für dieselbst Luther die sofortige Verbrennung des Ketzers auf dem
Scheiterhaufen .gefordert hätte. Der Ketzer behauptet, dass kein
Schöpfergott über die Welt regiere, dieser Gott gar nicht existiere,
die Erde ein zufällig, von selbst entstandenes Gebilde sei, das nicht
im Zentrum des Universums stehe, der Mensch durch den Tod mit
seinem Körper ausgelöscht werde, dem keine unsterbliche Seele ent-
weiche. Nur die Materie, aus der er besteht, wandle sich und bleibe ,
ewig und unzerstörbar bestehen. Die Liebe zwischen den Menschen
sei nichts weiter als eine List der Natur, mit der diese den Menschen
dazu bringe, sich fortzupflanzen. Überhaupt bestehe das Grundprin-
zip des ganzen Kosmos darin, dass sich dauernd Atome mit Atomen
verbinden und wieder lösen und dadurch aus sich heraus die Weltx
und die ganze Vielfalt der Erscheinungen der Natur hervorbringen.
Die Religion aber sei nichts als Aberglaube. Es gebe weder Himmel
noch Hölle, auch keine Erbsünde und keine Erlösung.
In diesem Text ist sie da, die Neuzeit, viel zu früh, wie es scheint,
denn bis sich das darin enthaltene atheistisch-naturwissenschaftliche
Weltbild durchsetzt, vergehen noch viele Jahrhunderte. Wer aber hat
das geschrieben, und warum hat die Kirche nicht zuvorderst den Ur-
heber dieser Dichtung De rerum natura (Von der Natur der Dinge)
verfolgt, statt Luther? Die verblüffende Antwort lautet: Ihr Verfasser konnte nicht me _ r
verfolgt werden, weil er schon sehr lange tot war. Lukrez heißt er, ein
römischer Dichter und Philosoph war er, und geschrieben hatt; er
diesen Text im ersten Jahrhundert vor Christus. Lange war der fext
verschollen. Aber im Jahr 1417 wurde er wiederentdeckt. und so gr
verbreitet, wenn auch im Geheimen - von Klerıkern, Mannern er
Kirche, aber auch von den Humanisten. . Poggio Bracciolini heißt der Entdecker. Er ließ den Text heim ic
nachdrucken Andere druckten ebenfalls nach und verbreiteten ihn
geheim weiter. Als im Jahr h61fi2ıUSk21m› W215 fh' heimliälzl Ve;
breitet worden war, schritt die Kirche ein und ließ Jeden Nach riâc
verbieten. Aber da kursierten längst zahlreiche Drucke und wur en
heimlich weitergereicht.17 Der Lukrez'sche 'Atheismus inspirierte und infizierte .seit 1:
zahlreiche Gelehrte in Europa und half mindestens so viel wie Lut ers
Theologie, der Neuzeit und Aufklärung den Weg ZU befeltell Mont“
gne (1533-1592) hatte das Werk gelesen, Shäkeäpeäfe (1564-1616)
kannte es und schmuggelte in »Romeo und Julia« ein Gespann von
kleinen Atomen ein, das über die Nasen von Schlafenden fahrt, Mo i-
ère (1622-1673) übersetzte es ins Französische.
Auch wenn so etwas nur von wenigen l-lochgebildeten irn Stillen
Kämmerlein gelesen und nur heimlich daruber diskutiert wird, kann
dennoch nicht ausbleiben, dass etwas davon nach außen diffundiert,
in andere Köpfe dringt, und sei es nur unbewusst, und sein Werk176 verrichtet, Zweifel sät, Verunsicherung erzeugt, das Bestehende und
scheinbar felsenfest Unverrückbare einem allmählichen Prozess der
Erosion und Zersetzung unterwirft ~ zusätzlich zu dem, was durch
Luther für allgemeine Verunsicherung sorgte.
