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PRECHT DEUTSCH 59-82

2018. augusztus 19. 08:35 - RózsaSá

PRECHT 59-82 Der Palo-Alto-Kapitalismus regiert die Welt Die Dystopie

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Deutschland im Jahr 2040. Kinder, die 201 8 geboren wur-den, sind nun junge Erwachsene. Sic leben nicht mehr in ei-ner Welt aus Versuch und Irrtum, Wagnis und Erfahrung. Sie leben in einer Matrix aus Daten, die ihnen sagt, was gut für sie ist. Wenn sie erwachen, erscheint ihnen ein tauschend echtes Hologramm einer bezaubernden Frau oder eines schönen Mannes. Sie verraten, wie man geschlafen, was man geträumt hat und warum. Sie kennen den Blutzuckerspiegel, die Herz-Kreislauf-Daten tind den Hormonzustand ihres Gegenübers. Sic emplehlen tins unseren Tagesablauf und besorgen uns dazu genau jene Produkte, nach denen es uns heute begehren wird. Unser Leben kann gar nicht mehr nicht gelin-gen. Google, Facebook und Co. haben uns von der Diktatur der Freiheit befreit.

Die Chance, in diesem unfallfreien Leben weit über hundert zu werden, ist gross. All unsere Zellen lassen sich in der Petrischale klonen, und der 3D-Drucker druckt uns bei Bedarf neue Nieren, eine neue Leber oder ein neues „eigenes” Herz aus. Aus Mymuesli ist Myorgan geworden, und diesmal ist es wirklich meins. Wenn wir durch die Stadt gehen, ist alles miteinander vernetzt. Sensoren und Kameras überwachen jeden unserer Schritte, Kriminalität ist nicht mehr möglich, denn Abweichendes Verhalten wird sofort entlarvt.

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Die Strassenbeleuchtung scheint nach Bedarf, die Preise in den Laden verändern sich, je nachdem wer den Laden betritt und in welcher Kaufstimmung er ist. Selbstfahrende Autos müssen gar nicht mehr geordert werden — sie kennen uns und wissen, wann wir sie benötigen. Die meisten Geschäfte um uns herum sind eigentlich nur noch Attrappen, denn geliefert wird alles online und per Drohne. Unsere Partner finden wir durch Suchprogramme, oder sie werden uns von diesen „per Zufall” zugeführt, um unsere altmodish-romantischen Bedürfnisse zu erfüllen. Geld gibt es noch, sogar mehr, als zuvor, allerdings nicht mehr als Münze oder Schein. Hinter den kulissen dieser Realitat gewordencn Truman Show werden Fantasmilliarden gescheffelt. Das Geld, das viele Menschen durch ein Staatliches Grundeinkonunen beziehen, wandern auf subile Weise in die Hände derer, die noch arbeiten. Eine Zweilklassengesellschaft trennt die Gutverdiener von den Abgehängten in der Wohlfühlmatrix. Die Kinder der einen gehen ihren Weg von Privatschulen über Eliteuniversitäten in die Psychotope der Big-Data-Firmen. Die anderen schlagen sich als schlecht be zahlte Kindergartner, Friseure und Altenpfleger mit Robothelfern durch oder arbeiten oft gar nicht mehr. Deren Kindern ist der Weg in die Arbeitselite von Anfang an versperrt. Wer ein öffentliches Schulsystem besucht, bleibt untcn. Der grosse Gewinner ist eine Allianz aus globalen Investo-ren, Firmen, Spekulanten und Geeks. Für Geschäftsleute ist der Datenhandel einfach nur das ganz grosse Business, noch viel gigantischer und vor allem sicherer als die reine Finanz-spekulation. Sie sind dabei, because that's where the money is. Fragen der Ethik haben sie noch nie beschäftigt, jeden-falls nicht beruflich. Und ihre Geschäfte nehmen sie nicht perönlich. Ihr Effizienzdenken treibt das Silicon Valley voran,

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weit mehr als die Fantasien eines Mark Zuckerberg oder Lar-ry Page. Ihre Partner und Zulieferer sind Menschen vor al-lem männlichen Geschlechts, die oft schon mit vierzehn den Algorithmus suchten, mit dem man Frauen unwiderstehlich überzeugt. Mithilfe der Investoren hat sich diese junge Gar-de des Second Machine Age ihren Traum erfüllt. Den Über-wachungsstaat fürchten sie nicht. Sie erleben ohnehin nichts, was es zu verbergen gilt. Wenn Google und andere uns in die Matrix einlullen, haben sie nichts zu verlieren. Wer ohnehin keine soziale Fantasie hat, sondern nur technische, den stört nicht, wenn auf dem Flughafen, in der Bahn oder im Restau-rant jeder nur in sein Smartphone vertieft ist. Es erscheint ih-nen nicht als Widerspruch, von digitaler Medizin zu träumen, die ihnen Unsterblichkeit verschafft, während sie so viel Ener-gie und Ressourcen verbrauchen, dass sie die Menschheit ab-schaffen. Die Vorstellung, im Alter von einem Roboter vom Typ R2-D2 gepflegt zu werden, macht ihnen keine Angst, son-dern Freude. Endlich zu Hause! Und Sorge urn die Mitleiden-schaft der anderen haben sie ohnehin nie gehabt. So haben sie denn den grossen Umbau bewerkstelligt und die Welt von 2040 geschaffen: den Sieg von Menschen, die das Langweili-ge dem Riskanten vorziehen; den Triumph des uneigentlichen Lebens über das Leben!

Der Aufstieg des Silicon Valley ist vieles. Aber vor allem ist er ein Sieg der Lebensangst. Apps und Algorithmen umgin-gen mehr und mehr den Zufall, das Schicksal und das Aben-teuer des Lebens und machten daraus ein gigantisches Geschäft. Die Marktkapitalisierung der. GAFAs (Google, Apple, Facebook und Amazon), die im Jahr 2018 noch wenige Bil-lionen US-Dollar betrug, liegt 2040 bei 50 Billionen. In den 2040 Jahren haben sie Giganten wie Exxon Mobil, PetroChina oder General Electric von den Spitzenplätzen der wertvollsten Unternehmen verdrängt und sich die Spitzenplätze ge-sichert.

