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DER WEG IN DAS ATOMZEITALTER (Seiten 83 - 110)

2017. március 02. 13:39 - RózsaSá

KAPITEL XI

Die Völkerwanderung von unten

Physik und Politik im Dritten Reich

 

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Rasch zerfiel das einst so berühmte Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie

- die Forschungsanlage, die alle Welt bewundert und

die die Alliierten während des Ersten Weltkrieges mehr gefürchtet

hatten als zehn deutsche Divisionen.

Mit HABER waren es neun Nobelpreisträger, die das Land verließen.

Ihre Namen und ihr Schicksal sind der Welt bekannt. Wer aber Waren

die, die nun auf die freigewordenen Stellen einrückten?

Da waren zuerst die rücksichtslosen Draufgänger wie RUDOLF MENT-

ZEL und ERICH SCHUMANN, Senkrechtstarter ohne Gewissen, die sich

entschlossen in den Dienst der Partei oder der Wehrmacht stellten. Ih-

rem Tatendrang eröffnete sich nun, da das unterste zuoberst gekehrt

wurde, ein weites Betätigungsfeld.

Da gab es die Kriecher, die Drittrangigen, die unter normalen Ver-

hältnissen nie etwas geworden wären, die sich jetzt rechtzeitig der

neuen Richtung anpaßten und für ihre „Haltung“ vom neuen Staat be-

lohnt wurden. Zu dieser Gruppe gehörte GERHARD JANDER. Dazu ge-

hörte THEODOR WEICH, der „den Weg zur Futterkrippe als Professor

für theoretische Physik“ fand, wie HEISENBERG sagte: „Da er nie eine

Arbeit über theoretische Physik veröffentlicht hat, ist der Fall auch für

Unbeteiligte völlig klar.“ Dazu gehörte WILHELM MÜLLER, der 1941

die Nachfolge des großen ARNOLD SOMMERFELD antreten sollte, und

dazu gehörte noch mancher, der so unbedeutend war, daß ihm die Ge-

schichte die Wohltat des raschen Vergessens hat zukommen lassen.

Viele, die als Privatdozenten Jahre mit Warten verbracht hatten,

konnten in eine begehrte Beamtenstelle einrücken. Andere, die bisher

als außerplanmäßige oder außerordentliche Professoren ohne rechte

Anerkennung geblieben waren, wurden Ordinarien und Institutsdi-

rektoren. In den Fakultäten führten nun die kleinen Geister, die früher

im Schatten gestanden hatten, das große Wort.

Am stärksten davon überzeugt, daß nunmehr alles nach ihrem Willen

geschehen müsse, waren die fanatischen  Antisemiten. Sie waren sozu-

sagen die „alten Kämpfer" auf dem Gebiete der Wissenschaft. Seit

Jahren hatten sie gegen den vermeintlichen Judengeist in der Wissen-

schaft polemisiert. Es waren die großen Hasser, die alle ihre Mißer-

folge auf die bösen Absichten von ,Juden und Judengenossen“ zu-

rückführten, es waren die im Leben Zu-kurz-gekommenen, denen der

Nationalsozialismus als „Weltanschauung“ wie auf den Leib geschnit-

ten war. Zu diesen bisherigen Außenseitern, die nun plötzlich seit dem

  1. Januar l933 im Zentrum der Macht standen. gehörten die beiden

Physiker und Nobelpreisträger PHILIPP LENARD und J OHANNES STARK.

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Am 1. Mai 1933 wurde STARK als Präsident der Physikalísch-Technischen

Reichanstalt eingesetzt. Im „Völkischen Beobachter“ kom-

mentierte PHILIPP LENARD die Ernennung: „Eine entschiedene Ab-

kehr bedeutet sie von der schon als unvermeidlich betrachteten Vor-

herrschaft des - am kürzesten - EINSTEIN- mäßig zu nennenden Den-

kens...Nun ist STARK... obenan an so wichtiger Stelle. Viele...wer-

den diesen hier wirksam gewordenen Entschluß des Reichsinnenmini-

sters FRICK schon begriffen haben. . . Es war dunkel geworden in der

Physik, und zwar schon von oben herab. . . Das hervorragendste Bei-

spiel schädlicher Beeinflussung der Naturforschung von jüdischer

Seite hat Herr EINSTEIN geliefert mit seiner aus guten, schon vorher

dagewesenen Erkenntnissen und einigen willkürlichen Zutaten ma-

thematisch zusammengestoppelten ,Theorie’, die nun schon allmäh-

lich in Stücke zerfällt... Man kann hierbei selbst mit gediegener Lei-

stung dastehenden Forschern den Vorwurf nicht ersparen, daß sie den

,Relativitätsjuden’ in Deutschland überhaupt erst haben festen Fuß

fassen lassen...(Die) an hervorragender Stelle tätigen Theoretiker

hätten diese Entwicklung schon besser leiten dürfen...Jetzt hat sie

HITLER geleitet. Der Spuk ist verfallen; der Fremdgeist verläßt bereits

sogar freiwillig Universitäten, ja das Land. . .“

Seit der berüchtigten Naturforscherversammlung in Bad Nauheim im

Jahre 1920 hatten LENARD und STARK gegen die Relativitäts- und die

Quantentheorie ständig neue Angriffe gerichtet, aus denen die Physi-

ker den Schluß zogen, daß die beiden Nobelpreisträger die physikali-

schen Grundlagen der neuen Theorie nicht verstanden hatten. Ihre ab-

struse Rassenideologie wurde zum Gespött der Kollegen.