Das Zeitalter des skeptischen Denkens hatte begonnen, des sich
Vorwärtstastens durch Versuch und Irrtum - ein schmerzlicher Pro-
zess für Völker, die gewohnt waren, nicht denken zu müssen, da sie ja
ihren Glauben hatten, der zugleich Wissen war.
Schon die Existenz zweier christlicher Wahrheiten machte Fürs-
ten, Königen, Geistlichen, Gebildeten, aber auch Handwerkern und
Bauern schwer zu schaffen. Viele hielten es tatsächlich für verrückt,
dass da zwei einander widersprechende ››Wahrheiten« nebeneinander
existierten. Es konnte doch nur eine wahr sein! Schlimmstenfalls gar
keine. Aber doch nicht zwei gleichzeitig. Das menschliche Bedürfnis nach Gewissheiten aber ist groß. Man
will in Sicherheit leben, sich auf das, was gelehrt wurde und wird,
verlassen können, und wasschon immer gültig war und ist, sollte
auch künftig gültig bleiben. In dem Maß, in dem dieses Bedürfnis
enttäuscht wird, wächst die nostalgische Sehnsucht nach alten Ge-
wissheiten und die Bereitschaft, zu diesen zurückzukehren. Im selben
Maß wächst auf der Gegenseite das Bedürfnis, die alten Sicherheiten
durch neue zu ersetzen, den alten, als Irrtum erkannten Gewisshei-
ten die eigenen neuen, nun gültigen Gewissheiten entgegenzusetzen.
Die Folge ist, dass ein tiefer Riss durch die Gesellschaft geht. Und das
Ergebnis ist nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Verunsicherung.
Golo Mann nennt die Reformation ein ››Grundereignis« der deut-
schen Geschichte, sie habe das Land »glatt in zwei Hälften gespal-
ten«, eine Spaltung, die bis ins postchristliche Heute nachwirkt. Eine
Spaltung, unter der so viele litten, dass es zunächst sehr nahelag,
eine Entscheidung herbeizuführen, um die Spaltung zu überwinden
und zu den alten Gewissheiten zurückzukehren oder sie endgültig zu
erledigen. „
176 Wie führt man eine Entscheidung herbei, wenn das ewige Disputieren
zu keinem Ergebnis führt? Mit Macht und mit Gewalt. Das ist stets die
große Versuchung. In diese Versuchung schlitterte Europa hinein, als am 23. Mai
1618, ein dreiviertel Jahrhundert nach Luthers Tod, drei Männer aus
einem Fenster der Prager Burg in den Burggraben geworfen wurden.
Eigentlich hätte nur einer aus dem Fenster fliegen sollen, der böhmi-
sche König Ferdinand von Steiermark. Aber der war gerade nicht
da, als Aufständische in die Burg eindrangen und dann eben die drei
Männer ergriffen, die zufällig da waren und dem König im Rang am
nächsten standen. Ursache des Aufstandes war die Verletzung einer Zusage. Dem
überwiegend protestantischen Teil Böhmens war 1609 in einem Ma-
jestätsbrief von Kaiser Rudolf II. das Recht auf freie Religionsaus-
übung zugestanden worden. Dann aber bemühte sich die böhmische
Obrigkeit um eine Rekatholisierung des Landeš.¬Die Protestanten sa-
hen ihre Rechte zunehmend beschnitten, immer häufiger kam es zu
Unruhen, und diese kulminierten eines Tages in jenem berühmten
Prager Fenstersturz, den die drei Männer aber wie durch ein Wun-
der überlebten. Tatsächlich behaupteten die Katholiken hinterher, die
Jungfrau Maria höchstselbst habe die drei vor dem 'lbde bewahrt. Die
Protestanten konterten mit der Legende, die drei seien in einen wei-
chen, dampfenden Misthaufen gefallen. 4. Ob es nun ,so oder anders gewesen war - dieser Fenstersturz mar-
kiert den Beginn eines 30 Jahre währenden Krieges, bei dem es an-
fangs noch um Glaubensfragen ging, im weiteren Verlauf aber immer
,mehr um Hëgemonie, Macht, Interessen, Pfründe, Land, Geld. Ge-
bündelt wurden all diese Kónflikte in einen Kampf »katholisch gegen
evangelisch«, »Kaiser und Katholische Liga« gegen »Pfotestantlsche
Union«. Der Kampf eskalierte zu einem brutalen Gemetzel, einem ge-
genseitigen sich-Abschlachten, bei dem religiöse Fragen immer mehr
in den Hintergrund traten und ein normaler Krieg um Macht und
Territorien geführt wurde. 178Mord, Raub, Brandschatzung, Vergewaltigung, Hunger und die
Pest plagten drei Jahrzehnte lang Soldaten und die Zivilbevölkerung.