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Keinen der ehemaligen Champions der alten Industrie gibt es 2040 mehr. Was verwertbar an ihnen war, haben sich die GAFAs einverleibt. Mark Zuckerberg ist seit vielen Jahren Präsident der USA und Donald Trump, der Staatsgrobian der alten Industrie, lange tot. Weder Europa noch die USA haben die Geschäft spra ktilKeit der großen Monopolisten in die Schranken gewiesen, a Is sie es noch konnten. Man versäumte es, Integrität und Dreiheit der Bürger zu schützen, solange man die Macht dazu hatte. Die Blockade kam damals nicht zuletzt aus den Verhandelt der deutschen Wirtschaft. So unlieb ihnen die Geschäftspraktiken und die Datengeschäfte der GAFAs waren, so sehr wünsch te man sich doch, dass man an deren statt davon prolit ieren könnte. Insofern stemmte man sich mit Macht dagegen, die kommerzielle Ausschlachtung der menschlichen Privatsphäre als unsittliche Geschaftspraxis zu verbieten. Dass man in die-sem Spiel gar nicht gewinnen, sondern mehr und mehr ver-lieren würde, stand 2018 für viele offensichtlich noch in den Sternen. Dabei war es fur jeden Realisten ziemlich absehbar. Immerhin war allein Google 2018 mehr wert als die gesam-te europäische Telekommunikationsindustrie. Dass sich dies durch Wettbewerb je würde einholen lassen, war damals fahr-lässige Fantasterei. Der zweite groige Blockierer gegen das Ausspionieren von Privatpersonen waren übrigens die deutschen Geheimdiens-te. BND, Verfassungsschutz und MAD hatten sich so fiber das fröhliche Datensammeln gefreut, dass sie jeden Versuch, es zu beschneiden oder die privaten Daten unkenntlich zu machen, hintertrieben. Die Innenminister, aufgrund von Terroranschlä-gen von der Öffentlichkeit gedrängt, etwas zu tun, entspra-chen ihrem Wunsch. Wie anders sollten sie auch Härte und

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Entschlossenheit bei der Terrorbekämpfung zeigen? Jedes Jahr stellten sie den Medien Fälle vor, bei denen die Datenüberwa-chung Erfolge gezeitigt und Attentate frühzeitig verhindert hätten. Die Anschläge durchgeknallter Islamisten ereigneten sich in den 2010er Jahren also zum ungünstigsten Zeitpunkt. So mussten sich die Geheimdienste auch nicht fragen lassen, ob sie die gleichen Möglichkeiten zur Überwachung in Öffent-lichkeit und Internet nicht selbst dann genutzt hätten, wenn es keine Terroranschläge in dieser Zeit gegeben hätte. Oder wozu die neue Geheimdienstzentrale an der Berliner Chaus-seestraße, fast dreißig Jahre nach Ende des Kalten Krieges, so viel größer ausgefallen war als die in Pullach oder Köln vor-her? Und das, obwohl man gar keine Aktenschränke mehr be-nötigt und keinen Stauraum, sondern nur noch winzig kleine Datenträger. Naheliegend wäre gewesen, das alles viel klei-ner wird ... Aber Macht ohne Missbrauch hatte offenbar immer schon keinen besonderen Reiz. Und das war im Jahr 2018 nicht an-ders als zuvor oder eben im Jahr 2040. Auf das Versprechen der ungehinderten Kommunikation im Internet folgte jeden-falls kein Frühling der Freiheit, sondern der lange Winter der totalen Überwachung. Die Demokratien des Westens fanden sich damit erstaunlich schnell ab. Und wer auf der einen Seite das Grundgesetz hochhielt und in Sonntagsreden die Freiheit lobte, bediente sich doch zugleich gern der neuen Überwa-chungs- und Kontrollmöglichkeiten. So ereignete sich das, was die Sozialpsychologie shifting baselines nennt: das allmähli-che Verschieben einer Sache in eine ganz neue Dimension in tausend kleinen und für sich genommen kaum bemerkens werten Schritten. So waren die Deutschen mal Nazis gewor den oder hatten sich von einem Lichtschutzfaktor 3 an einen Lichtschutzfaktor 50 gewöhnt. Und so nahmen sie auch ihre Freiheitsbeschneidungen ohne allzu großen Widerstand hin und freuten sich über die vielen kleinen Segnungen der Di-gitalwelt; vom Navigationsgerät im Fahrzeug zum selbstfah-renden Auto; von Kameras im Dienst der Gewaltvorbeugung zur Smart City mit Tausenden von Sensoren, denen keine Re-gung mehr entgeht. Und von Kriegen ohne Risiko für die ei-genen Soldaten zu systematischen Drohneneinsätzen, für die niemand mehr sein Gesicht zeigen oder sich vor Gericht ver-antworten muss. Aber warum hatte sich nicht wenigstens die deutsche Öffentlichkeit gewehrt? Nun, der eine oder andere hatte schon gemurrt. Aber wer gegen bestimmte Geschäfts- und Überwachungspraktiken aufstand, der galt gleich als Spinner und Panikmacher oder, noch schlimmer: als Feind der Technik und des Fortschritts! Dabei waren sie weder gegen die Technik noch gegen den Fortschritt gewesen. Sie wollten einfach be-stimmte Techniken nicht eingesetzt sehen und wünschten sich einen anderen Fortschritt. Doch der Fortschritt tritt gern in der Maske der Alternativlosigkeit auf. Und die Rhetorik der Lobbyisten schneiderte ihm ein Kostüm, in dem er dann so klar vor uns stand, dass wir ihn uns gar nicht mehr anders vorstellen konnten. Man hätte damals, im Jahr 2018, an die Eroberung der Neuen Welt durch Hernán Corts und Francisco Pizarro erin-nern können. Die Konquistadoren eroberten nur deshalb mit siebenhundert Mann das Aztekenreich oder mit einer Schar von hundertsechzig Hasardeuren den Inkastaat, weil niemand die Gefahr ernst nahm. Stattdessen hielten die Indianerkultu-ren die Eindringlinge für Götter aus Übersee. Die Konquis-tadoren stifteten Unfrieden und infiltrierten die Völker mit neuen Ideen, Sehnsüchten und Seuchen. Dabei hätte man sie anfangs leicht abwehren können. In einer ähnlichen 65

