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High tech vagy low tech? | öko-retro-bio-grín

PRECHT DEUTSCH 83-98

2018. október 26. 07:57 - RózsaSá

PRECHT DEUTSCH 83-98

Das Vergangene ist nie tot

Die Retropie

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Gesellschaften brauchen ihre Geschichte. Sie gibt dem Relief unseres Lebens seine Tiefe. Sie ist ihr Resonanzraum. Das Ge-wordene kann sich nur als das, was es ist, erkennen, indem es weiß, woraus es geworden ist. Menschen sind Bewohner drei-er Zeiträume: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Inso-fern ist das Vergangene nie tot, ja, es ist nicht einmal vergan-gen — jedenfalls nicht, solange es in den Köpfen von Menschen gegenwärtig ist. Und die Zukunft ist nie ein Versprechen an sich, sondern sie ist es immer nur im Horizont einer Gegen-wart, deren Sorgen sie lindert. Die Nöte und Notwendigkeiten des menschlichen Lebens folgen nicht dem Schema von Problem und Lösung. Fast alles, was uns im Leben wert und wichtig ist, ist weder ein Problem noch die Lösung desselben. Unsere Widersprüche und Eigen-heiten, unsere unverarbeiteten Erfahrungen, unsere schillern-den Erinnerungen, unsere Passionen, unsere Erfolge und Nie-derlagen verschwinden nicht dadurch, dass jemand Lösungen für sie anbietet. Und keine Zukunft bricht an, die nicht ge-tränkt wäre von lieb gewordener und durchlittener, abgestreif-ter und mitgeschleppter Vergangenheit. Menschen lieben das, was sie sind, oft mehr, als sie selbst wissen. Sie schätzen ihre Er-fahrungen, eben weil es ihre Erfahrungen sind. Denn was sind wir im Alter anderes, als unsere eigene Geschichte.

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Kein Wunder, dass Menschen Erschütterungen und Umbrü-che — Disruptionen eben — nur selten oder einzig dann schät-zen, wenn sie sich unmittelbaren Vorteil davon versprechen. Normalerweise hingegen mögen sie es sehr, in Raum und Zeit den festen Boden von Traditionen, Überlieferungen, Gewohn-tem und Fortsetzbarem zu spüren. Dass sich die Dimensio-nen derzeit rasant verschieben — Millionen Menschen, die von anderen Kontinenten nach Europa oder in die USA drängen, gepaart mit einer enormen Beschleunigung der Zeit, die al-les, was gestern galt, nichtet —, erzeugt eine Angst, die nicht einfach nur irrational ist. Viele Ängste des Menschen mögen zwar im Wortsinne nicht rational sein, sondern eben emoti-onal — aber sie sind durchaus vernünftig. Ängste sichern das menschliche Überleben seit den Anfängen unserer Spezies. Ein Dach über dem Kopf, ein überschaubares Terrain und Lebens-vorgänge, die ich deuten und verstehen kann, sind biologisch wichtig und damit auch psychologisch. In einer Wirtschafts-form, die allen Raum auf unserem Planeten entgrenzt, Kul-turen im Eiltempo entwurzelt, Tradition durch Neues ersetzt, flache Gesellschaften in Arm und Reich spaltet und überall Bedürfnisse und Bedarf weckt, sind solche Seelenheimaten be-langlos. Ein ähnlicher Wandel vollzieht sich mit unserem Zeit-empfinden. Unsere Wirtschaft hat den Wandel, die Beschleu-nigung und die Veränderung zur Religion gemacht. Sie erklärt das Werden zum Kult auf Kosten des Seins. Auf diese Weise bedroht sie sich unausgesetzt mit ihrer eigenen Vergangenheit. Althergebrachtes ist anrüchig, weil es alt ist. Die Koordinaten von Zeit und Raum, in denen Menschen noch im 20. Jahrhundert lebten, lösen sich auf. Die Erfah-rungen, die Menschen aus dieser Zeit miteinander teilen, ihre Gemeinsamkeiten werden in Windeseile zu Vergangenem und Abgelegtem. Die Propagandisten der Digitalisierung,