Ganze Landstriche wurden entvölkert. In Teilen Süddeutschlands
überlebte nur ein Drittel der Bevölkerung. Erst als alle Ressourcen
erschöpft, alle Teilnehmer so ermattet waren vom Kämpfen, dass die
Kräfte für eine Fortsetzung des Schlachtens nicht mehr reichten, wa-
ren die Kriegsparteien bereit, zu verhandeln, einen Kompromiss zu
schließen und den Frieden herbeizuführen.
Dieser »Westfälische Friede<<, der in Münster und Osnabrück be-
schlossen wurde, hat neben territorialen und verfassungsrechtlichen
Veränderungen vor allem eine neuzeitliche Errungenschaft hervor-
gebracht, die man zwar auch schon dreißig Jahre früher ohne Blut-
vergießen hätte haben können, aber nun dennoch, besonders bei den
Protestanten, feierte: die vollkommene Gleichstellung beider Konfes-
sionen. Beide hatten das gleiche Recht auf freie Religionsausübung,
und auf den Reichstagen durfte in Religionssachen keine Konfession
von der anderen überstimmtcwerden. Es dauerte fast ein Jahrhundert
bis sich das verwüstete, ausgeblutete Land von diesem Krieg wieder
erholt hatte.
XVII. Luther - wer war er eigentlich? '“
Wenn sich die Welt am 31. Oktober 2017 dieses altdeutschen Bet-
telmönchs namens Martin Luther erinnert, dann kann in der Flut
der Feiern und Reden das erstaunlichste Phänomen der ganzen Ge-
schichte leicht untergehen: dass dieser Mann im Grunde genommen
nur vier Jahre gebraucht hatte, um die Weltgeschichte so gravierend
zu verändern, dass wir noch ein halbes Jahrtausend später eine so
große Sache daraus machen. Eine Sache die er allein durch sein Wort
zustande gebracht hat, vor allem durchs geschriebene.
Dieses Zutexten der Welt hat Luther am 31. Oktober 1517 mit den
95 Thesen begonnen. Ein Mensch von heute, der am liebsten Thriller
liest und sich US-Serien wie Homelandl oder Breaking Bad reinzieht,
langweilt sich zu Tode, wenn er die Thesen der Reihe nach liest. Aber
die damalige Welt war so elektrisiert davon, dass wir noch heute da-
wn sprechen, während wir"davon ausgehen können, dass in 500 Jah-
ren niemand mehr von Breaking Bad sprechen wird, während die 95
Thesen zumindest in den Geschichflsbüchërn und Lexika überdauert
haben dürften. Daher sollte man den Text- am besten zwischen zwei
Staffeln einer US~Serie - doch wenigstens einmal gelesen haben.
r Nach den 95 Thesen veröffentlichte Luther in rascher Folge den
Sermon von Ablass und Gnade, je eine Schrift über die Sakramen-
te, die Buße, die Taufe, das Abendmahl, das Papsttum und das Neue
,Testament -"iind da schreiben wir erst das Jahr 1520. Im selben Jahr
erscheinen seine drei Hauptschriften An den christlichen Adel deut-
scher Nation, Von der babylorıischen Gefangenschaft der Kirche und
Vcm der Freiheit eines Christenmenschen. 1521 schreibt er Wider die
Miinchsgelübde und den Trakíat vom Missbrauch der Messe.