Situation sahen wir 2018 weite Teile der deutschen Wirtschaft und Po-litik. Nur sahen sie sich nicht selbst so. Sie sahen ihren gesun-den Mittelstand, das wirtschaftliche Rückgrat Deutschlands. Und sie sahen, dass unser Land in Relation zur Einwohnerzahl mehr weltmarktrelevante Patente hat als die USA. Sie sahen sich als Weltmarktführer in vielem, als eine äußerst wehrhafte Hochkultur. Aber ihre Pfeile zerschellten an den Schutzschil-dern ihrer Gegner. Und deren tödliche Kugeln trafen einen nach dem anderen. Schlecht beraten wurden sie auch von ihren Priestern und Auguren, den cleveren Zeitgeistsurfern, willfährigen Tritt-brettfahrern und ewigen Commis Voyageurs. Wie sie in bun-ten Sneakers auf den Bühnen standen, mit laubgrüner Brille zur Glatze, das lässige Sweatshirt über der weichen Wampe, und von den digitalen Disruptionen schwärmten, den Future Labs des Silicon Valley. Wenn sie Rezepte für die Breaks of tomorrow aus ihrem Bauchladen verkauften wie frühere Hand-lungsreisende ihr Nähgarn. Wenn sie von der Zukunft schwär-men, als hätten sie selbst sie gemacht. Manche glaubten gar, dass sie nur die Tracht ihrer Feinde anlegen müssten, banden ihre Krawatten ab und ließen ihre Bärte sprießen, und schon würde deren Magie auf sie und ihre alten Firmen übergehen. Optimismus kann nicht nur motivieren, sondern manch-mal auch einlullen. Er wird dann zur Ideologie, wenn er dazu auffordert, eine Entwicklung zu begrüßen, die einem aus nachvollziehbaren Gründen nicht geheuer ist. Etwa weil es volkswirtschaftlich nachteilig zu sein droht. Oder weil es eine Lebensqualität verspricht, die man nicht als besser, sondern als schlechter empfindet. Aber das Silicon Valley hatte change und invent schon frühzeitig zum Naturgesetz erklärt. lind es hatte den Umbruch zugleich mit kindlicher Unschuld gehaart: ,.lch habe hauptsächlich Sachen gebaut, die ich mag«, erzählte uns Mark Zuckerberg — was irgendwie klang, als hätte er sein Kinderzimmer umdekoriert. Oder: »Wir wachen nicht mor-gens auf mit dem Ziel, Geld zu verdienen.« Wie schön, dass es im Silicon Valley niemandem darauf ankam. Und so konnte die schöne neue Welt sich immer weiter ausbreiten und unser aller Leben nach eigenen Regeln neu erfinden und gestalten.

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Die Weltkonzerne des Silicon Valley erinnern sich 2040 gerne an ihren unaufhaltsamen Aufstieg. Zunächst an ihre Kinder-zeit, die Neunziger, die Zeit des Wilden Westens, als das In-ternet noch allgemeines Land mit vielen versprengten Siedlern war; ein großes Freiheitsversprechen für alle, das mehr Demo-kratie und Mitbestimmung verhieß. Doch dann, um das Jahr 2000, waren die Cleveren, die Profis und die Smarten gekom-men. Unterstützt von Spekulanten, machten sie das Land auf neue Weise urbar und bewirtschafteten es effektiv. Dabei be-nutzten sie geschlossene Protokolle, das heißt, sie zäunten ihr Eigentum mit einem Stacheldraht ab, der von außen nicht zu überwinden war. Sie gaben ihren Grundstücken schöne Na-men wie Twitter, Instagram, Facebook, Linkedln oder Whats-App und kauften sich wechselseitig auf. Ihre Produkte aber wurden ihnen aus der Hand gerissen, wie das halt so ist, wenn man wie Zuckerberg im freien Internet Sachen baut, die man mag, und diese dann zu gut geschütztem Eigentum macht. Tja, und irgendwann gehörte das Internet nicht mehr allen, sondern wenigen: den GAFAs, den Chinesen von BAT (Baidu, Alibaba und Tencent) und der russischen Enklave mit ihren Firmen Mail.Ru Group und Yandex. Weil niemand ohne mächtige Freunde und Verbündete le-ben kann, tauschten die neuen Herren der Daten ihre un-vorstellbaren Schätze jederzeit gerne mit den Geheimdiens-

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ten ihrer Heimatländer aus. Ein gewisser Herr Snowden hatte einstmals darüber geplaudert. In China dagegen gab man sich nicht einmal die Mühe, so zu tun, als wäre es anders. So ent-stand in den 2010er Jahren der digitale Plan für den besse-ren Menschen. »Das gab es noch nie in der Geschichte der Menschheit, das gibt es noch nirgendwo auf dem Erdball«, hatte sich der Pekinger Professor Zhang Zheng gefreut. Wie »aufregend«, ein »Amt für Ehrlichkeit« einzuführen, um gute Menschen von schlechten zu unterscheiden (14). Seit 2020 wird der Mensch in China kontinuierlich verbessert, sodass er ta-dellos funktioniert. Das »System für Soziale Vertrauenswür-digkeit« erfasst einfach die Daten aller Bürger, schaut, ob sie einen Zebrastreifen benutzen oder Vater und Mutter ehren. Oder ob sie stattdessen ein Kind zu viel bekommen, Filme im Internet raubkopieren und ihren Hundekot nicht beseitigen. Die einen werden vom Staat bevorzugt, die anderen benach-teiligt. Sinkt der Punktestand beim »Amt für Ehrlichkeit« in Rongcheng von 1050 auf unter 600 Punkte, dann hat man quasi ausgespielt. Aber wie jeder weiß, kommt es dazu nur in den seltensten Fällen. Chinas Sünderkartei funktioniert nun, im Jahr 2040, seit zwanzig Jahren tadellos. Und das offiziel-le Ziel der Regierung, dass »die Vertrauenswürdigen frei un-ter dem Himmel umherschweifen können, den Vertrauens-brechern aber kein einziger Schritt mehr möglich ist«, wurde vorbildlich erfüllt.