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wie wir sie bisher kennen, fragen nicht, ob man das, was man bewirbt, gut und richtig findet, und auch nicht, ob es sich mit unseren Werten verträgt. Die Frage ist, ob wir es rechtzeitig tun, da-mit wir nicht den Anschluss verlieren. Aus einer moralischen Frage ist eine Zeitfrage geworden. Nicht Urteilskraft, Bewer-tung und Zustimmung bestimmen über die Gesellschaft der Zukunft, sondern Sachzwänge. In diesem Sinne kürzt die Be-schleunigung die Moralität heraus: Digitalisierung first — Be-denken second. Doch wer vermittelt, dass er die Vergangenheit und die Ge-genwart nicht mehr für fortsetzbar hält, jedenfalls nicht kon-tinuierlich, der darf sich über eine Flut von Bedenken nicht wundern. Die Menschen in Deutschland 2018 leben noch nicht in der dystopischen Duldungsstarre von 2040. Kann man verdenken, dass auf Wirtschaftsforen auch im Jahr 2018 im Publikum ergraute Wölfe sitzen, die schon viel Schnee ge-sehen haben und die sich den Berufsoptimismus der Technik-Gurus nicht länger anhören wollen? Wenn die Gedanken in eine gute alte Zeit wandern, als Manager noch Deutsch konn-ten und Dinge gut waren, weil bewährt? Als Eltern und Kin-der noch dasselbe schlechte Fernsehen schauten und bei Tisch miteinander sprachen? Wo Männer noch Männer waren und nicht beinglatte Wollmützenjungs? Sie fühlen, dass die Tech-niker den Menschen noch nie verstanden haben und dass er den Finanzspekulanten egal ist. Warum also sollte man die Zukunft ausgerechnet ihnen überlassen? Sie fühlen es, aber sie finden dafür nur selten die passen-den Worte. Und sie sind leise und vorsichtig in ihrer Kritik. Sie wissen, dass ihr Unbehagen nicht gefragt ist. Und wollen sie sich zum alten Eisen ausmustern, als Ewiggestrige abstem-peln lassen? Ja, ja, die Menschen haben sich schon immer vor Umbrüchen gefürchtet; die Maschinenstürmer zu Anfang des

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19. Jahrhunderts haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt und Kaiser Wilhelm II. was vom Pferd erzählt. Und hat's nicht (fast) alle am Ende freier, gesünder und reicher gemacht? Ist der Fortschritt für dich zu stark, so bist du zu schwach. Die Fisherman's-Friend-Logik lässt noch jeden seelenvertriebenen Zukunftsskeptiker in der Wirtschaft verstummen. So bleibt er mit seinen Sorgen allein. Was ehedem richtig und sinnvoll war, ist es nicht mehr. Sein Job verlangt von ihm, dass er bei etwas mitmacht, was er nicht überschaut, nicht ab-sehen kann und bei dem ihm seine Gefühle im Weg stehen. Sein Wissen und Können von gestern sind im Digitalzeital-ter nichts wert. Was soll er seinen Kindern weitergeben? Sei-ne Lebensweisheiten und Denkgewohnheiten, das technische Know-how, die Sitten und Gebräuche veralten wie die Mö-bel. Was seinen Großeltern noch ein Leben lang ein Zuhause war, wechselt im Takt von Dezennien. Braucht noch jemand seine Bücher? Seine Kinder haben nicht einmal Regale. Und niemals wird er zu ihnen sagen können: »Mach es wie ich!« Doch die Gedanken, Gefühle und Interessen der Menschen scheinen nicht mehr zu zählen. Für den weltklugen irischen Konservativen Edmund Burke, einen Schriftsteller und Politi-ker des 18. Jahrhunderts, waren sie der einzige feste Halt von Autorität. Nicht Gesetze, Sätze auf Papier mit Unterschrif-ten, entscheiden darüber, ob eine Gesellschaft zusammenhält, blüht und sich entwickelt, sondern ihre »Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Sympathien füreinander«. Ihre »Sitten, Umgangsformen und Lebensgewohnheiten« stiften den so-zialen Kitt; »Verpflichtungen, die mit dem Herzen besiegelt wurden «.1' Doch offenkundig kümmern sich die großen Di-gitalkonzerne bei der Ausübung ihrer neuen Weltherrschaft herzlich wenig um die Maxime, Macht auf Sitten und Ge-bräuchen zu gründen. Die digitale Revolution ist nicht nur ein