Die Zeit, in der man sich über wissenschaftlich abwegige Auffassun-

gen lustig machen konnte, war im Jahre 1933 vorbei. Einige der maß-

gebenden Begründer der modernen theoretischen Physik, wie EIN-

STEIN und BORN, hatten als Juden und „Feinde des deutschen Volkes“

das Land verlassen müssen, und ihre unversöhnlichen Gegner konnten

sich mit Recht ihrer langjährigen geistigen Verbundenheit mit ADOLF

HITLER und den anderen „Führern“ in Partei und Staat rühmen. Der

Relativitätstheorie und der Quantentheorie, die zu den bedeutendsten

intellektuellen Leistungen des 20. Jahrhunderts gehören, Leistungen,

die zum größten Teil in Deutschland vollbracht worden waren, drohte

als „jüdischen Geistesprodukten“ die Verfemung. Wie es in der Phy-

sik weitergehen sollte, mußte sich auf der Physikertagung in Würzburg

im September 1933 zeigen. JOHANNES STARK hatte ein Grundsatzrefe-

rat angekündigt.

 

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Johannes Stark

 

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MAX von LAUE, der Vorsitzende der Gesellschaft, nahm die Heraus-

forderung an. Er eröffnete den Kongreß mit einer sorgfältig vorberei-

teten Rede über die genau 300 Jahre zurückliegende Verurteilung

GALILEIS durch die Inquisition. Die Zuhörer verstanden, daß mit dem

GALILEI, von dem er sprach, EINSTEIN gemeint war.

„GALILEI muß bei den ganzen Prozeßverhandlungen innerlich die

Frage gestellt haben: Was soll das alles? Ob ich, ob irgendein Mensch

es nun behauptet oder nicht, ob politische, ob kirchliche Macht dafür

ist oder dagegen, das ändert doch nichts an den Tatsachen! Wohl kann

Macht deren Erkenntnis eine Zeitlang aufhalten, aber einmal bricht

diese doch durch! Und so ist es ja auch gekommen. Der Siegeszug der

Kopernikanischen Lehre war unaufhaltsam . . . Aber bei aller Bedrückung

 konnten sich ihre Vertreter aufrichten an der sieghaften Gewiß-

heit, die sich ausspricht in dem schlichten Satz: Und sie bewegt sich

doch!“

Unmittelbar danach ergriff JOHANNES STARK das Wort. Verärgert, mit

ein paar poltrigen Sätzen, kommentierte er die Ausführungen LAUEs.

Dann fand er zum vorbereiteten Text seiner Rede zurück. Wie nun der

Führer die Verantwortung für das deutsche Volk trug, wollte er für die

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Physiker die „Verantwortung“ übernehmen. Für den Ausbau der

Reichsanstalt entwickelte er gigantische Pläne. Hand in Hand mit der

von ihm beherrschten Reichsanstalt als Steuerungszentrum sollte die

Wissenschaft in Deutschland neu organisiert werden.

Die Rede hinterließ einen verheerenden Eindruck. Auch wer von den

Kollegen womöglich Sympathien für das „Führerprinzip“ besaß,

lehnte den Anspruch STARKS ab, dieser Führer zu sein, STARK wollte

sich zum Vorsitzenden der Deutschen Physikalischen Gesellschaft

wählen lassen und dann dieses Amt mit dem des Präsidenten der

Physikalischen-Technischen Reichsanstalt verschmelzen; dieser Plan hatte

nun keine Chance mehr. Zum neuen Vorsitzenden wurde statt dessen

der Industriephysiker Dr. KARL MEY vorgeschlagen, der zugleich Vor-

sitzender der Deutsche Gesellschaft für Technisclıe Physik war: ein

geschickter Schachzug, denn die Zusammenführung von Universitäts-

und Industriephysikern war ein altes Anliegen. STARK zog seine Kan-

didatur zurück. Am 20. September 1933 wurde MEY fast einstimmig

zum neuen Vorsitzenden gewählt.

Die Schlappe bei der Würzburger Physikertagung ließ STARK keine

Ruhe. Die erstrebte Führerposition in der Wissenschaft wollte er sich

nun mit Hilfe seiner politischen Beziehungen aufbauen. Er bean-

spruchte die Aufnahmen in die Preußische Akademie, wo durch die

„Säuberungen“ Plätze freigeworden waren. Wie im „Fall EINSTEIN“

griffen die Behörden massiv ein.

LAUE hatte früher MAX PLANCK als seinen großen akademischen Leh-

rer verehrt, und nun waren beide enge Freunde und beide Mitglieder

der Preußischen Akademie. Es ist ganz sicher, daß PLANCK und LAUE

eine Aussprache unter vier Augen miteinander führten, PLANCK ver-

trat die Auffassung, daß man der Regierung nachgeben müsse: „Der

Nationalsozialismus ist wie ein Sturm, der über unser Land braust“,

meinte er: „Wir können nichts tun, als uns beugen wie die Bäume im

Wind.“ Widerstand hielt PLANCK für sinnlos; denn die Regierung habe

genügend Mittel und Wege, ihr Ziel - und dann auf eine für die Aka-

demie schmerzhaftere Weise - zu erreichen. Diesem Standpunkt hielt

LAUE entgegen, daß es nicht um die Person STARKS gehe, sondern um

die Freiheit der Forschung. Auch wenn man unterliege, so sei es bes-

ser, überhaupt etwas getan zu haben, als kampflos die alten Ideale auf-

zugeben. Die Niederlage sei jedoch keineswegs schon besiegelt: Wenn

man beherzt vorgehe, so könne das auch auslösend und befreiend wir-

ken.