In den anderen Teilen der Welt funktioniert das natürlich subtiler. Menschen in Europa und den USA lieben ihre Frei-heitsillusion. Aber wirklich anders ist es nicht. »Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir wissen mehr oder weniger, worüber du nachdenkst« — die Worte des Google-Topmanagers Eric Schmidt sorgten 2011 noch für etwas Verstörung.(15)

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Und auch der andere Satz klang durchaus chinesisch: »Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.« 16 Seitdem aber wurden solche Sätze einfach nicht wie-derholt und gerieten irgendwann in Vergessenheit. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Algorithmen schon in den 2010er Jahren in den USA darüber entschieden, wie wahrscheinlich es war, dass ein Straftäter rückfällig würde, und wie hoch das Strafmaß. Das Wissen um die Vergangen-heit, mathematisch gespeichert, bestimmte die Gestaltung der Zukunft. Individuen wurden nicht mehr als willensfrei an-gesehen und psychologisch begutachtet, sondern berechnet und abgestempelt. Und wer einmal eine bekannt gewordene Verfehlung beging, wurde oft nie mehr irgendwo eingestellt. Krankenkassen begannen ihre Tarife individuell nach über-wachten Ernährungs- und Gesundheitsdaten auszurechnen. Und Firmen verlangten detaillierteste Auskünfte über Nut druck, Glukose, Cholesterin, Triglyzeride und und berechneten danach die Krankenversicherungskostn. Was in Europa aus Datenschutzgründen in den 2010er Jahren noch verboten war, wurde in den 2020er Jahren geschickt umgangen. Und schließlich gab es schon bald keinen Unterschied mehr zu den USA. Es entwickelte sich eine Ge-sellschaft wie im Film Demolition Man von 1993: Gewalttaten und Verbrechen existieren nicht mehr, jeden falls nicht als banale Kriminalität auf den Straßen. Allerdings, achtcn die Menschen auch darauf, dass sie nicht öffentlich fluchen, keine abweichenden Meinungen vertreten oder ihr Reih trink nach Sexualität öffentlich zeigen. Die Fruchtbare Mesalliance aus Internetkonzernen und Geheimdiensten verhalten normiert. Sie blieb nicht nur erhalten, sondern wurde immer intensiver bis zum Personalaustansch, der sich schon in den 2010er Jahren bewährte.

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Und im Gegenzug zum Informationsgewinn wurde das Geschäftsmodell, Serviceleistungen mit Spionage, Datenhandel und Werbung zu finanzieren, vom Staat nicht angetastet. Über die Jahre änderten sich damit zugleich die Philosophie und die Grundwerte der Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert hat-ten sich die freiheitlichen Staaten Europas und die USA noch auf die Aufklärung berufen. Man beschwor den Geist von Lo-cke, Rousseau, Montesquieu und Kant. Man betonte die Frei-heit und Gleichheit aller Menschen und verwies auf die Erklä-rung der Menschenrechte. Und den angemessenen Gebrauch der Freiheit sah man, mit Kant, darin, seine Urteilskraft ein-zusetzen. Im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert kann davon keine Rede mehr sein — oder nur in Sonntagsreden. Man hat Autonomie gegen Bequemlichkeit getauscht, Freiheit gegen Komfort und Abwägung gegen Glück. Das Menschenbild der Aufklärung findet in der schönen neuen Digitalwelt der Über-wachungssensoren und Digital-Clouds einfach keinen Platz mehr. Wozu Urteilskraft, wenn Algorithmen und diejenigen, denen sie gehören, mich besser kennen als ich mich selbst? Das Leben ist ein Zeitvertreib. »Mündig« sind nicht meine Vernunft, mein sogenannter Wille und mein Wissen um mich selbst. Viel mündiger, weil kundiger, ist die Summe meines Verhaltens, in Algorithmen erfasst, erzählt es mir nicht nur, was ich getan habe und wer ich bin, sondern auch, was ich als Nächstes tun werde. In dieser Welt ist für Freiheit im altmodi-schen Sinne kein Platz mehr, allenfalls für die Freiheitsillusion, die Menschen halt ebenso brauchen wie ab und zu einen Blick ins Grüne, hinreichend Sport und ganz viel Anerkennung. Das Zauberwort des 21. Jahrhunderts ist nicht »Urteils-kraft«, sondern »Verhalten«. Für die Philosophen der Aufklä-rung war das Handeln des Menschen Ausdruck seiner Willens-entscheidungen. Aber zu Anfang des 20. Jahrhundert wendete

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sich das Blatt. Der Behaviorismus kam in Mode und mit ihm eine neue Sicht auf Organismen. Ob Tier oder Mensch, für ei-nen Forscher wie den US-amerikanischen Psychologen John B. Watson war jeder Organismus eine Reiz- und Reflexmaschine. Ein Lebewesen ertastet seine Umwelt und erfährt dabei Reiz-wirkungen. Reflexartig meidet es das, was Unlust hervorruft, und folgt dem, was Lust auslöst. Ob explizites Handeln oder implizites Denken — beides funktioniert nach dem gleichen Schema, mal äußerlich sichtbar und mal nicht. Lebewesen ent-scheiden nach einem Reiz-Reflex-Mechanismus, ihr Verhalten zu ändern. Beobachtet man diesen Vorgang lange genug, so lässt sich jedes Verhalten irgendwann sicher prognostizieren. Das Verhalten von Organismen mit technischen Systemen gleichzusetzen war danach nur noch ein kleiner Schritt. Ge-tan wurde er vom US-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener. Im Jahr 1943, als Wiener das Verhalten von Kampf-flugzeugpiloten im Zweiten Weltkrieg analysierte, begründet er die Kybernetik: die Wissenschaft der Steuerung und Rege-lung von Maschinen, lebenden Organismen und sozialen ()r-ganisationen. Denn ist Verhalten erst einmal analysiert, so kann man es gezielt steuern durch die Veränderung der I lin-welt. Wiener dachte dabei an so harmlose Dinge wie Prothe-sen anzufertigen, die sich gut steuern lassen. dachte nicht daran, aus seinen kybernetischen Einsichten ein ( ;eschafts1no dell zu machen und Menschen gezielt zu malnpilieren, indem man ihre Umwelt verändert. Später träumte er voll einer tomation«, die wie bei Oscar Wilde langweilige menschliche Arbeit ersetzt und Menschen dabei hilft, sich weiterzubilden, sich auszuprobieren und ihre künstlerischen Kihigk enen zu er-weitern. Schon der Titel seines 1948 erschienenen Ruchs war Programm: The Human Use of Human Beings - Cybernetics and Scociety (dt.: Mensch und Menschenmaschine — Kyber-