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Angriff auf den Arbeitsmarkt und das Zusammenleben, son-dern auch auf die Ästhetik der Völker. Mode und Sprache nor-mieren sich gleichermaßen, und aus Deutsch wird Denglisch. Selbst die Kreativität wird normiert, ist sie erst einmal einge-friedet in Großraumbüros und Future Labs. Ein Zugewinn an Manieren, Distinktionen und Stil, an regionalen Eigenhei-ten und neuen Traditionen ist weniger in Sicht. Wo auch im-mer sich die digitale Zivilisation ausbreitet, nirgendwo passen sich die Digitalkonzerne an die Kultur an. Im Gegenteil: Ihre Einheitszivilisation in Hoodys und Sneakers ist hochinvasiv. Und für Burkes »Sitten, Umgangsformen und Lebensgewohn-heiten« reicht der Gebrauch von Smartphones bei Deutschen, Kirgisen, Massai und IS-Kriegern nicht aus. Smartphones stif-ten keine Wertegemeinschaft! Soll die Welt aus dieser Haltung heraus zu einem bes-seren Ort gemacht werden, so setzt sie sich dabei über die unüberschaubaren und unergründlichen Eigenheiten des menschlichen Lebens und Zusammenlebens hinweg. Und sie überschätzt das menschliche Veränderungspotenzial und Ver-änderungsbedürfnis erheblich — nicht anders als die Tugend-terroristen der Französischen Revolution oder die »Erfinder« des »neuen Menschen« in Stalinismus und Maoismus. Statt eines Menschheitsfriedens schufen sie Unruhe, Entwurzelung, Neid und Hass. Herrschaft muss auf Zustimmung gründen, nicht auf kultisch verklärten Idealen, seien sie die Tugend, die absolute Gerechtigkeit, die völlige Gleichheit oder die zu Erlö-sungsfantasien verkitschte Technik. Und wer die Suchmaschi-ne von Google benutzt oder sich auf Facebook oder Instagram herumtreibt und WhatsApp-Nachrichten schreibt, hat seine bewusste Zustimmung nur einer Dienstleistung gegeben, nicht aber einem globalen Herrschaftsanspruch undurchschaubarer Digitalkonzerne.

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Dass das, was sich in den Ländern des Westens gegenwär-tig ereignet, nicht auf Zustimmung beruht, ist das Gefühl vie-ler Menschen — trotz freier Wahlen. Über Fragen der Glo-balisierung oder der Einheitszivilisation wurde nirgendwo abgestimmt. Zumindest ihre Folgen aber werden nun zum Thema; insbesondere die, dass die Menschenströme stets den Kapitalströmen folgen — jedenfalls dann, wenn sie die Mög-lichkeit dazu haben. Überall in Europa wird die Globalisierung heute vor al-lem an dieser einen, weithin sichtbaren Folge diskutiert. Die bunten Gesellen, vom Sturmwind verweht, die Glückssucher mit Plastiktüten, Kopftüchern und Kunstlederjacken, die ihre üblen Erfahrungen und unerfüllten Träume mitbringen, sind keine Ursache von irgendetwas, sondern die Folge unseres Wirtschaftens, sind Folge von ungleichen Lebenschancen und Ressourcen. Doch gerade an ihnen entzünden sich die Ge-müter, findet das gesellschaftliche Unbehagen in unserer Zeit sein Ventil. In Deutschland, nicht anders als in anderen euro-päischen Ländern oder unter Trump-Wählern, träumen vie-le von Abschottung, um ihre Wohlfühlmatrix nicht teilen zu müssen. Doch glauben sie wirklich, wir bekommen eine Glo-balisierung de luxe? Nur die Sonnenseite und nicht die Schat-ten? Europa als digitales Schlaraffenland? Eine Kultur- und Denkmalschutzoase für überalterte, schönheitsoperierte User und Konsumenten? Ein Welterholungsgebiet für Wohlhaben-de, vom Naturschutz konserviert und vom Klimawandel zu vielen neuen Blüten gebracht? Zugeschüttet durch Produkte aller Couleur von den laufenden Bändern in China und Bang-ladesch, verkauft als unendlicher Spaß aus der Sinn- und Un-sinnproduktion? Doch die Sehnsucht nach einem besseren Gestern, nach ei-nem Heil in der Vergangenheit ist allgegenwertig. Noch hiin-

