Engel mit einem ewigen Evangelium<<. Es gibt

¬I-ilolzschnitte von ihm, die ihn mit Heiligenschein zeigen.9° Auf der

Wartburg malten die geschäftstüchtigen Burgherren in der Luther-

stube den Fleck an die Wand, der seit Luthers angeblichem Tinten-

fasswurf auf den Teufel geblieben war. Die Pilger bestaunten ihn

ehrfürchtig, betatschten ihn, brachen gar ein Stück Putz heraus, bra-

chen auch ein Stück Holz aus Luthers Schreibtisch und nahmen bei-

des als wundertätige Reliquie mit nach Hause. Von Zeit zu Zeit wurde

der Tintenfleck erneuert. Allerdings, so protestantisch war man dann

doíaf man verehrte zwar »den Heros Luther, aber man erwartete von

'ihm keine Fürsprache bei Gott, keine Wunder am Grabe und erwähn-

te ihn auch nicht als Fürsprecher in Gebeten<<.91

Dennoch war die Entwicklung Luthers zum Nationalheiligen

kaum aufzuhalten. Der Sockel, auf den er gestellt wurde, wuchs in

jedem Jahrhundert mehr in die Höhe und stand zuletzt so hoch über

den Menschen, dass der Mensch Luther allmählich unsichtbar wurde

184 und sich in eine Projektionsfläche verwandelte, auf der jeder sehen

konnte, was er zu sehen wünschte. Jede Generation malte sich ihr

eigenes Lutherbild, und schon Lucas Cranach hatte damit angefan-

gen. Unermüdlich hatte er Luther, je nach Bedarf, als Mönch, Junker

und Herkules und Professor porträtiert. ››Vor allem das Bild Luthers

im Professorentalar wurde massenhaft, ergänzt durch Bilder der Ehe-

frau und des Freundes Philipp Melanchthon, verbreitet und teilweise

bald in Kirchen links und rechts des Altars, stellenweise (wie in Wit-

tenberg) sogar über dem Altar aufgestellt bzw. aufgehängt. Kritische

Äußerungen Luthers über die Bilderflut, die von ihm durch die Werk-

statt Cranachs verbreitet wurde, sind übrigens im Unterschied zu der

kritischen Äußerung über die Nutzung seines Namens zur Bezeich-

nung einer Konfession nicht bekannt.<<92 So war es praktisch unver-

meidlich, dass sich die von Luther und Cranach selbst produzierte

Ikonografie im Lauf der Zeit verselbstständigte und schließlich für

alle möglichen Interessen vor den Karren gespannt wurde.

In dieser Hinsicht war danndas erste große Reformationsjubilä-

um noch das unschuldigste. Die Lutheraner hätten es beinahe ver-

gessen und mussten von der innerkonfessionellen Konkurrenz der

Calvinisten daran erinnert werden, dass sich am 31. Oktober 1617 der

Thesenanschlag zum hundertsten Mal jährt. Bis dahin war man es in

protestantischen Regionen eher gewohnt, des »Heiligen Martinus«

an dessen Geburts- oder Todestag zu gedenken statt der papierenen

Thesen von 1517. Der. Jubiläumsidee schlossen sich die Lutheraner

dann aber rasch und einigermaßen begeistert an. Man scharte sich

um den kämpferischen Luther, der sich gegen die >›Römlinge<< be-

hauptet hatte, und feierte in der Überzeugung, dass man zusammen-

stehen und angesichts der Erfolge der Gegenreformation sich weiter

gemeinsam gegen den Papst und seine Macht behaupten müsse.

Damals wurden die Protestanten von Rom und den» Katholiken

heftig angefeindet und aggressiv bedrängt. Der Augsburger Religi-

onsfrieden hatte keinen wirklichen Frieden gebracht. In Frankreich

wurden die Hugenotten - protestantische Calvinisten - von Anfang

an von der Staatsmacht verfolgt und schikaniert. In Paris und einigen

französischen Landesteilen kam es in der Nacht vom 23. zum 24. Au-

gust 1572 zur sogenannten Bartholomäusnacht, einem Massaker, bei

dem Tausende von ihnen auf Befehl der Königinmutter Katharina von

Medici ermordet wurden. Zahlreiche Hugenotten flohen anschlie-

ßend aus Frankreich in alle Himmelsrichtungen, auch nach Deutsch-

land, wo bis heute noch hugenottische Gemeinden existieren. Nie-

mand hätte damals gewagt, auf den Fortbestand des Protestantismus

in Europa zu wetten, auch beim hundertsten Jubiläum 1617 nicht,

und ein Jahr später ging es dann tatsächlich drei Jahrzehnte lang um

Leben und Tod, denn es begann der 30-jährige Krieg.