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netik und Gesellschaft). Intelligente Maschinen sollten »zum Nutzen des Menschen eingesetzt werden, ihm mehr Freizeit verschaffen und seinen geistigen Horizont erweitern, aber we-niger dazu, Profite zu machen oder die Maschine als neues Goldenes Kalb anzubeten«.17 In den folgenden Jahrzehnten spaltete sich die Kyberne-tik in zahlreiche Disziplinen, von der künstlichen Intelligenz-forschung bis zur Verhaltensökonomik. Deren letzter Schrei, das Nudging — das gezielte Ködern, um ein erwünschtes Ver-halten zu befördern —, brachte dem US-Ökonomen Richard Thaler 2017 den Nobelpreis ein. Sein Kollege Cass Sunstein wechselte, mit diesem Wissen ausgerüstet, bereits 2009 in die Informations- und Propagandaabteilung des Weißen Hauses. Ob man Maschinen programmiert oder Menschen kondi-tioniert — der gleiche Mechanismus bestimmt und steuert das Verhalten. Von einem Tabu, aus kybernetischer Steuerung Pro-fit zu schlagen, ist im 21. Jahrhundert allerdings keine Rede mehr. Seit Google, Facebook und Co. ist es das profitabelste Geschäftsmodell der Welt! Im ersten Schritt verkauft man die Daten von Menschen, die eine Suchmaschine oder ein sozia-les Netzwerk nutzen. Man setzt sie zu Profilen zusammen, tü-tet sie ein und offeriert sie an den Meistbietenden. Im zweiten Schritt analysiert man die Daten so, dass abzusehen ist, wel-ches Verhalten der User als nächstes an den Tag legt. Durch Informationsauswahl oder Kaufempfehlungen, mitunter ge-schickt versteckt, lässt sich dieses Verhalten zugleich steuern. Auf diese Weise wird Verhalten derart manipuliert, dass es den Wünschen des Unternehmens, seiner Werbekunden oder im Zweifelsfall auch denen von Geheimdiensten entspricht. Dass russische Hacker 2016 mit großer Wahrscheinlichkeit den US-amerikanischen Wahlkampf manipulierten, mochte damals noch ein Aufreger gewesen sein. Inzwischen weiß

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jeder, dass alle erdenklichen Regierungen, Firmen, Dienste und Organisationen Wahlen beeinflussen; schlichtweg des-halb, weil es so einfach geht. Und Wahlen sind in diesem Rei-gen nichts Besonderes. Wie irrelevant sind sie im Vergleich zur täglichen milliardenfachen Manipulation jedes einzelnen Menschen! Die sozialen Netzwerke verändern laufend die Umgebung, in der sich die Reiz- und Reaktions-Mechanis-men der User abspielen, und manipulieren damit Entschei-dungen, Wünsche, Vorlieben und Absichten. Nein, die Wer-te der Aufklärung und ihr pathetisches Menschenbild vom »Herren des eigenen Urteilsvermögens« kennt das Jahr 2040 nicht mehr. Es ist weder notwendig, um den Einzelnen glück-lich zu machen, noch braucht man es für die Postdemokra-tie — jene erfolgreiche Staatsform, welche Demokratie täu-schend echt simuliert, obwohl gewählte Politiker in ihr gar keine Macht mehr haben. Niemals würde sich die Politik auf dem Niveau der Kyber-netik des 21. Jahrhunderts auf Menschen verlassen, die wie auch immer Parlamentarier geworden sind. Warum die Zu-kunft der Gesellschaft den Unbilden der Demokratie über-lassen, statt sie effizient zu gestalten? Warum sie einem Volk überlassen, wenn man sie lenken und erzeugen kann? Ran-cieres Postdemokratie ist 2040 schon lange Realität. Politik wird modelliert und simuliert, medial verkauft und voll Tech-nokraten im Hinter- oder Vordergrund entschieden. Wahl-kämpfe dienen als Placebo, bedienen nostalgische Gefühlc und täuschen über die realen Machtverhältnisse hinweg. Schon in den 2010er Jahren waren sie so inszeniert, thematisch verengt und durchgeplant, dass wirkliches Leben in ihnen nicht mehr stattfand. »Kanzlerduelle« zwischen genau gleich konzept-losen Kandidaten waren sportliche Showdowns auf Yellow-Press-Niveau. Und was der britische Soziologe Colin Crouch

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bereits 2004 beobachtete — die immer negativere Bewertung öffentlicher und staatlicher Institutionen —, führte schließlich zu deren vollständiger Entmachtung. Was für die Wirtschaft gilt, gilt auch für die Politik: Der wirkliche Mächtige befindet sich unsichtbar auf der Rückseite des Spiegels.

Schauen wir uns das Jahr 2040 noch genauer an. Diejeni-gen, die 2018 versprachen, die Welt besser zu machen, haben fast sämtliche Macht übernommen. Eric Schmidts Slogan »To connect the world is to free the world« erscheint als blanker Zynismus. Wenige Menschen sagen Computern, was sie tun sollen. Viele tun das, was Computer ihnen sagen. Und noch mehr arbeiten gar nicht mehr. Sehr viele Tätigkeiten, die früher Fertigkeiten voraussetzten, müssen nicht mehr selbst geleis-tet werden. Die Folge ist eine historisch beispiellose Rückent-wicklung von handwerklichem Können, Orientierungsver-mögen und Bildung. Die Menschen haben verlernt Auto zu fahren, Karten zu lesen, sich alleine in der Welt zurechtzufin-den. Sie müssen sich nichts mehr merken, weil elektronische Geräte uns an alles erinnern, und speichern immer weniger Wissen über die Welt, weil Geräte dies für uns übernehmen. Die meisten Menschen sind wieder zu Kleinkindern geworden, in ihrem Wissen über die Welt, ihrer Abhängigkeit von (tech-nischer) Fürsorge und ihrem mangelnden Lebensmut, ohne Hilfsgerät (oder bald einem Chip im Kopf) das Haus zu verlas-sen. Kommunizieren tun sie durch steinzeitliche Piktogramme, und infantil teilen sie die Welt in Likes und Dislikes. Solchermaßen frei von Urteilskraft, lässt sich ihnen ihr Geld leicht entlocken. Seit den späten 2010er Jahren verzich-tet niemand mehr aufs Digital Pricing. Alle Preise, online und im Geschäft, sind nicht mehr verlässlich, sondern richten sich