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gen in Deutschland mehr Menschen einer solchen Retropie an als gegen eine wahrscheinliche digitale Dystopie aufbegehren. Geflüchtete Menschen auf den Straßen sind sichtbarer, lauter und für viele verstörender als Algorithmen. Doch anders als die Dystopie lässt sich die Retropie nicht darstellen. In ihrer Angst, Überforderung, Unsicherheit, Aggression und in ihrem Hass schreien Menschen auf deutschen Marktplätzen und in Bierkellern: »Deutschland! « Doch was ist Deutschland, und zu welchem Deutschland wollen sie zurück? Wo beginnt sein Ausverkauf? Sind Pizzerien so undeutsch wie Sushi und Dö-nerbuden? Ist das Smartphone deutsch? Sind Up- und Down-loaden urdeutsche Tätigkeiten? Was war Deutschland einst? Das Land der frühen Ladenschlusszeiten, das Land von Men-schen, die noch aus Pflichtgefühl in die Kirche gingen, und in dem selbst Studenten sich siezten? Ein Land, dessen Gastro-nomie weitgehend aus Strammem Max und Zigeunerschnitzel bestand; dessen Liedgut von geduldeten Ausländern wie Vico Torriani und Caterina Valente bestimmt wurde, bevor in den Siebzigern mit Gesangsmigranten wie Roberto Blanco, Vicky Leandros, Demis Roussos oder Bata Illic alle Dämme brachen. Was ist heute noch deutsch? Blaue Schilder auf Autobahnen? Frakturschrift? Sauerkraut? Die AfD beschwört auf Marktplätzen die tausendjährige Geschichte Deutschlands. Das ist, trotz finsterer Reminiszenz, nicht falsch. Aber wenn diese Geschichte im 21. Jahrhundert möglicherweise zu Ende geht, so liegt das nicht einfach an den Geflüchteten. Deutschland schafft sich im Eiltempo ab durch die Globalisierung von Waren und Dienstleistungen. Der durchschnittliche Deutsche verbringt mehr Zeit am Tag im global village als in jenem Gebilde, dem die Wetterkarte eine Form und der Fußball ein Gefühl gibt. Er feiert X-mas und kauft dafür in seelenlosen globalen Ladenketten ein, ganz

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gleich, ob auf dem Disneylandpflaster der Fußgängerzone oder im Internet. Das Deutschland der Rechten dagegen ist eine Bierfanta-sie, ein Land, das sich nicht vorstellen lässt und das es nicht . gibt. Tatsächlich leben wir längst in einer Universalkultur, in der es nun wirklich nicht drauf ankommt, ob ein Syrer oder ein Deutscher digitales Spielzeug bedient, das in den USA er-funden, in Korea vermarktet, von chinesischen Kindern zu-sammengeschraubt und mit Seltenen Erden bestückt wurde, die ein hungernder Hilfsarbeiter im Kongo aus der Erde ge-graben hat. An alldem haben Deutsche entweder Gefallen gefunden oder es zumindest als ökonomisches Naturgesetz akzeptiert. Unsere Vorstellung von Deutschland — ein ethnisches Volk, ein gesichertes Staatsgebiet, ein geschlossener Wirtschaftsraum —stammt dagegen aus dem 19. Jahrhundert. In der bildschirm-flachen Welt des 21. Jahrhunderts hat dieses Bild seine Kon-turen verloren. Der Markt ebnet alles ein, Geld kennt keine Vaterländer und keine Muttersprache. Dies ist kein politi-sches Versagen, sondern der Lauf der Weltgeschichte, getrie-ben von der unaufhaltsamen Dampf- und Wohlstandsmaschi-ne der Ökonomie. Nichts würde deutscher an Deutschland, wenn die AfD die Kanzlerin stellte. Dass unsere Kinder wieder früher heiraten und sich kleine Idyllen aufbauen, wird daran nichts ändern. Als Seelenrefugium, verniedlicht mit einer fei-nen Portion schwedischem Bullerbü, wird das deutsche Idyll noch lange seinen Dienst tun. Aber es wird eben nur ein Ge-fühl innerhalb einer alles umfassenden world.com sein, mit-nichten etwas, was eine eigene Identität beanspruchen kann. Vor mehr als zwanzig Jahren hat der US-amerikanische Po litologe Benjamin Barber sein Buch Jihad vs. McWorld ((;oca-Cola und Heiliger Krieg) veröffentlicht. Es war die Geschichte