Kraft zur Opposition schöpfte LAUE aus dem Bewußtsein, zur interna-

tionalen Gemeinschaft der Physiker zu gehören. Er hatte viele

Freunde unter den ausländischen Kollegen und hielt die Verbindun-

gen so gut es ging aufrecht. Besonders wichtig waren ihm die Kontakte

zu Emigranten. Kamen ausländische Besucher, gab er ihnen Briefe mit

an EINSTEIN, an LADENBURG, an SCHRÖDINGER. Eigene Reisen ins Aus-

land benutzte er regelmäßig dazu, den Freunden ausführlich zu schrei-

ben. Durch diesen Gedankenaustausch wußte LAUE, daß er nicht all-

ein stand mit seinem Urteil, und er lernte - was damals nicht so selbst-

verständlich war - die politischen Ereignisse nicht nur vom nationalen

Standpunkt aus zu beurteilen.

 

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Fritz Haber, 1908 entwickelte er mit reinem „Reagenzglas für Hochdruck“ das

berühmte Verfahren, um aus dem Stickstoff der Luft und dem Wasserstoff der

Wassers Aınmoıniak zu gewinnen. Nachdem Carl Bosch das Verfahren 1913 in

großtechnische Dimensionen „übersetzt“ hatte, konnte man mit dem „Haber-

Bosch- Verfahren“, wie man sagte, „Brot aus Luft“ gewinnen: Das Ammoniak

war in Form von Ammoniumsalzen oder in oxydierter Form als Salpeter ein

wichtiger Stickstoffdünger. Im Ersten Weltkrieg wurde Haber, der deutsche Pa-

triot, zum „ Vater der Gaskampfes“. Als 1933 die von den Alliierten sogenannten

„Kriegsverbrecher“ von den Nationalsozialisten zu Helden und Märtyrern hoch-

stilisiert wurden, blieb Halber ausgeschlossen, aus dem einzigen Grunde, weil er

Jude war.

 

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Wichtiger noch war für LAUE die Lehre des Königsberger Philosophen

IMMANUEL KANT. Die berühmte Kritik der reinen Vernunft prägte seine

wissenschaftliche Weltanschauung, die Kritik der praktischen Ver-

nunft seine menschliche Haltung. Der Maßstab für ihn war der Kate-

gorische Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens

jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten

könne.“

In der Sitzung der Preußischen Akademie am 14. Dezember 1933 er-

hob LAUE Einspruch gegen die Wahl von JOHANNES STARK. Es gab eine

heftige Diskussion. Schließlich wurde die Wahl auf die nächste Sitzung

vertagt. An diesem 11. Januar 1934 zogen MAX PLANCK, FRIEDRICH

PASCHEN und KARL WILLY  WAGNER ihren Antrag zurück. Damit war

die Aufnahme STARKS abgelehnt.

Wie schon das Auftreten bei der Physikertagung in Würzburg, so war

die erneute Aktion LAUES ein Signal. Zwar war PLANCK das allseits

verehrte Oberhaupt der deutschen Wissenschaftler und jeder kannte

seine Haltung, zumal er es bei Gelegenheit (so seiner persönlichen In-

tervention bei HITLER gegen die Entlassung der jüdischen Gelehrten)

nicht an Deutlichkeit hatte fehlen lassen, aber PLANCK war alt und

stand bei gesetzlosen Übergriffen der Regierung in seiner eingewur-

zelten Ehrfurcht vor der Staatsautorität den Ereignissen oft hilflos ge-

genüber. „PLANCK war ein tragischer und nicht romantischer Held, ein

,braver’ Mann und das Gegenteil eines Revolutionärs“, schrieb PETER

PAUL EWALD: „Die einzige Tellsfigur war LAUE, und deshalb war er,

nicht PLANCK, Vorbild für mich und viele andere. Dies ist der Grund,

den ich erst jetzt recht verstehe, warum EINSTEIN es 1936 ablehnte,

daß ich (auch) PLANCK und SOMMERFELD, ebenso wie LAUE, Grüße von

ihm brachte. “ Auf einer Reise in die Vereinigten Staaten hatte EWALD

ALBERT EINSTEIN in Princeton besucht. Beim Abschied gab es folgen-

den Dialog: EINSTEIN: „Grüßen Sie LAUE.“ - EWALD: „Soll ich auch

PLANCK und SOMMERFELD grüßen'?“ - EINSTEIN: „Grüßen Sie LAUE.“

 

Nach den Verhandlungen in der Akademie ging die nächste Ausein-

andersetzung um das Andenken FRITZ HABERS. Als gebrochener

Mann, verfemt in Deutschland als Jude, verfemt im Ausland als Vater

des Gaskrieges, war HABER in die Emigration gegangen. Verbittert

starb er am 29. Januar 1934 in Basel.

In der PreußischenAkademie sprach MAX BODENSTEIN einen würdigen

Nachruf und in der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften“ schrieb

MAX vonLAUE: „THEMISTOKLES ist in die Geschichte eingegangen

nicht als der Verbannte des Perserkönigs, sondern als der Sieger von

Salamis. HABER wird in die Geschichte eingehen als der geniale Erfin-

der des Verfahrens, Stickstoff mit Wasserstoff zu verbinden, ...als

Mann,... der Brot aus Luft gewann und einen Triumph errang im

Dienste seines Landes und der ganzen Menschheit.“

Diese Worte mißfielen JOHANNES STARK: „Die Auffassung, welche ich

von dem Vergleich HABERS mit THEMISTOKLES habe, wird von allen na-

tionalsozialistischen Physikern geteilt, Sie liegt um so mehr nahe, als

Herr VON LAUE sich auf der Würzburger Tagung durch den Vergleich

EINSTEINS mit GALILEI eine ähnliche Verdächtigung der nationalsozia-

listischen Regierung geleistet hat.“

 

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In ultimativer Form forderte STARK das Ausscheiden LAUEs aus dem

Vorstand der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Aber die Physi-

ker ließen sich nicht erpressen. Sie wiesen das Ansinnen ab.