Es begann aber auch etwas gänzlich Neues, Folgenschweres: Drei

Jahre nach dem ersten großen Reformationsjubiläum, 1620, legte

ein Schiff namens Mayflower an der Nordatlantikküste in Amerika

  1. Dem Schiff entstiegen englische Puritaner, strenge Calvinisten.

Sie gründeten die Stadt Plymouth in Massachusetts. Schon vierzig

Jahre vor ihnen hatten Briten in Neufundland mit der Besiedlung

Nordamerikas begonnen. Aber nach der Ankunft der Mayflower 1620

und dei Besiedlung durch die später sogenannten Pilge„rvä?er folgte

eine Einwanderungswelle nach der anderen. Es kamen nich nur bri-

tische und holländische Calvinisten, sondern auch französische Hu-

genotten, Schweizer Zwinglianer und deutsche und skandinavische

Lutheraner - Amerika wurde protestantisch. Spanier und Portugie-

sen wanderten nach Mittel- und Südamerika aus. Dieser Kontinent

wurde römisch-katholisch.

Der konfessionelle Unterschied zwischen den beiden Kontinen-

ten/ist* eine der Hauptursachen dafür, dass sich beide kulturell, wirt-

schaftlich und politisch so unterschiedlich entwickelt haben. Wäre

es damals, im 17. Jahrhundert, umgekehrt gewesen, hätten Spanisch

und Portugiesisch sprechende Katholiken Nordamerika besiedelt und

protestantische Engländer, Deutsche und Skandinavier Südamerika,

gäbe es heute vielleicht so etwas wie die Vereinigten Staaten von Süd-

amerika mit einer scharf bewachten Nordgrenze, über die beständig

186arme Nordamerikaner in den Süden zu gelangen versuchen. Das ist

natürlich Spekulation, aber Tatsache bleibt, dass die konfessionell be-

dingten unterschiedlichen Sichtweisen auf Gott, die Menschen und

die Welt in den beiden Kontinenten im weiteren Verlauf sehr unter-

schiedliche Entwicklungen generierten.

Nicht nur Amerika, die ganze Welt sähe anders aus ohne das Er-

eignis der Reformation, denn aus ihr entwickelte sich später die west-

liche Dominanz über die Welt, über andere Völker, andere Kulturen

mit anderen Religionen. Daher sind auch diese bis heute von Ent-

V,w,icklu,ngen betroffen, zu deren Auslösern die Reformation gehörte.

Beim 200. Jubiläum im Jahr 1717 hatten sich die Protestanten

auch im alten Europa etabliert. Sie waren sich inzwischen ihrer Be-

deutung und sich selbst so gewiss, dass sie sich leisten konnten, was

sie am liebsten taten, tun mussten: streiten. Streit ist eine natür-

liche Folge der Tatsache, dass eben jene letzte Instanz und obers-

te Autorität fehlt, die entscheidet, was wahr sein soll. Streit um die

richtige Interpretation der Bibel, das wahre Gottesbild, das richtige

Lutherbild gehört daher zur Grundausstattung des Protestantismus.

Davon wiederum ist die natürliche Folge die große ››Artenvielfalt<<,

die der Protestantismus im Lauf der Jahrhunderte hervorgebracht

hat. Nicht nur die vielen Kirchen des Lutherischen Weltbunds bilden

diese Vielfalt ab, sondern noch zahlreiche, dem Bund nicht angehö-

rende Kirchen und Sekten, die sehr eigene Ansichten darüber haben,

was wahrhaft christlich und gottgefällig sei, sich aber mit den Luthe-

ranern immerhin darin einig sind, dass kein Papst über sie herrschen

solle.Um das Jahr 1717 schwanken die Lutherbilder zwischen den Po-

len der altprotestantischen Orthodoxie, des neu aufkommenden Pie-

tismus und der vorwärtsdrängenden Aufklärung. Die Orthodoxen

hatten Luthers prasselndes Feuer gezähmt und in ein solides, auf

Dauer angelegtes Paragrafen- und Lehrgebäude gesperrt, dem jegli-

cher Spirit fehlte. Die Aufklärer sahen in Luther einen der ihren und

blendeten aus, was dem widersprach.

Einen wichtigen Puls der Erneuerung steuerten die Pietisten bei.

Sie hielten wenig vom Streit um die reine Lehre, aber viel von prak-

tischem Chrisšentum und sozialem Engagement. Ihr berühmtester

Vertreter, der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke,

gründete 1698 in l-lalle ein Waisenhaus, das sich im Verlauf von 30

Jahren zu einem Dorf aus Schulen, Wohnungen, Werkstätten und

Gärten entwickelte, in dem bis zu 2500 Menschen lebten, lernten

und arbeiteten. Daraus entstanden die Franckeschen Stiftungen, die

ein neues reformatorisches Programm realisierten: Bildung fügfillfi,

Selbstbestimmung und soziale Teilhabe.“

Schon Martin Luther hatte eine Bildung für alle und die Grün-

dung entsprechender Schulen gefordert. Francke griff diesen verges-

senen Impuls wieder auf und gründete eine Schule für alle sozialen

Schichten. Aus Luthers Denken leitete er die Erziehung zum selbst-

ständigen Denken, selbstverantwortlichen Handeln und selbstbe-

stimmten Leben ab, aber auch eine allgemeine Pflicht zum Sozialen.

Die Kirche, aber auch der Staat und jeder Einzelne habe dafür zu

sorgen, dass der Starke den Schwachen stützt.