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der immer weiter voranschreitenden kapitalistischen Einheits-zivilisation McWorld und ihrer Feinde, der Tribalisten jeg-licher Sorte, kurz des Dschihad. Barber war schlau genug, diesen Dschihad nicht als »die arabische Kultur« zu identifi-zieren, wie es der Ideologe Samuel Huntington ein Jahr spä-ter tat, als er vom Clash of Civilizations sprach. Für Barber bekämpften sich nicht der Westen und die Araber, sondern die blutleere Profitwirtschaft und die blutige Politik derjeni-gen, die an vielen Orten der Welt um ihre Identität fürchten. Und während Huntington die Freiheit des Westens im Kampf gegen die Unfreiheit des Orients sah, bedrohten für Barber beide, McWorld und Dschihad, gleichermaßen die bürgerli-che Freiheit. Erstere, indem sie sich über sie global hinweg-setzt, Letzterer, indem er seine Identität rücksichtslos verab-solutiert. In den Zeiten von TTIP und NSA auf der einen, dem IS auf der anderen Seite erscheint Barbers Analyse prophetisch und frappierend aktuell. Aus Bürgern sind Konsumenten und User geworden, und der islamistische Extremismus blüht in der arabischen Welt stärker denn je. Nur die Formulierung »McWorld« erscheint heute auf abständige Weise als niedlich. Wer heute die globale ökonomische Matrix beschreibt, denkt nicht an einen schlingernden Fast-Food-Konzern, sondern an die allmächtige Digitalindustrie, die Barher noch kaum ahnen konnte. Die uniforme Verwertungszivilisation unserer Zeit ist besser bezeichnet als world.com. Sie ist das Räderwerk, das unsere Welt gestaltet und verändert und alle Stammeskämpfer zu Statisten macht, ob IS, Front National, Esquerra Repub-licana de Catalunya oder Pegida. Arabischer, französischer, katalanischer oder sächsischer Tribalismus sind blutige, laute oder schräge Phänomene unserer Zeit — sie werden den Gang der Weltgeschichte nicht aufhalten. Derzeit gewinnen jene,

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die an die unsichtbare Hand des Marktes glauben und nicht an andere unsichtbare Mächte wie Gott, Glorie und Heimat. In ihrer Sehnsucht nach Heimat, traditionellen Werten, reli-giösen Bindungen, kultureller Identität und Autoritätsglauben sind sich konservative Nationalisten und islamistische Funda-mentalisten erstaunlich eins. Beide misstrauen sie dem Frem-den, beide glauben, zu den tapferen Aufrechten in feindli-cher Umgebung zu gehören, und fühlen sich vom libertinären Mainstream überrollt, nicht wertgeschätzt und missverstan-den. In wechselseitiger Ablehnung vereint, geben sie dem Kon-servativen in unserer Zeit ein Gesicht, begleitet von der Sehn-sucht nach einer seligeren Zeit in der Vergangenheit. Denn wahrscheinlich war früher alles besser — wenn nicht bereits früher alles Frühere besser gewesen wäre. Doch es geht hier nicht um den infiniten Regress des Kon-servativen. Es geht darum, dass man den konservativen Ab-wehrreflex in unserer Zeit ernst nehmen muss, weil tatsäch-lich Werte auf dem Spiel stehen, die vielen Menschen etwas bedeuten und ihren Seelen einen Rahmen geben. Nur ihre al-bernen Auswüchse eignen sich für Ironie und Spott. Pegida, kurz für Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes — der Name einer solchen Bewegung verführt in der Tat zum Schmunzeln. Monty Python lässt grüßen. Patrio-tische Europäer — was ist das? Jemand, dessen Vaterland Eu-ropa ist, oder jemand, der sein Vaterland innerhalb Europas verteidigt? Was ist der Unterschied zwischen einem patrioti-schen Europäer und einem europäischen Patrioten? Ein Kla-mauk-Stück, weil beide sich aufs Heftigste bekämpfen müss-ten. Zumal schon allerorten patriotische Islamisten gegen die Europäisierung des Morgenlands unterwegs sind, sei es als IS, als al-Qaida oder sonst wer. Mörderbanden, die sich unterei-nander auch nicht grün sind.