Nach den aufregenden Monaten in Berlin ging LAUE mit Frau und

Tochter zum Skifahren in die Schweiz. Auf der Dachterrasse des

Eden-Hotels in Lenzerheide genoß er die Märzsonne. Aber die Feinde

ließen ihm auch hier keine Ruhe. ln den Urlaub platzte die Nachricht

von einer Denunziation bei der NSDAP: „Es geht eine Hetze gegen

mich los. Der eigentliche Grund ist jedenfalls folgender: Ich gehöre

seit langem dem Verband ehemaliger Offiziere des Infanterie-Regi-

ments 138 an. Dieser Verband hat jetzt seine Mitglieder aufgefordert,

der SA-Reserve II beizutreten. Ich habe das abgelehnt mit der Be-

gründung, ich übernähme mit dem Beitritt unter Umständen Ver-

pflichtungen, die ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren könne.

Und das haben mir die Nazis mit Recht übelgenommen. Mit Recht;

denn ich habe ihnen hier den Feind genannt, an dem sie, so hoffe ich

zuversichtlich. eines nicht zu fernen Tages scheitern werden.“

LAUE erwog ernstlich die Emigration. Aber es gelang PLANCK, ihn um-

zustimmen. Es gehörte Mut dazu, nach Deutschland zurückzukehren.

Er war ein Freund EINSTEINs, er hatte die nationalsozialistische Regie-

rung „verleumdet” und stand „bewährten Parteigenossen“ (nun „alte

Kämpfer“ genannt) im Wege. Das Reichsministerium für Erziehung,

Wissenschaft und Volksbildung befaßte sich mit dem Fall. LAUE kam

schließlich, möglicherwiese durch eine Intervention PLANCKs, mit ei-

ner einfachen „Zurechtweisung”  davon. Sein hauptsächlicher Schutz

war wohl der Nobelpreis. Der Minister wußte, daß sein Vorgehen ge-

gen den international bekannten Forscher im Ausland unliebsames

Aufsehen zur Folge gehabt hätte. Wenn für LAUE der Nobelpreis ein

Schild War - so mag man jetzt fragen - warum hat dann dieses bei EIN-

STEIN nicht geholfen? Auch EINSTEIN war ja Nobelpreisträger - und

eine Weltberühmtheit obendrein.

EINSTEIN war seit den zwanziger Jahren für die Menschen zu einem

Begriff und zu einer moralischen Instanz geworden. Jeder halbwegs

informierte Bürger kannte ihn als kompromißlosen Gegner des Natio-

nalsozialismus. Sich von dem „frechen Juden”  nichts mehr bieten zu

lassen, erforderte nach Meinung der Nazis das schärfste Mittel, „es ko-

ste, was es wolle“, wie es im Jargon des Regimes hieß.

LAUE aber war ein Begriff nur als Fachwissenschaftler; der Streit um

ihn betraf nur den Kreis der Physiker. Erst durch eine „Maßregelung“

wäre im Ausland Aufsehen entstanden. So ging Bernhard Rust, der

schwächste und vorsichtigste aller Reichsminister, den Weg des ge-

ringsten Widerstandes.

Daß das Verfahren gegen LAUE wie das Hornberger Schießen ausge-

hen würde, stand damals aber keineswegs schon fest. Es waren lange

Monate quälender Ungewißheit.

Warum ging LAUE nicht in die Emigration? Er hing an Deutschland,

seinem geschundenen Vaterland, und sah seine Aufgabe hier. Er

wollte den Geist seiner Wissenschaft bewahren. Sein Mut gab ein Bei-

spiel. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft weigerte sich, die “Kon-

sequenzen“ zu ziehen und LAUE aus dem Vorstand zu entlassen. Auch

die Drohung STARKS, dann selbst aus der Gesellschaft auszutreten,

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früchtete nichts. Aus den Akten ist zu entnehmen, daß MAX VON LAUE

nach wie vor im Vorstand blieb; JOHANNES STARK aber wird im Mit-

gliederverzeichnis nicht mehr genannt.

„Wie hab’ ich mich ınit jeder Nachricht von Dir und über Dich gefreut.

Ich hab' nämlich immer gefühlt und gewußt, daß Du nicht nur ein

Kopf, sondern auch ein Kerl bist“, schrieb ALBERT EINSTEIN. Der auf-

merksame und skeptische Beobachter meinte, sicherlich nicht zu Un-

recht, daß in der großen Masse der Mitläufer, „die scientists keine

Ausnahme bilden (in der großen Mehrzahl) und wenn sie anders sind,

so ist es nicht auf die Verstandesfähigkeit, sondern auf das menschli-

che Format zurückzuführen, wie bei LAUE.“

In der gespannten Atmosphäre beschloß PLANCK, zum einjährigen

Todestag FRITZ HABERs eine Gedächtnisfeier abzuhalten. Er leitete

persönlich die Vorbereitungen. Zwischen dem 10. und 13. Januar

1935 gingen die Einladungen hinaus: „Dienleitenden Worte spricht

der Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Geheimrat Professor

Dr. MAX PLANCK, Gedächtnisreden halten Professor Dr. OTTO HAHN,

Oberst a.D. JOSEF KOETH, Professor Karl FRIEDRICH BONHOEFFER . . .“

Nun brach der Sturm los. Allen Universitätsangelhörigen wurde auf

Weisung von Minister RUST die Teilnahme untersagt, die Redner er-

hielten Sprechverbot. „BONHOEFFER und ich“, berichtete OTTO HAHN,

„bekamen von den Rektoren unserer Universitäten Leipzig und Ber-

lin Mitteilung, daß wir nicht sprechen dürften. Ich selbst war aber vor

kurzem aus der Berliner Universität ausgetreten. So konnte ich dies

dem Rektor sagen. Er erwiderte, dann habe er kein Recht, mir Anwei-

sungen zu geben.“

„Stets setzte sich PLANCK für das ein, was er für Recht hielt, auch wenn

es nicht sonderlich bequem für ihn war.“ So urteilte EINSTEIN. Und in

der Tat. Es war nicht sonderlich bequem. Getreu seiner Maxime: „Je-

den Schritt vorher überlegen, dann aber sich nichts gefallen lassen“,

hielt PLANCK an dem einmal gefaßten Beschluß fest - allen Pressionen

zum Trotz. Zu LISE MEITNER sagte er: „Diese Feier werde ich machen,

außer man holt mich rmit der Polizei heraus.”