Damit hat er innerhalb von vier Jahren die Legitimität des Papst-
nrııtes bestritten, den Papst als Antichrist beschrieben, das Priester-
180 amt ab- und die weltlichen Berufe aufgewertet, Mönche und Nonnen
für überflüssig erklärt, das Priestertum aller Gläubigen begründet,
den Laien das Recht auf Mitbestimmung in der Kirche zugesprochen,
das Abendmahl neu interpretiert, die Zahl der Sakramente von sieben
auf zwei reduziert, die Heiligen- und Reliquienverehrung abgeschafft
und den ganzen christlichen Glauben auf drei Säulen gestellt: sola
fide, sola gratia, sola scriptura - allein der Glaube, allein die Gnade,
allein die Schrift. In diesen vier Jahren hat er außerdem die päpstliche Bann-
Androhungsbulle öffentlich verbrannt, sich in Worms der Aufforde-
rung zum Widerruf verweigert und auf der Wartburg das Neue Tes-
tament aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt. Somit war am
Ende des Jahres 1521 alles schon da, was die Reformation ausgemacht
und zur Entstehung der evangelischen und reformierten Kirchen ge-
führt hat. Das Einzige, was noch fehlte, war seine Selbstentbindung
von den Mönchsgelübden und demZölibat. Das hat er vier Jahre spä-
ter durch seine Heirat mit Katharina nachgeholt. Eine Nebenwirkung
davon war die Entstehung einer neuen Institution: das evangelische
Pfarrhaus. Wie gewaltig die Leistung Luthers gewesen ist, und wie folgen-
schwer, das ist den Deutschen und der Welt erst im Lauf der Zeit auf-
gegangen, umso deutlicher, je größer der zeitliche Abstand wurde.
Natürlich haben auch Luthers Zeitgenossen schon gesehen, dass hier
ein ganz besonderer Geist am Werk ist, aber wie tiefgreifend die Fol-
gen seines Wirkens sein würden, konnten sie weder sehen noch ah-
nen. Auch Luther selbst hätte wohl sehr gestau-nt, wenn ihm damals
erzählt worden wäre, wie sehr der Fortgang der Welt- und Geistesge-
schichte in den nächsten 500 Jahren von dem beeinflusst wurde, was
er in jenen kurzen vier Jahren gedacht und getan hatte - zumal er
doch das baldige Weltende erwartet und überhaupt nicht damit ge-
rechnet hatte, dass man ein halbes Jahrtausend später noch über ihn
reden würde. Stattdessen breiteten sich seine Lehren über die ganze
Welt aus. Der Lutherische Weltbund zählt heute 136 Mitgliedskirchen
in 76 Ländern, denen über 61,7 Milliorien der weltweit 65,4 Millionen
Lutheraner angehöreh“. Sie und die vielen reformierten Kirchen, die
nicht zu diesem Weltbund gehören, feiern am 31. Oktober 2017 die
Reformation. Schon früh, noch zu seinen Lebzeiten, wurde Luther auf eine Wei-
se verklärt, die den Blick auf seine Größe eher verstellte als erhell-
te, und die er selbst auch nie gewollt hätte. So wehrte er sich gegen
das ab 1522 geläufige Wort ››1utherisch<<: ››Zum ersten bitte ieh, man
wolle meines Namens schweigen und sich nicht lutherisch sondern
Christ nennen. Ist doch die Lehre nicht mein, ebenso bin ich auch
für niemand gekreuzigt, Wie käme denn ich armer, stinkender
Madensack dazu, dass man die Kinder Christi mit meinem heillosen
Namen benennen sollte? Nicht so, liebe Freunde, lasst uns die Par-
teinamen tilgen und uns Christen nennen, nach dem, dessen Lehre