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Der Begriff »Abendland« — welcher Oswald-Spengler-Fan hat ihn in Dresden ausgegraben und sieht vor seinem geisti-gen Auge längst ein Aller-Tage-Abendland? Warum taucht in der Debatte immer das jüdisch-christliche Abendland auf mit seinen Werten, zu denen wir uns nicht nur nach Meinung der CSU wieder stärker bekennen sollten? Welche Werte sind hier gemeint? Jene, die wir mit dem Islam teilen? Oder die, die uns unterscheiden, wie der Wert der Freiheit? Aber diese Freiheit ist ja gerade kein jüdisch-christlicher Wert, sondern ein grie-chischer — neuerdings wieder arg präsent in der ihm eigenen Freiheit, seine Schulden nicht zurückzuzahlen. Und wenn un-ser Christentum die Freiheit inzwischen goutiert, dann nur, weil die Philosophen der Aufklärung es bei Androhung seiner völligen Auflösung dazu gezwungen haben. Die hilflose Zuflucht in Leitbegriffe und der Karneval ih-res Gebrauchs verdecken jedoch, dass hinter allem ein echter Epochenumbruch steckt, eine gewaltige Revolution und ein ernsthaftes Problem: Das Konservative scheint nicht mehr in unsere Zeit zu passen, egal in welche Gewänder es sich klei-det! Was soll in der globalisierten Welt an Heimat bleiben? Auf der Schwäbischen Alb und in Dresden isst man den glei-chen Burger wie in Chicago, hört die gleiche Musik und trägt die gleichen Klamotten. Was »in« ist und was »out«, wird nicht in Chemnitz entschieden. Die Anzahl der Bundesbürger, die noch in die Kirche gehen, schwindet unaufhaltsam. Die Muster unserer Liebesromantik und die Algorithmen unserer Ehen stammen aus US-amerikanischen Vorabendserien. Über unsere Arbeitsplätze der Zukunft entscheidet der Silicon-Val-ley-Kapitalismus oder die Herrscherfamilie von Katar. Und die schöne neue Welt, die Daten-Cloud, die Google uns ver-heißt, wird über Hoyerswerda genauso hinwegfegen wie über Kapstadt und Hanoi. Jeder bekommt sein Recht auf eine in-

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dividuelle Wohlfühlmatrix im universellen Design, solange er mit Daten bezahlt. Viel Platz für Werte, die keine Geldwerte sind, bleibt da nicht. Aber Werte braucht die Gesellschaft gleichwohl, darüber besteht zu Recht Einigkeit. Toleranz ist ein feiner Wert, aber nicht durch und durch. Pluralismus ist wünschenswert, aber vielleicht nicht immer und in allem. Freiheit ist gut, aber nur gepaart mit sozialer Sicherheit. Das Fremde ist anregend und bereichernd, verunsichert aber trotzdem leicht. Die Angst vor dem Verlust von Werten ist ein großes und wichtiges Thema. Denn aus dieser Sicht ist das krakeelende Unbehagen in der Kultur, das sich AfD nennt, nur eines: ein Vorbeben, dem vie-le größere Erschütterungen folgen werden. Der Islam kennt den Angriff des global-liberalen Kapitalis-mus auf seine kulturelle Identität schon seit vielen Jahrzehn-ten. Außer Tyrannen, Trittbrettfahrern, Trotz und Terror ist ihm dazu bislang wenig eingefallen. Kaum anzunehmen, dass deutschen Protestwählern, die sich als Schutzgemeinschaft deutscher Werte missverstehen, Besseies einfallen wird. Wä-ren sie sonst damit beschäftigt, als kleinstes gemeinsames Viel-faches ausgerechnet den Islam zu fürchten, der doch in ähnli-cher Weise in seiner dauerhaften Existenz bedroht ist wie sie? Und das, wo in Sachsen gerade mal jeder Tausendste Muslim ist? An diesem Ort Angst vor der Islamisierung zu haben — ist das nicht so, wie im Ötztal gegen die Fischfangquoten in der Ostsee aufzubegehren? Erfahrungsgesättigte Wut kann es bei Pegida und bei der AfD nicht sein. Doch die Wut, das Misstrauen und das Un-behagen sind real. »Wenn jemand eine Situation für real hält, dann ist dies in seinen Folgen real«, lautet eine wichtige Er-kenntnis der Sozialpsychologie. Doch kann es nicht sein, dass hinter der diffusen Panik gegenüber einem ziemlich unbekann-