Ø Francke fand zahlreiche Nachahmer in ganz Euroqı und steuerte

mit seinem Denken und Werk eine weitere wichtige F cette des Pro-

testantismus bei, der sich immer mehr ausdifferenzierte.

Wie groß inzwischen die Unterschiede innerhalb des Protestan-

tismus Schon Waren, »lässt sich noch heute an zwei Kirchbauten er-

kennen, die bald nach dem Reformationsjubiläum von 1717 errichtet

wurden: der prunkvoll ausgestatteten Dresdner Frauenkirche, einem

Denkmal der Sinnenfreude, sowie dem schlichten Saal der Brüderge-

m'ëi'nde in dem nicht weit von Dresden entfernten Herrnhut, der auch

-heute noch von einem an Askese orientierten Glaubensverständnis

<< 94 Und: Zum Protestantismus gehört nun auch die Musik. Johann

Sebastian Bach verbringt 1717 sein letztes Jahr in Weimar, wird Ka-

pellmeister in Köthen und sechs Jahre später Thomaskantor in Leip-

zig. Er schlägt Funken aus Luthers Theologie, lässt sich aber auch

188 von neuzeitlicher Mathematik und Newtons Mechanik inspirieren

und komponiert daraus eine überkonfessionelle, noch nie gehörte

Musik. Ein weiteres Jahrhundert-Jubiläum später verbinden sich die Re~

formationsfeierlichkeiten mit dem„Namen Johann Wolfgang von Goe-

the. Dieser schlägt 1816 vor, das bevorstehende Fest »so zu begehen,

dass es jeder wohldenkende Katholik mitfeierte«. Da war der Kosmo-

polit Goethe seiner Zeit und der ganzen Ökumene weit voraus. Ein

Jahr später empfahl er, die Erinnerung an den Beginn der Reforma-

tion und an die Völkerschlacht bei Leipzig, wo Napoleon geschlagen

wurde, gemeinsam zu begehen, und zwar als »ein Fest der reinsten

Humanität<<.95 Der Empfehlung, Reformation und Völkerschlacht

zu einem einzigen großen nationalen Fest zu verbinden, folgte man

gern, dem Vorschlag, »ein Fest der reinsten Humanität« zu feiern,

nicht. Stattdessen wurde Luther gerühmt als deutscher Held, pflichtbe-

wusster Hausvater, vorbildlicher Untertan.96 Zahlreiche Reden waren

getränkt mit antifranzösischen Ressentiments und Antipathien ge-

gen den Geist der Französischen Revolution.“ Von einem Fest der

reinsten Humanität, an dem auch Katholiken, ja Franzosen hätten

mitfeiern können, war man weit entfernt. Die unselige Geschichte

des deutschen Nationalismus und der deutsch-französischen Erb-

feindschaft nahm ihren Lauf, und 1917, während des 400-jährigen

Jubiläums, befand man sich im Krieg mit Frankreich. Luther wurde

vor den Karren des Ersten Weltkriegs gespannt als Retter der Deut-

schen, Vorbild für Kampfeswillen, Soldat gegen den Feind. »Ein feste

Burg ist unser Gott« wurde das Kampflied der deutschen Soldaten.

Das war aber noch nicht der Tiefpunkt. Der kam 1933, das Jahr, in

dem Adolf Hitler Reichskanzler wurde und sogleich Luther für seine

Zwecke missbrauchte, denn am 10. November 1933 galt es den 450.

Geburtstag Luthers zu feiern. Und all die vielen Protestanten, die sich

nun »Deutsche Christen« nannten, machten begeistert mit, riefen

»Heil Hitler« beflaggten ihre Kirchen mit Hakenkreuzen hießen im

weiteren Verlauf alle Verbrechen Hitlers, der Wehfmäehl Und def SS

gut. Zwar bildete sich dann auch die ››Bekennende Kirche«› Welelle

die Lehren der »Deutschen Christen« und des N21Ü0Häl$0Zläll$mU5

als »Irrlehre« verwarf, zu einer wirklich kraftvollen protestantifiehen

Opposition gegen Hitler hatte es jedoch nie gefeieht- EíHZelHe› Wie

etwa Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller und Helmut G0llWllZeY

sind in den Widerstand gegangen und haben einen kleinen Rest von

Ehre des Protestantismus gerettet. Alle drei waren sehr einsam in ih-

rer Kirche. Bonhoeffer hat seinen Widerstand mit dem Leben bezahlt.

Die Geschichte der Vereinnahmungen Martin Lutheffi Wölfe fllelll

komplett ohne einen Seitenblick auf die ehemalige DDR. Deren Held

war naturgemäß nicht der ›>Fürstenknecht« Luthelß S0nClem del'

Führer des Bauernaufstands Thomas Müntzer. Das änderte sich in

der Spätphase der DDR. Plötzlich stieg Luther in der Prepägenda def

damals diktatorisch regierenden SED (Sozialistische Einheitspaflel

Deutschlands) vom Fürstenknecht zum Exponenten der »frühbür-

gerlichen Revolution« auf. Der Grund, warum die Lehrer in der DDR

jetzt umlernen und ihren Schülern einen neuen Luther beibringen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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