Am 29. Januar 1935 kam PLANCK selbst zum Kaiser- Willhelm-Institut

für Chemie, um OTTO HAHN und LISE MEITNER zum HARNACK-Haus

der Gesellschaft zu begleiten. Am Schwarzen Brett hingen die An-

schläge: Allen Mitgliedern der Kaiser-Wilhelm-Institute, allen Univer-

sitätsangehörigen, allen Mitgliedern der inder Reichsgemeinschaft der

technisch-wissenschaftlichen Arbeit zusammengeschlossenen Vereine

(also überhaupt allen Wissenschaftlern) war es verboten, an der „Ge-

dächtnisfeier für den Juden FRITZ HABER“ teilzunehmen.

Der große Saal des HARNACK-Hauses war fast voll besetzt. Viele Che-

miker, die es selbst nicht gewagt hatten, ließen sich durch ihre Frauen

vertreten. Aber es waren doch auch zahlreiche Gelehrte gekommen

und besonders zahlreich die Herren aus der Industrie.

Die Feier verlief würdig und eindrucksvoll. Seine Begrüßungsanspra-

che schloß PLANCK mit den Worten: „HABER hat uns die Treue gehal-

ten, wir werden HABER die Treue halten."

OTTO HAHN ging zweimal ans Vortragspult. Zuerst hielt er seine eigene

Gedächtnisrede. Dann, nach den Worten von Oberst KOETH, las er das

Manuskript BONHOEFFERs vor.

 

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Einladung zur Gedächnisfeier für Fritz Haber am 29. Januar 1935.

Die Nazis schämten sich nicht, Fritz Haber, der in Krieg und Frieden seinem Vaterland

Gedient hatte, auch noch über den Tod hinaus zu verfolgen. Aber trotz aller Verbote

führte Planck die Feier durch.

 

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Brief Laues an den im Juni 1934 durch nationalistische Willkür entlassenen

Präsidenten der Forschungsgemeinschaft, Friedrich Schmidt-Ott.

 

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“In manchen Kreisen hat mir die HABER-Feier persönlich im Ansehen genützt",

erzählte HAHN später. „Das Institut war dagegen nach außen hin, den amtlichen Stellen ge-

genüber, wohl deutlich geschwächt. Hinzu kam, daß man auch sonst

merkte, daß ich vieles nicht für richtig hielt. Zur Maifeier ging ich nie-

mals mit. Nur einmal bei einem Aufmarsch mit LAUE ein Stück lang in

den Straßen, und, als wir von ,politischen` Mitgliedern gesehen wor-

den waren, verdrückten wir uns wieder.“

Am 23. Juni 1934 war FRIEDRICH SCHMIDT-OTT, als Präsident der Not-

gemeinschaft „Freund, Patron und Haushalter der deutschen Wissen-

schaft“, aus dem Amt entlassen worden. In alter Verbundenheit hatte

sich sogleich MAX von LAUE gemeldet: „Mit tiefem Bedauern habe ich

von Ihrem Rücktritt gehört. Die überwiegende Mehrzahl der deut-

schen Physiker, insbesondere die Mitglieder des physikalischen Fach-

ausschusses, teilen dies Bedauern..Denn Sie haben Ihr Amt in fast

15 Jahren in einer Weise geführt, die es jedem Nachfolger schwer

macht, Ihnen gleich zu kommen. Unter den jetzigen Umständen noch

dazu wird der Wechsel im Präsidium, fürchte ich, den Auftakt bilden

zu schweren Zeiten für die deutsche Wissenschaft, und die Physik wird

wohl den ersten und schwersten Stoß zu erleiden haben.“

So kam es auch. Zum Nachfolger SCHMIDT-OTTs wurde ausgerechnet

JOHANNES STARK eingesetzt. Satzungsgemäß hätte der Präsident von

der Versammlung der Rektoren und Akademie-Vertreter gewählt

werden müssen, weshalb der Register-Richter bei der Eintragung

Schwierigkeiten machte. LAUE berichtete: „Da wollte das Reichskul-

-tusministerium noch nachträglich die Zustimmung der Hochschulen

und Akademien zur Ernennung STARKS zum Präsidenten der Notge-

meinschaft. . .Nun sind die Hochschullehrer durch Einführung des

Führerprinzips völlig mundtot gemacht, so daß an der Zustimmung

der Hochschulen, daß heißt der von der Regierung eingesetzten Rek-

toren, nicht zu zweifeln war (die Universität München hat trotzdem

dagegen gestimmt). Aber bei den Akademien gelten noch die alten

Satzungen - und von den fünf reichsdeutschen Akademien haben vier

gegen STARK gestimmt; von Heidelberg weiß ich nichts Näheres. Na-

türlich schiebt STARK mir dieses Ergebnis in die Schuhe, und er hat da-

mit sicher nicht so ganz Unrecht.“

STARK war durchgefallen. Das Bürgerliche Gesetzbuch schreibt bei

schriftlichen Wahlen Einstimmigkeit vor. Trotzdem stellte der

Reichskultusminister BERNHARD RUST rechtswidrig fest, daß STARK in

seinem Amte bestätigt sei.