wir haben.«89 Das hat nichts genützt. Im Gegenteil: Nach seinem Tod nahm die
Lutherverehrung religiöse›Züge an. Man sah in ihm den wiederge-
kehrtgn Elia oder den »Engel mit einem ewigen Evangelium<<. Es gibt
¬I-ilolzschnitte von ihm, die ihn mit Heiligenschein zeigen.9° Auf der
Wartburg malten die geschäftstüchtigen Burgherren in der Luther-
stube den Fleck an die Wand, der seit Luthers angeblichem Tinten-
fasswurf auf den Teufel geblieben war. Die Pilger bestaunten ihn
ehrfürchtig, betatschten ihn, brachen gar ein Stück Putz heraus, bra-
chen auch ein Stück Holz aus Luthers Schreibtisch und nahmen bei-
des als wundertätige Reliquie mit nach Hause. Von Zeit zu Zeit wurde
der Tintenfleck erneuert. Allerdings, so protestantisch war man dann
doíaf man verehrte zwar »den Heros Luther, aber man erwartete von
'ihm keine Fürsprache bei Gott, keine Wunder am Grabe und erwähn-
te ihn auch nicht als Fürsprecher in Gebeten<<.91
Dennoch war die Entwicklung Luthers zum Nationalheiligen
kaum aufzuhalten. Der Sockel, auf den er gestellt wurde, wuchs in
jedem Jahrhundert mehr in die Höhe und stand zuletzt so hoch über
den Menschen, dass der Mensch Luther allmählich unsichtbar wurde
184 und sich in eine Projektionsfläche verwandelte, auf der jeder sehen
konnte, was er zu sehen wünschte. Jede Generation malte sich ihr
eigenes Lutherbild, und schon Lucas Cranach hatte damit angefan-
gen. Unermüdlich hatte er Luther, je nach Bedarf, als Mönch, Junker
und Herkules und Professor porträtiert. ››Vor allem das Bild Luthers
im Professorentalar wurde massenhaft, ergänzt durch Bilder der Ehe-
frau und des Freundes Philipp Melanchthon, verbreitet und teilweise
bald in Kirchen links und rechts des Altars, stellenweise (wie in Wit-
tenberg) sogar über dem Altar aufgestellt bzw. aufgehängt. Kritische
Äußerungen Luthers über die Bilderflut, die von ihm durch die Werk-
statt Cranachs verbreitet wurde, sind übrigens im Unterschied zu der
kritischen Äußerung über die Nutzung seines Namens zur Bezeich-
nung einer Konfession nicht bekannt.<<92 So war es praktisch unver-
meidlich, dass sich die von Luther und Cranach selbst produzierte
Ikonografie im Lauf der Zeit verselbstständigte und schließlich für
alle möglichen Interessen vor den Karren gespannt wurde.
In dieser Hinsicht war danndas erste große Reformationsjubilä-
um noch das unschuldigste. Die Lutheraner hätten es beinahe ver-
gessen und mussten von der innerkonfessionellen Konkurrenz der
Calvinisten daran erinnert werden, dass sich am 31. Oktober 1617 der
Thesenanschlag zum hundertsten Mal jährt. Bis dahin war man es in
protestantischen Regionen eher gewohnt, des »Heiligen Martinus«
an dessen Geburts- oder Todestag zu gedenken statt der papierenen
Thesen von 1517. Der. Jubiläumsidee schlossen sich die Lutheraner
dann aber rasch und einigermaßen begeistert an. Man scharte sich
um den kämpferischen Luther, der sich gegen die >›Römlinge<< be-
hauptet hatte, und feierte in der Überzeugung, dass man zusammen-
stehen und angesichts der Erfolge der Gegenreformation sich weiter
gemeinsam gegen den Papst und seine Macht behaupten müsse.