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ten Islam eine andere, völlig berechtigte Angst steht? Dass nämlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerade eine alte Welt untergeht und durch eine ganz neue ersetzt wird? Dass Konservativismus und Kapitalismus nicht gut zusam-menpassen, stand eigentlich schon von Anfang an fest. Nicht ohne Grund bekämpfte die konservative Hofpartei, die Tories, im frühindustrialisierten England des 18. Jahrhunderts die li-beralen Whigs mit ihrer Forderung nach freien Märkten und freiem Handel. Der Kapitalismus ebnet halt alle traditionellen und emotionalen Werte ein, indem er alles an einem einzigen rationalen Wert bemisst: dem Geld. Wo das Effizienzdenken waltet, steigt der Wohlstand (wenn auch nicht aller) und stirbt das Althergebrachte. Die Erde sättigt heute viele Milliarden Menschen. In Europa verhungerten noch im 19. Jahrhundert Millionen. Als Preis dafür verlieren wir in immer schnellerem Tempo das Traditionelle, konserviert allenfalls als kommer-zialisierte Würstchen-Folklore. Wo der Kapitalismus mit sich selbst allein ist, an den Finanzmärkten der City of London, in New York, Tokio und Singapur, spottet er jeder Ordnung, verachtet die Sparsamkeit und übernimmt keinerlei Verant-wortung. »Wohlstand für alle« — den Slogan hatte Ludwig Erhard (ohne Berücksichtigung des Copyrights) dem deutschen Titel eines Erfolgswerks des russischen Anarchisten Pjotr Kropot-kin entrissen. Die anarchistische Formel im gutbürgerlichen Anzug verdeckte lange, wie schlecht konservatives und kapi-talistisches Denken tatsächlich zusammenpassen. Die Zent-rumspartei, die Vorgängerin der CDU, war eine dem Libera-lismus unversöhnlich gegenüberstehende konservative Kraft. Und noch das Ahlener Programm der CDU von 1947 legte unmissverständlich fest: »Das kapitalistische Wirtschaftssys-tem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deut-

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schen Volkes nicht gerecht geworden ... Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.« Der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft schien den Wider-spruch zwischen konservativ und kapitalistisch lange zu wi-derlegen. Obwohl Wilhelm Röpke, einer ihrer geistigen Väter, bereits auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders im Jahr 1958 vor dem bitteren Ende warnte. Schon damals verzweifel-te er darüber, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik eines Tages jenseits von Angebot und Nachfrage keine Werte mehr haben könnte außer dem schnöden Kosten-Nutzen-Kalkül. Das Dilemma der heutigen CDU ist, dass dieser Riss, bis heute gut kaschiert, noch immer da ist. Die heutigen Kon-servativen in den Unionsparteien spüren ihn tief in ihrem Be-wusstsein. Ihre ökonomische Vernunft, die den zeitgenössi-schen Globalkapitalismus bejaht, widerspricht zutiefst ihren konservativen Gefühlen. Doch solange der Gesellschaft nicht einfällt, wie sie lieb gewonnene und althergebrachte Werte so in der digitalisierten Ökonomie verankert, dass sie erhalten bleiben, wird das Unbehagen politisch nicht produktiv. Kon-servatives Fühlen allein dagegen verpufft an den Stammtischen und auf Marktplatz-Demonstrationen. Eine realistische Alter-native hat man nicht anzubieten. Und die Verwirrung ist noch größer: So wichtig es für die Mehrheit der selbst erklärten Konservativen sein mag, sich rechts von der Mitte zu fühlen — tatsächlich ist konservatives Denken schon lange kein Identitätsmerkmal von »rechts«. Ge-werkschaften, die Besitzstandswahrung betreiben, Linke, die den Lauf der Weltökonomie pauschal verdammen, und der letzte kleine Rest Ökofundamentalisten bei den Grünen — sie alle sind Gegner des global entfesselten Liberalismus und da-