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nach dem, wer kauft, wann er kauft und wie viele etwas kau-fen. So lässt sich der Kunde optimal ausnehmen. Intelligente Maschinen arbeiten mit Tausenden Faktoren, um Preise so an Verbraucher anzupassen, dass diese dabei stets den Kürzeren ziehen. Während Menschen, die sich ihr Leben lang und je-den Tag mit Preisen beschäftigen, versuchen, nicht unter die Räder zu kommen, werden alle anderen geschädigt. Lang-zeitkunden bei Versicherungen, Smartphones oder zu bezah-lenden Medienangeboten werden dafür bestraft. Aus Treue zum Kunden ist Verrat geworden. Doch auch hier greift das Prinzip der shifting baselines. Das alles geschieht so oft und so alltäglich in kleinen Schritten, dass es irgendwann keinen mehr stört. Die Amoralität von gestern ist die Normalität von morgen. Im Jahr 2040 regt das keinen mehr auf. Man trägt Chips in den Klamotten, die dem Hersteller den jeweiligen Standort verraten. Und wer auch immer irgendwo etwas kauft, ist seit-dem in dessen Visier. Algorithmen bestimmen alles. Und für jeden Lebensbereich gibt es Waren und Glücksversprecher. An unseren Spuren im Netz erkennt man, wer wir sind. Und unse-re Netzidentität gilt in dieser Welt als objektiver und da miti-c-aler als das, wofür wir uns selbst halten. Unser I...eben ist nicht Sein, sondern Design, eine an unsere errechneten Redürfnis-se angepasste Benutzeroberfläche. Nirgendwo stellt sich uns ein Widerstand entgegen. Unsere Umwelt ist intelligent wie im Schlaraffenland. Die Dinge gehorchen uns aufs Wort und kommen zu uns gefahren und geflogen, noch bevor wir sie ge-rufen haben. Nicht nur unsere Städte sind smart, unsere Woh-nungen sind es auch; alles funktioniert auf Fingerschnippen. Der Mangel an Kriminalität und Gefahren macht uns so frei„ dass wir eigentlich die Haustür aushängen könnten, wie die Bewohner von Thomas Morus' Insel Utopia. Wie herrlich ist

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doch die Freiheit in der Unfreiheit; es gibt kein falsches Leben in der richtigen Matrix. Überfordert davon sind nur die Alten, die eine andere Zeit kannten und im Super- oder Gigamarkt darunter leiden, dass niemand mehr mit ihnen spricht, weil keiner da ist, außer dem Roboter mit den Kulleraugen, der aussieht wie ein Staub-sauger. Oder die sich die tausend Zahlen, Zugangscodes und Kennwörter nicht mehr merken können, auch nicht die zu den Apps, die eben dabei helfen sollen. Kinder, die 2018 geboren wurden, haben damit allerdings kein Problem. Sie haben sich daran gewöhnt, sich Passwörter und Codes zu merken statt alles andere. Allerdings werden sie im Alter nicht auf eine Welt zurück-blicken können, sondern nur auf Beschäftigungen und Spiele. Zwar hätten deren Eltern noch 2018 erkennen können, wo-rin der Wert einer »Welt« liegt, eines Lebens, das man sich mit Versuch und Irrtum durch gute und schlechte Erfahrungen ge-staltet hat. Und je älter man wird, umso bewusster wird einem in der Regel der emotionale, der kreative und der moralische Grundstock der eigenen Kindheit. Aber genau diese Eltern ha-ben schon in den 2010er Jahren ihren eigenen Kindern nahe-zu alle schlechten Erfahrungen vorsorglich erspart und sie in technische Superwelten abtauchen lassen, die sie völlig ohne das Risiko eigener Erfahrungen begehen konnten und die sie nicht selbst mitgestaltet haben. So haben sie bei jedem richtig getuteten Flötenton zwar eine Hochbegabung gewittert und getwittert, aber gleichzeitig zugesehen, wie sich die Finger-fertigkeit ihrer Kleinen aufs Tippen und Wischen reduzierte. Dass die Zeit, die Kinder mit Smartphones und Tablets ver-bringen, Zeit ist, die sie nicht anderweitig nutzen, war ihnen durchaus klar. Das Leben baut nichts auf, wozu es nicht die Steine woanders herholt. Aber wichtiger noch als die heh-

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ren Erziehungsideale waren ihnen letztlich doch der häusliche Frieden und Kinder, die deshalb nicht quengeln und nerven, weil ein Flachbildschirm sie bespaßt. Die Generation der Anfang Zwanzigjährigen ist 2040 weit-gehend das geworden, was die Marktforschung schon zum Zeitpunkt ihrer Geburt als Charakter ihrer Zielgruppe defi-niert hat. Sie sind nicht Mensch oder Bürger, sondern Kun-de, User oder Verbraucher und als diese egoistisch, ungedul-dig und faul. In dieser Hinsicht hat sie die allgegenwärtige Werbung mit einem Milliardenaufwand seit ihrer Geburt um-schmeichelt und daran appelliert, sich Vorteile vor anderen zu verschaffen, diese neidisch zu machen und alles sofort zu erwarten und sich mit nichts mehr Mühe geben zu müssen. Da diese Kinder die unendliche Dosis an Liebe, die ihre Eltern ihnen geschenkt haben, später dauerhaft bei kaum ei-nem Partner finden können, werden sie Nomaden, die pausen-los ihr Glück suchen, weil sie den Zwischenzustand zwischen lustvollen Ereignissen immer schlechter ertragen. Der alltäg-liche Bedarf an Außeralltäglichem ist enorm. Ihr Lebensfilm muss schnell geschnitten sein, pausenlos voller Überraschun-gen und Höhepunkte, aber zugleich ohne Risiko. Und in al-lem suchen sie den optimalen Nutzen, das ultimative Erleb-nis zum günstigsten Preis, was Aufwand und Geld betrifft. Ihr Leben hat sich der Diktatur des »um zu« unterworfen. Alles, was man tut, verfolgt einen Zweck, zumeist den, Spaß zu ha-ben. Die Sehnsucht gilt dem Elysium, wie im gleichnamigen US-Spielfilm von 2013, in dem die Privilegierten ihr schönes buntes Leben feiern, während die Erde, abgewirtschaftet und überbevölkert, den Bach runtergeht. Da das tatsächliche Ely-sium allerdings nach wie vor wenigen vorbehalten ist und der Aufenthalt in dieser Welt der Profiteure vererbt wird, bespa-ßen die Herrschenden alle anderen mit Millionen Produkten