Damals wurden die Protestanten von Rom und den» Katholiken
heftig angefeindet und aggressiv bedrängt. Der Augsburger Religi-
onsfrieden hatte keinen wirklichen Frieden gebracht. In Frankreich
wurden die Hugenotten - protestantische Calvinisten - von Anfang
an von der Staatsmacht verfolgt und schikaniert. In Paris und einigen
französischen Landesteilen kam es in der Nacht vom 23. zum 24. Au-
gust 1572 zur sogenannten Bartholomäusnacht, einem Massaker, bei
dem Tausende von ihnen auf Befehl der Königinmutter Katharina von
Medici ermordet wurden. Zahlreiche Hugenotten flohen anschlie-
ßend aus Frankreich in alle Himmelsrichtungen, auch nach Deutsch-
land, wo bis heute noch hugenottische Gemeinden existieren. Nie-
mand hätte damals gewagt, auf den Fortbestand des Protestantismus
in Europa zu wetten, auch beim hundertsten Jubiläum 1617 nicht,
und ein Jahr später ging es dann tatsächlich drei Jahrzehnte lang um
Leben und Tod, denn es begann der 30-jährige Krieg.
Es begann aber auch etwas gänzlich Neues, Folgenschweres: Drei
Jahre nach dem ersten großen Reformationsjubiläum, 1620, legte
ein Schiff namens Mayflower an der Nordatlantikküste in Amerika
- Dem Schiff entstiegen englische Puritaner, strenge Calvinisten.
Sie gründeten die Stadt Plymouth in Massachusetts. Schon vierzig
Jahre vor ihnen hatten Briten in Neufundland mit der Besiedlung
Nordamerikas begonnen. Aber nach der Ankunft der Mayflower 1620
und dei Besiedlung durch die später sogenannten Pilge„rvä?er folgte
eine Einwanderungswelle nach der anderen. Es kamen nich nur bri-
tische und holländische Calvinisten, sondern auch französische Hu-
genotten, Schweizer Zwinglianer und deutsche und skandinavische
Lutheraner - Amerika wurde protestantisch. Spanier und Portugie-
sen wanderten nach Mittel- und Südamerika aus. Dieser Kontinent
wurde römisch-katholisch.
Der konfessionelle Unterschied zwischen den beiden Kontinen-
ten/ist* eine der Hauptursachen dafür, dass sich beide kulturell, wirt-
schaftlich und politisch so unterschiedlich entwickelt haben. Wäre
es damals, im 17. Jahrhundert, umgekehrt gewesen, hätten Spanisch
und Portugiesisch sprechende Katholiken Nordamerika besiedelt und
protestantische Engländer, Deutsche und Skandinavier Südamerika,
gäbe es heute vielleicht so etwas wie die Vereinigten Staaten von Süd-
amerika mit einer scharf bewachten Nordgrenze, über die beständig
186arme Nordamerikaner in den Süden zu gelangen versuchen. Das ist
natürlich Spekulation, aber Tatsache bleibt, dass die konfessionell be-
dingten unterschiedlichen Sichtweisen auf Gott, die Menschen und
die Welt in den beiden Kontinenten im weiteren Verlauf sehr unter-
schiedliche Entwicklungen generierten.
Nicht nur Amerika, die ganze Welt sähe anders aus ohne das Er-
eignis der Reformation, denn aus ihr entwickelte sich später die west-
liche Dominanz über die Welt, über andere Völker, andere Kulturen
mit anderen Religionen. Daher sind auch diese bis heute von Ent-
V,w,icklu,ngen betroffen, zu deren Auslösern die Reformation gehörte.
Beim 200. Jubiläum im Jahr 1717 hatten sich die Protestanten
auch im alten Europa etabliert. Sie waren sich inzwischen ihrer Be-
deutung und sich selbst so gewiss, dass sie sich leisten konnten, was
sie am liebsten taten, tun mussten: streiten. Streit ist eine natür-
liche Folge der Tatsache, dass eben jene letzte Instanz und obers-
te Autorität fehlt, die entscheidet, was wahr sein soll. Streit um die
richtige Interpretation der Bibel, das wahre Gottesbild, das richtige
Lutherbild gehört daher zur Grundausstattung des Protestantismus.