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mit konservativ. Doch so wie der fundamentalistische Islam wohl kaum eine dauerhafte Zukunft haben kann, so auch nicht der Konservativismus. Richtet er seinen Blick nicht auf die Zukunft und formuliert eine realistische Version, wird er von Generation zu Generation schwinden. Unsere Kinder ha-ben gelernt, sich statt einer Zwangsheimat aus Glaube, Treue, Tradition und Milieu neue Wahlheimaten zu suchen: in einer Weltanschauung ihrer Wahl, in wechselnden Partnerschaften ihrer Wahl und in dauerhaften Freundschaften über alle Gren-zen hinweg. Ihr Sicherheits- und Geborgenheitsbedürfnis ist gewiss nicht geringer geworden, aber es sucht sich flexiblere Wege. All das setzt eine große Geschmeidigkeit und Lebensklug-heit voraus, um erfolgreich zu sein und sich nicht zu ängstigen. Und auch unsere Kinder werden sich in Auseinandersetzung mit der global-kapitalistischen Herausforderung die ganz neue alte Frage stellen: Wie wollen wir leben? Wer schützt unsere Seelenheimaten vor dem Ausverkauf? Die Antwort wird der Zukunft zugewandt sein müssen. Denn in der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück, nur eine Bewe-gung nach vorn. Man möchte es den aufbegehrenden Konser-vativen ganz freundlich sagen. Und mit Aristoteles ergänzen: »Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.« Eben deshalb braucht die Gesellschaft ein Ziel, ein positi-ves Bild, das hilft, Handlungsnotwendigkeiten zu erkennen. Nur konkrete Visionen geben der Politik eine Agenda an die Hand, was sie fordern und fördern soll — in der Wirtschaft, in der Bildungs- und in der Arbeitsmarktpolitik. Wenn unsere Demokratie schon vor dem großen Sturm eine »Zerreißpro-be« erlebt, wie wird es dann in wenigen Jahren um sie stehen,

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wenn erst Banken und Versicherungen, dann die Automobilin-dustrie und ihre Zulieferfirmen Hunderttausende Mitarbeiter entlassen? Wenn E-Discovery-Programme Juristen ersetzen, Sachbearbeiter nur noch als Supervisor gebraucht werden? Noch scheinen die Parteien unter Schockstarre zu stehen, nicht zu erkennen, dass es an ihnen liegt, ob die Digitalisie-rung die Welt besser macht oder schlechter. Doch wem nichts einfällt, was er Gutes versprechen kann — und das betrifft die Mehrheit in allen im Bundestag vertretenen Parteien —, der deckt den Mantel des Schweigens über das Thema unserer Zeit und baut weiter an einem Kartenhaus, während die Erde Risse bekommt. Versuchen wir unser zukünftiges Haus auf ein besseres Fundament zu stellen! Wie Mosaiksteine habe ich dafür viele vorgefundene Ideen und Vorstellungen aus alter und neuer Zeit gewendet, gedreht, neu zugeschnitten und zusammengesetzt. Dabei ergibt sich das Wünschenswerte nicht als fertig ausgemalter Entwurf. Die Zeit geschlossener Utopien ist vorbei; und ideale Lebensinseln zu schildern widerspricht unserem kritischen Wissen um den Weltenlauf. Gesellschaftliche Fragen von der Größenordnung der digitalen Revolution entziehen sich dem einfältig vereng-ten Schema von Problem und Lösung. Vielmehr entspringt die Hoffnung auf das Bessere dialektisch aus der Kritik des Beste-henden und der Sorge um unheilvolle Entwicklungen. So ent-steht zwischen den Zeilen das Bild einer humanen Zukunft —eine Vorstellung davon, dass der gewaltige Umbruch unserer Zeit nicht notwendig ins Elend führen muss, sondern dass er die Chance enthält auf eine lebenswerte Zukunft.

DIE UTOPIE 99-124

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