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aus der Sinn- und Unsinnsindustrie. Die Grenzen zwischen Re-alität und Fiktion verschwimmen im Alltag so sehr, dass sich die Frage danach nicht mehr stellt. So lässt sich die Horrorwelt der Megacitys in den Entwick-lungsländern ebenso aushalten wie der verheerende Zustand des Planeten, der den Herrschenden im Jahr 2040 so gleich-gültig ist wie im Jahr 2018. Keine digitale Supermacht hat sich dieser Probleme angenommen, sondern stattdessen die Fäul-nis und den Schimmel der Welt immer nur neu mit frischen Farbschichten überblendet. Die durchfiktionalisierte Gesell-schaft lässt Elend, Armut und Umweltkatastrophen als In-formationen unter anderen erscheinen, eine Wischbewegung weiter wird es wieder bunt und lustig. Die Hunderttausende von Toten, die jedes Jahr an den Grenzen der privilegierten Welt erschossen werden, weil auch sie ins grundversorgte di-gitale Nirwana drängen, sind bekannt, kommen aber im mo-ralischen Bewusstsein so wenig vor wie etwa im Jahr 2018 die Gräuel der industriellen Tierhaltung; nicht schön, aber es geht wohl nicht anders. Verdrängt wird auch das eigene Alter. Die Chance, körper-lich intakt über einhundert Jahre alt zu werden, ist 2040 groß. Die Menschen werden gesundheitlich dauerhaft überwacht, die Daten gesammelt und sekündlich ausgewertet. Nicht zu-letzt die Krankenkassen bestehen darauf. Gentechnik und Re-produktionsmedizin wirken wahre Wunder. Nur die Demenz lässt sich nicht ausrotten, vielleicht weil deren Erforschung der Gesellschaft auch 2040 weniger Geld wert ist als die Mil-lionen standardisierter Schönheitsoperationen. Wer es ins Ely-sium geschafft hat oder — besser noch — dort hineingeboren wurde, wird im Alter von Menschen gepflegt. Es sind smarte hübsche Pfleger und Pflegerinnen, adrett wie aus der Zahnpas-ta-Werbung. Wer nicht dazugehört, um den kümmert sich ein

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süßer Roboter mit starken Armen und kuscheligem Fell. Alles ist gut, denn der innere Kompass, der zwischen Organischem und Anorganischem unterscheidet, ist längst abgestellt, eben-so wie das Gefühl für das eigene körperliche Befinden. Wie es mir geht, weiß nur noch die Maschine. Sie ist mein verlänger-tes Ich, mein Herr und Hüter. Sie hilft uns aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen. So wie die Menschen 2040 das Gefühl für ihren Körper verloren haben oder erst gar nicht mehr gewannen, so hat sie auch der Instinkt für das Biologische im Allgemeinen verlas-sen. Die Menschen der Zukunft fühlen sich näher mit Com-putern verwandt als mit anderen Tieren. Unser Gefühl für den Zusammenhang der Natur ist verloren gegangen. Die Welten, in denen Menschen 2040 leben, haben nichts mehr mit unmit-telbarer Naturerfahrung zu tun. Was uns begegnet, stammt aus Menschen- oder Maschinenhand, ist Kultur- oder Tech-nikwelt — und auch diese sind ununterscheidbar miteinander verschmolzen. Alles, was wir sehen, spiegelt den Menschen wider. Diese Welt ist ohne Transzendenz. Denn je mehr der Mensch via Technik über die Natur herrscht, umso seelenlo-ser erscheint ihm das Beherrschte. Staunen erregen nur noch die Gimmicks der Technik, insze-niert in den Tempelhallen des Konsums, illuminiert wie Prezi-osen, zelebriert als Kultgegenstände. Wieners Angst vor dem goldenen Kalb bestätigt sich bereits in den Apple-Stores des frühen 21. Jahrhunderts. In der Feier seiner technischen Leis-tungen frönt der Mensch einem kollektiven Narzissmus. Es gibt keine Werte mehr, die wir nicht selbst geschaffen haben. Die Natur ist entwertet, viel zu unspektakulär geworden und für unsere Kinder nichts als eine Enttäuschung an Langsam-keit und überschaubaren Dimensionen. Gegen die Simula-tion hält die Wirklichkeit nicht stand. Gefühlsdimensionen