Davon wiederum ist die natürliche Folge die große ››Artenvielfalt<<,
die der Protestantismus im Lauf der Jahrhunderte hervorgebracht
hat. Nicht nur die vielen Kirchen des Lutherischen Weltbunds bilden
diese Vielfalt ab, sondern noch zahlreiche, dem Bund nicht angehö-
rende Kirchen und Sekten, die sehr eigene Ansichten darüber haben,
was wahrhaft christlich und gottgefällig sei, sich aber mit den Luthe-
ranern immerhin darin einig sind, dass kein Papst über sie herrschen
solle.Um das Jahr 1717 schwanken die Lutherbilder zwischen den Po-
len der altprotestantischen Orthodoxie, des neu aufkommenden Pie-
tismus und der vorwärtsdrängenden Aufklärung. Die Orthodoxen
hatten Luthers prasselndes Feuer gezähmt und in ein solides, auf
Dauer angelegtes Paragrafen- und Lehrgebäude gesperrt, dem jegli-
cher Spirit fehlte. Die Aufklärer sahen in Luther einen der ihren und
blendeten aus, was dem widersprach.
Einen wichtigen Puls der Erneuerung steuerten die Pietisten bei.
Sie hielten wenig vom Streit um die reine Lehre, aber viel von prak-
tischem Chrisšentum und sozialem Engagement. Ihr berühmtester
Vertreter, der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke,
gründete 1698 in l-lalle ein Waisenhaus, das sich im Verlauf von 30
Jahren zu einem Dorf aus Schulen, Wohnungen, Werkstätten und
Gärten entwickelte, in dem bis zu 2500 Menschen lebten, lernten
und arbeiteten. Daraus entstanden die Franckeschen Stiftungen, die
ein neues reformatorisches Programm realisierten: Bildung fügfillfi,
Selbstbestimmung und soziale Teilhabe.“
Schon Martin Luther hatte eine Bildung für alle und die Grün-
dung entsprechender Schulen gefordert. Francke griff diesen verges-
senen Impuls wieder auf und gründete eine Schule für alle sozialen
Schichten. Aus Luthers Denken leitete er die Erziehung zum selbst-
ständigen Denken, selbstverantwortlichen Handeln und selbstbe-
stimmten Leben ab, aber auch eine allgemeine Pflicht zum Sozialen.
Die Kirche, aber auch der Staat und jeder Einzelne habe dafür zu
sorgen, dass der Starke den Schwachen stützt.
Ø Francke fand zahlreiche Nachahmer in ganz Euroqı und steuerte
mit seinem Denken und Werk eine weitere wichtige F cette des Pro-
testantismus bei, der sich immer mehr ausdifferenzierte.