Der Außenseiter hatte damit eine einflußreiche Doppelposition ge-

wonnen, als Präsident der Physikalisch-Technischecn Reichsanstalt und

Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wie die bisherige

Notgemeinschaft nun genannt wurde. STARK war jetzt der „Treuhän-

der der deutschen Forschung“. Anstatt sich aber mit den beantragten

Projekten gewissenhaft auseinanderzusetzen - wozu in den zwanziger

Jahren ein effektives Prüfungsverfahren entwickelt worden war - ,

entschied STARK kurz und bündig. In den Akten der Forschungsge-

meinschaft häuften sich die Anträge, bei denen unter den Befürwor-

tungen der Sachverständigen der Satz steht: „Präsident STARK verfügt

Ablehnung“. Das war das nach dem Willen der Nationalsozialisten

auch der Wissenschaft aufoktroyierte „Führerprinzip“.

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Mit ADOLF HITLER als Reichskanzler, BERNHARD RUST als Reichsmini-

ster für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung, JOHANNES STARK

als Präsident der Forschungsgemeinschaft und anderen „Führern“

nimmt es nicht wunder, daß die Physik in Deutschland in eine

„schwere Krise“ geriet, wie eine von HEISENBERG verfaßte Denkschrift

Anfang 1936 konstatierte.

Und dies war das Ergebnis von nur dreijähriger nationalsozialistischcr

Wissenschaftspolitik: (l) Ein Großteil der hervorragenden Gelehrten

und Nachwuchskräfte hatte in die Emigration gehen müssen, so daß es

nun die größten Schwierigkeiten bereitete, freiwerdende Stellen quali-

fiziert zu besetzen; (2) die im Lande gebliebenen Wissenschaftler wa-

ren in politische Querelen aller Art verwickelt und dadurch in ihrer

Arbeitsfähigkeit eingeschränkt; im Ministerium und in der For-

schungsgemeinschaft, wo die Weichen für die zukünftige Entwicklung

gestellt wurden, regierte die Ignoranz.

Das Krebsgeschwür für die deutsche Wissenschaft war aber die natio-

nalsozialistische Ideologie. Nun haben GOLO MANN und andere Histo-

riker mit Recht festgestellt, daß es überhaupt keine nationalsozialisti-

sche Weltanschauung gegeben hat. Tatsächlich steckte der aus Pseu-

do-Philosophie, Ressentiments und Schlagworten nach Gesichtspunk-

ten der politischen Demagogie zusammengesetzte Nationalsozialis-

mus voll innerer Widersprüche und bildete alles andere als ein logisch

geschlossenes Gedankengebäude. Der verschwommene Nationalso-

zialismus ließ zunächst überall die verschiedenartigsten Auffassungen

  1. Es war deshalb nicht von vornherein ausgemacht, ob eine und ge-

gebenenfalls welche Ansicht, unter Verfemung aller anderen, zur al-

lein .,wahrhaft nationalsozialistischen“ erklärt werden würde. So faß-

ten in der Malerei junge Künstler den Expressionismus als spezifisch

deutsche Leistung, als künstlerische Entsprechung der nationalsoziali-

stischen „deutschen Revolution“ auf. Erst 1937 definierte der Führer

persönlich das „Wesen deutscher Kunst“ - und der Expressionismus

verfiel als „entartet“ der Verbannung.

Die Ideologie des Dritten Reiches auf dem Gebiete der Naturfor-

schung (oder vielmehr das, was im Selbstverständnis des Regimes als

„Ideologie“ angesehen wurde) nannte sich Deutsche Physik. Unter

diesem Titel legte PHILIPP LENARD 1936/37 vier Bände Experimental-

physik vor, aufgebaut auf seinen jahrzehntelangen Vorlesungen. Das

Vorwort beginnt mit dem Kriegsruf des Verfassers: „Deutsche Physik

wird man fragen. - Ich hätte auch arische Physik oder Physik der nord-

isch gearteten Menschen sagen können, Physik der Wirklichkeits-Er-

gründer, der Wahrheit-Suchenden, Physik derjenigen, die Naturfor-

schung begründet haben, - ,Die Wissenschaft ist und bleibt internatio-

nal“ wird man mir einwenden wollen. Dem liegt aber immer ein Irr-

tum zugrunde. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft, wie alles, was die

Menschen hervorbringen, rassisch, blutmäßig, bedingt.“

Gegen die moderne Physik (in deren Mittelpunkt die Qunten- und

die Relativitätstheorie stehen) wollten LENARD und STARK eine Physik

aufbauen, in der diese Theorien keine Geltung haben sollten. Etwas

Neues zu schaffen vermochten sie aber nicht. Ihre Deutsche Physik

war die alte Physik des 19. Jahrhunderts, wie sie sie in ihrer Jugend ge-

lernt hatten, erweitert um einige neue Erfahrungstatsachen (die aber

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im Rahmen der Deutschen Physik nicht erklärt werden konnten). Die

moderne Physik war der Deutsche Physik, wissenschaftlich gesehen,

unvergleichlich überlegen. Im Dritten Reich aber - einer Zeit, in der

häufig gerade das Absurdeste und Gemeinste zur Wirklichkeit wurde

- mußte man durchaus damit rechnen, daß trotzdem die Physik LE-

NARD-STARKscher Prägung zur weltanschaulich richtigen und deshalb

einzig erlaubten Denkrichtung erklärt werden wurde. An Anzeichen

dafür mangelte es nicht. In den „Nationalsozialistischen Monatshef-

ten“ und dem „Völkischen Beobachter“ wurde die Forderung erho-

ben, den „Judengeist endlich auch aus der deutschen Wissenschaft

auszumerzen“: „EINSTEIN ist heute aus Deutschland verschwun-

den .. . Aber leider haben seine deutschen Freunde und Förderer

noch die Möglichkeit, in seinem Geiste weiterzuwirken. Noch steht

sein Hauptförderer PLANCK an der Spitze der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft,