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wie »Heimat«, »Natur«, »Ursprünglichkeit«, »Authentizität«, »Geborgenheit« und so weiter sterben aus. Irgendwann weiß keiner mehr, was das war, und dass es ihm fehlt. Der Mensch des Jahres 2040 lebt in einer digitalen Obdachlosigkeit. Wer mit seinen Bits und Bytes überall zu Hause ist, ist nirgendwo zu Hause! Darüber täuschen auch nicht die Psychotope hinweg, die hierarchielosen Großraumbüros des Silicon Valley mit ihren rund ausgeschnittenen Kreativ-Schreibtischen, die Fitnessstu-dios und Glasgewächshäuser, die das Immersionsgehege für Geeks angenehm machen sollen; eine Welt, so natürlich wie Mallorca am Nil auf Hawaii, inzwischen in allen Unterneh-men der Welt kopiert. Die Lebenswelten ihrer Bewohner sind arm an Erfahrung und angefüllt nur mit medial vermittelten Bildern. Wie anders ließe sich erklären, dass hier niemand eine Antwort auf den Hunger, die Ungerechtigkeit in der Welt, auf Migration, auf die Plünderung des Planeten sucht? Die Welt der Geeks scheint all dies nicht zu kennen, sondern sie trägt seelenruhig dazu bei, die echten Probleme der Welt zu vergrö-ßern, während man über Lösungen für Probleme nachdenkt, die noch nie welche waren. Man denke an die 3D-Brillen, die ein ostasiatischer Hersteller Ende der 2010er Jahre entwickel-te, die jedem Lufthansa-Passagier auf dem Flug einen so tol-len Idealfilm seines Urlaubsziels zeigte, dass das reale Land nur noch eine Enttäuschung sein konnte. Keine Wirklichkeit löst mehr ein, was das Kopfkino verspricht. Oder jene Passa-giere, die mit ihren Darth-Vader-Masken der gleichen Firma durch den Fußboden des Fliegers gucken konnten, bis ihnen so kotzübel von der Armut unter ihren Füßen wurde, dass sie es wieder bleiben ließen. Wer so etwas entwickelte, ver-riet bereits lange vor 2040: Der Instinkt für die Realität ist verloschen! Und statt die Sorgen und Nöte der Welt zu hören, träumte man davon, Menschen vollständig mit Maschi-nen zu verschmelzen. Oder noch besser, den Supermenschen zu erzeugen ...

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* Braucht der Supermensch kein sauberes Trinkwasser, keinen Regenwald, kein Leben in den Ozeanen mehr? Kommt er mit jedem Klima auf der Erde zurecht? Muss er sich nicht mehr von dem ernähren, was die Erde hervorbringt? Wie seltsam, dass sich der Vizepräsident von Google, Sebastian Thrun, 2016 nicht die geringsten Gedanken darüber machte, als er vom »Supermenschen« schwärmte. »Durch künstliche Intel-ligenz wird es uns möglich sein, noch stärker als bisher über die natürlichen biologischen Grenzen unserer Sinne und Fä-higkeiten hinauszugehen. Wir werden uns an alles erinnern, jeden kennen, wir werden Dinge erschaffen können, die uns jetzt noch völlig unmöglich oder gar undenkbar erscheinen.« Seltsam, dass damals keiner schmunzelte, weil das Ziel, uns an alles zu erinnern und jeden zu kennen, so idiotisch war. Und dass der Interviewer sich nicht vor Lachen die Hand vor den Mund halten musste, als Thrun auf die Frage »Was treibst du eigentlich, wenn du Feierabend machst und abends nach Hau-se kommst? Wie schaltest du ab?« antwortete: »Es gibt keinen Schalter. Meine Familie und ich streben gemeinsam danach, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.« Macht uns Thruns Welt glücklicher, oder macht sie uns irre? Sollen wir tatsächlich wie er und seine Freunde danach streben, den Tod zu besiegen, während die Weltbevölkerung immer rasanter zunimmt und die Lebensressourcen des Pla-neten schwinden? Der Mensch hat den Instinkt verloren, sich als Säugetier weiterhin in seiner Natur zurechtzufinden und sich in sie einzupassen. Seit dem Beginn kapitalistischen Wirt-

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schaftens behandelt er seine Umgebung wie ein Virus, das sei-nen Wirt befällt, ausbeutet, zerstört und dann weiterzieht, bis es keine angemessene Umgebung mehr finden kann. Auch das Jahr 2040 ist noch bestimmt von dieser zerstö-rerischen Lebensweise. Und die kindliche Fantasie vom Men-schen als einem technoiden Supermann ist nicht ausgeträumt. (Tanz im Gegenteil: Der Kult des Inhumanen hat sogar noch weiter zugenommen! Technik ist Religion, und schon 2060, so versprechen es ihre Hohepriester im Jahr 2040, werden die Gestorbenen sich in einer Matrix digital speichern las-sen. Das Gehirn — digital konserviert! Reinkarnation in der Technosphäre lautet die Verheißung. All das hatte schon in den 2010er Jahren der Leiter der technischen Entwicklungsab-teilung bei Google, ein Mann mit dem launigen Namen Ray-mond Kurzweil, prognostiziert. Was er nicht sah, war, dass für die Unsterblichkeit auf der Erde kein Platz mehr war. Denn während wir noch 2040 daran arbeiteten, unsterblich zu wer-den, schafften wir parallel dazu durch Energie- und Ressour-cenverbrauch die Menschheit ab. Die Menschen sollten nie erfahren, ob eines Tages, gleich-sam naturgesetzlich, wie die Auguren der Technik vorhersag-ten, das Zeitalter der »Singularität« einbrechen würde — das Zeitalter der künstlichen Intelligenz, die das Anthropozän be-endete. Denn noch lange bevor eine übermenschliche Intel-ligenz das Ende der Menschheit einläuten konnte, war der Planet Erde unbewohnbar geworden. Zumindest diese Sorge also, die Angst vor der fünften industriellen Revolution, war umsonst. Der Kampf von Mensch gegen Maschine, vorhergedacht in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum, fand nicht mehr statt. Und auch das Problem, wie man künstiche Intelligenz mit guter menschlicher Moral austatten konnte, das den »Transhumanisten« Nick Bostrom Zeit seines Lebens

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beschäftigen sollte, stellte sich am Ende nicht mehr. Er hat-te die Frage für die Gesellschaft der Menschen stellen müssen! Die nämlich löschten sich 2070 ganz ohne die Ermäch-tigung böser Superroboter aus — dadurch, dass sie weiter an ihrer künstlichen Intelligenz bastelten, ohne ihre natürliche dafür einzusetzen, ihre tatsächlichen Probleme zu lösen. Die Supercomputer, Riesenserver und nur fast allmachtigen Robo-ter aber blieben unvollendet auf der Erde zurück wie Fahne, Fahrzeug, Sonden und Satelliten der Astronauten in der ewi-gen Stille des Mondes. Doch unten auf der Erde frisst sie die Zeit, nagt über Jahrmillionen der Rost an ihnen. Was wird von ihnen bleiben? Nur das, was über sie hinwegfegt — der Wind!

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