Wie groß inzwischen die Unterschiede innerhalb des Protestan-
tismus Schon Waren, »lässt sich noch heute an zwei Kirchbauten er-
kennen, die bald nach dem Reformationsjubiläum von 1717 errichtet
wurden: der prunkvoll ausgestatteten Dresdner Frauenkirche, einem
Denkmal der Sinnenfreude, sowie dem schlichten Saal der Brüderge-
m'ëi'nde in dem nicht weit von Dresden entfernten Herrnhut, der auch
-heute noch von einem an Askese orientierten Glaubensverständnis
<< 94 Und: Zum Protestantismus gehört nun auch die Musik. Johann
Sebastian Bach verbringt 1717 sein letztes Jahr in Weimar, wird Ka-
pellmeister in Köthen und sechs Jahre später Thomaskantor in Leip-
zig. Er schlägt Funken aus Luthers Theologie, lässt sich aber auch
188 von neuzeitlicher Mathematik und Newtons Mechanik inspirieren
und komponiert daraus eine überkonfessionelle, noch nie gehörte
Musik. Ein weiteres Jahrhundert-Jubiläum später verbinden sich die Re~
formationsfeierlichkeiten mit dem„Namen Johann Wolfgang von Goe-
the. Dieser schlägt 1816 vor, das bevorstehende Fest »so zu begehen,
dass es jeder wohldenkende Katholik mitfeierte«. Da war der Kosmo-
polit Goethe seiner Zeit und der ganzen Ökumene weit voraus. Ein
Jahr später empfahl er, die Erinnerung an den Beginn der Reforma-
tion und an die Völkerschlacht bei Leipzig, wo Napoleon geschlagen
wurde, gemeinsam zu begehen, und zwar als »ein Fest der reinsten
Humanität<<.95 Der Empfehlung, Reformation und Völkerschlacht
zu einem einzigen großen nationalen Fest zu verbinden, folgte man
gern, dem Vorschlag, »ein Fest der reinsten Humanität« zu feiern,
nicht. Stattdessen wurde Luther gerühmt als deutscher Held, pflichtbe-
wusster Hausvater, vorbildlicher Untertan.96 Zahlreiche Reden waren
getränkt mit antifranzösischen Ressentiments und Antipathien ge-
gen den Geist der Französischen Revolution.“ Von einem Fest der
reinsten Humanität, an dem auch Katholiken, ja Franzosen hätten
mitfeiern können, war man weit entfernt. Die unselige Geschichte
des deutschen Nationalismus und der deutsch-französischen Erb-
feindschaft nahm ihren Lauf, und 1917, während des 400-jährigen
Jubiläums, befand man sich im Krieg mit Frankreich. Luther wurde
vor den Karren des Ersten Weltkriegs gespannt als Retter der Deut-
schen, Vorbild für Kampfeswillen, Soldat gegen den Feind. »Ein feste
Burg ist unser Gott« wurde das Kampflied der deutschen Soldaten.
Das war aber noch nicht der Tiefpunkt. Der kam 1933, das Jahr, in
dem Adolf Hitler Reichskanzler wurde und sogleich Luther für seine
Zwecke missbrauchte, denn am 10. November 1933 galt es den 450.
Geburtstag Luthers zu feiern. Und all die vielen Protestanten, die sich
nun »Deutsche Christen« nannten, machten begeistert mit, riefen
»Heil Hitler« beflaggten ihre Kirchen mit Hakenkreuzen hießen im
weiteren Verlauf alle Verbrechen Hitlers, der Wehfmäehl Und def SS
gut. Zwar bildete sich dann auch die ››Bekennende Kirche«› Welelle
die Lehren der »Deutschen Christen« und des N21Ü0Häl$0Zläll$mU5
als »Irrlehre« verwarf, zu einer wirklich kraftvollen protestantifiehen
Opposition gegen Hitler hatte es jedoch nie gefeieht- EíHZelHe› Wie
etwa Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller und Helmut G0llWllZeY
sind in den Widerstand gegangen und haben einen kleinen Rest von
Ehre des Protestantismus gerettet. Alle drei waren sehr einsam in ih-
rer Kirche. Bonhoeffer hat seinen Widerstand mit dem Leben bezahlt.
Die Geschichte der Vereinnahmungen Martin Lutheffi Wölfe fllelll
komplett ohne einen Seitenblick auf die ehemalige DDR. Deren Held
war naturgemäß nicht der ›>Fürstenknecht« Luthelß S0nClem del'
Führer des Bauernaufstands Thomas Müntzer. Das änderte sich in
der Spätphase der DDR. Plötzlich stieg Luther in der Prepägenda def
damals diktatorisch regierenden SED (Sozialistische Einheitspaflel
Deutschlands) vom Fürstenknecht zum Exponenten der »frühbür-
gerlichen Revolution« auf. Der Grund, warum die Lehrer in der DDR
jetzt umlernen und ihren Schülern einen neuen Luther beibringen