noch darf sein Interpretator und Freund, Herr VON LAUE, in der

Berliner Akademie der Wissenschaften eine physikalische Gutachter-

rolle spielen, und der theoretischen Formalist WERNER HEISENBERG

Geist vom Geiste EINSTEINs, soll sogar durch eine Berufung ausge-

zeichnet werden.“

In einem besonders scharfen Angriff im „Schwarzen Korps“, der SS-

Zeitschrift, wurden die führenden theoretischen Physiker Deutsch-

lands als „Statthalter des Einsteinschen Geistes" geschmäht. Daß sie

und viele andere tatsächlich „Statthalter des Einsteinschen Geistes“

gewesen waren, dürfen wir heute als Ehrenrettung der deutschen Wis-

senschaft betrachten.

HEISENBERG, nach dem „Schwarzen Korps“ der „OSSIETZKY der Phy-

sik“, verfaßte einen an das Ministerium RUST gerichteten Einspruch

gegen die ideologischen Angriffe, der von Hunderten von Physikern

unterschrieben wurde. SOMMERFELD berichtete an EINSTEIN, daß er

zwar politisch, nicht aber geistig aus Deutschland ausgebürgert sei:

„Nicht ein einziges Mal ist [in der Vorlesung] die Nennung Ihres Na-

mens beanstandet worden. Wollen Sie daraus entnehmen, daß der

deutsche Student der geistigen Tyrannei längst überdrüssig ist, in die

ihn eine kleine Gruppe von ,Führern’ einspannen möchte, und daß er

sich nach der freien Luft des Geistes sehnt.“

MAX von LAUE setzte sich öffentlich mit der STARK-LENARDschenPhy-

sik auseinander. „Sehr vielen Dank für Ihre großartige Besprechung

von LENARD Band 2“, schrieb ihm WALTHER NERNST: „Sehr treffend

finde ich, daß Sie über den Titel Deutsche Physik nichts sagen, sondern

nur auf das Verschweigen gerade deutscher Physiker, wie RÖNTGEN

und PLANCK, hinweisen; durch nichts konnte der blödsinnige Gesamt-

titel stärker ad absurdum geführt werden!“

In Sommer l935 wurde LAUE zu Gastvorträgen in die Vereinigten

Staaten eingeladen und erhielt, zu seiner eigenen Überraschung, dazu

die Erlaubnis des Ministeriums. „Bitte sagen Sie an alle bekannten

Kollegen meine herzlichen Grüße“, gab ihm PLANCK mit auf den Weg,

„und erwecken Sie überall Verständnis für die Schwierigkeiten, mit

denen wir hier zu kämpfen haben, aber auch für den guten Willen, den

wir aufzubringen suchen, ihrer Herr zu werden. Es werden ja auch

Wieder ruhigere und normalere Zeiten kommen.“

90

Im Januar 1936 stand das 25jährige Jubiläum der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft bevor.

Es kennzeichnet die damalige Ausnahmesituation,

daß PLANCK statt mit stolzer Freude mit schweren Sorgen dem Festtag

entgegensah. Schon längst hatten die deutschen Universitäten ihr

Selbstbestimmuıngsrecht eingebüßt; sie waren vom Ministerium er-

nannten Rektoren unterstellt worden, die im Sinne des Führerprinzips

handelten. Würden die Nazis bei Gelegenheit des Jubiläums die

„Gleichschaltung“ der Gesellschaft bekanntgeben? Wenn in den offi-

ziellen Festreden eine solche Ankündigung kommen sollte - wie

mußte dann er als Präsident der Gesellschaft handeln, um den letzten

Rest der Unabhängigkeit zu bewahren?

„lm ganzen ging es besser als in der gespannten politischen Atmo-

sphäre von Berlin erwartet werden konnte", berichtete die New York

Times: „Die Regierungssprecher glorifizierten das Reich, aber sie

äußerten keine Drohungen. Andererseits stand die Nazi-Presse einer

Organisation, die immer noch einigen ‘Nicht-Ariern’ ermöglicht, ibrc

Forschungen weiterzuführen, feindlich gegenüber. MAX PLANCK ging,

zu seiner unvergänglichen Ehre, so weit wie es der gesunde Menschen-

verstand erlaubte. Er verteidigte die alten wissenschaftlichen Prinzi-

pien und wiederholte seine Überzeugung, daß Persönlichkeit und

Sachverstand in der wissenschaftlichen Forschung mehr zählen als

Rasse oder Diktatur. Wird es der Gesellschaft möglich sein, ihre Ar-

beit im alten freiheitlichen Geiste fortzusetzen? Sie ist keine private

Institution mehr. Sie wird teilweise vom Staat finanziert, und in den

Verwaltungsgremien sitzen Regierungsvertreter. Trotz MAX PLANCKS

Einfluß hat sie ihre hervorragenden Persönlichkeiten verloren. Wo ist

FRITZ HABER? Tot in einem Flüchtlingsgrab. Wo sind EEINSTEIN,

FRANCK, PLAUT, FAJANS, FREUNDLICH? Vertrieben oder entlassen. Wo

sind die unbekannten ,nicht-arischen` Assistenten? Niemand weiß es.

Das Schicksal selbst von solchen Berühmtheiten wie OTTO WARBURG

und OTTO MEYERHOF ist eingestandenermaßen höchst unsicher. Daß

einige hervorragende ‘Nicht-Arier’ geblieben sind. haben wir MAX

PLANCK zu verdanken. Mit dem Schicksal der Universitäten vor uns ist

die Zukunft der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft und ihrer Institute dun-

kel. Eine Organisation, für die nur das Können gilt, die es ablehnt, sich

durch Ideen von Rasse und Religion beeinflussen zu lassen, und die an

das Recht des Genies glaubt, seinen eigenen Weg zu gehen, hat keinen

Platz in einem von Fanatikern beherrschten totalitären Staat. Wie die

Dinge liegen, leistet die deutsche Wissenschaft den letzten Widerstand

in der Verteidigung der Integrität der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft.“

PLANCK war nicht glücklich über den Artikel: „lch halte derartige No-

tizen in der ausländischen Presse für sehr gefährlich und würde mich

nicht wundern, wenn gerade das, was wir vermeiden wollen, nämlich

die Hinlenkung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf Männer wie

MEYERHOF und WARBURG, durch einen solchen Artikel direkt in Szene

gesetzt würde.“

91

Auch Lisa MEITNER wirkte noch immer als Abteilungsdirektorin am

Kaiser- Wilhelm-Institut für Chemie. Als österreichische Staatsange-

hörige war sie zwar vorerst nicht von den nationalsozialistischen Ras-

sengesetzen betroffen, aber trotzdem als Jüdin manchen Anfeindun-

gen ausgesetzt. Ende 1936 hatte LAUE eine Idee: LISE MEITNER für den

Nobelpreis vorzuschlagen.

Bei ihm hatte es sich glänzend bewährt. Der Preis würde auch für LISE

MEITNER ein ausgezeichnetes Schutzschild sein. „Der Plan“, meinte

auch PLANCK, „ist mir sehr sympathisch. Ich habe ihn schon im vorigen

Jahr ausgeführt, insofern ich für den Chemiepreis 1936 die Teilung

zwischen HAHN und MEITNER vorschlug. Aber ich bin von vornherein

mit jedem Modus des Vorschlags einverstanden, den Sie in dieser

Richtung mit Herrn HEISENBERG verabreden.“

LISE MEITNER und OTTO HAHN standen PLANCK persönlich nahe; aber

er hätte sie niemals für den Nobelpreis benannt, wenn er nicht von ih-

ren wissenschaftlichen Pionierarbeiten auf dem Gebiete der Kemphy-

sik vollkommen überzeugt gewesen wäre. Scherzhaft meinte er ein-

mal, „daß der Jahrgang 1879 für die Physik besonders prädestiniert

sei: 1879 seien EINSTEIN, LAUE und HAHN geboren - und auch

LISE MEITNER müsse man dazurechnen, nur sei sie als vorwitziges kleines

Mädchen schon im November 1878 zur Welt gekommen, sie habe ihre

Zeit nicht abwarten können.“

Inzwischen war aber auch von anderen der Nobelpreis als eine Mög-

lichkeit erkannt worden, zugunsten politisch Gefährdeter einzugrei-

fen. CARL VON OSSIETZKY, dem deutschen Pazifisten. der im Konzen-

trationslager Esterwegen fast zu Tode gequält worden war, wurde

Ende 1936 der Friedenspreis verliehen. Die Nazis schäumten. Gehäs-

sige Angriffe gegen die Nobelstiftung waren an der Tagesordnung.

Schließlich wurde deutschen Staatsangehörigen die Annahme des

Preises überhaupt verboten. „Ja, der Nobelpreis!“, schrieb PLANCK an

MAX VON LAUE: „Es könnte einem das Herz umdrehen, wenn man an

den krassen Unverstand auf deutscher Seite denkt.“

Nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März

1938 galten die Rassengesetze des Dritten Reiches nun auch für die

ehemals österreichischen Staatsbürger. Erneut verlor eine große Zahl

hervorragender Gelehrter ihre Stellungen; andere verließen ihre

Heimat freiwillig, um drohenden Schikanen zuvorzukommen. WOLF-

GANG PAULI in Zürich, selbst ein gebürtiger Wiener, setzte sich, wo er

konnte, für die Emigranten ein. „Sie können sich denken“, antwortete

ihm EINSTEIN, „daß bei der beispiellosen Härte des gegenwärtigen jü-

dischen Schicksals meine Bereitwilligkeit zu helfen eine unbedingte

ist.“

Es war außerordentlich schwierig, Stellen zu finden. „Keine Fakultät

beruft einen Mann über fünfzig - und einen Juden erst recht nicht.“ So

schilderte EINSTEIN die Lage in den Vereinigten Staaten, und so war es

im Prinzip auch in anderen Ländern

Was sollte mit LISE MEITNER geschehen? Der einflußreiche schwedi-

sche Physiker MANNE SIEGBAHN in Stockholm erklärte sich bereit, ei-

nen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen.

91

Wie vor dem MAX PLANCK war auch CARL BOSCH, seit 1937 neuer Prä-

sident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. LISE MEITNER in Freundschaft

verbunden. Am 20. Mai 1938 wandte er sich an den Reichsinnenmini-

ster, um eine legale Ausreise zu ermöglichen. Nach einem Monat kam

die negative Antwort. Aus dem Präsidialbüro der Kaiser- Wilhelm-Ge-

selschaft wurde der Text an LISE MEITNER durchtelefoniert. Um bei

irgendwelchen „Maßnahmen“ nicht sofort gefunden zu werden,

War LISE MEITNER ins Hotel Adlon gezogen. Hier notierte sie auf

dem Briefpapier des Hotels im Stenogramm die Antwort des Ministe-

riuıns.

„Es gingen dann Briefe und Telegramme in die Schweiz, nach Holland

etc. etc. Die Nervosität wurde immer größer“. berichtete OTTO HAHN:

„Im Juli kam dann ein Telegramm von COSTER aus Groningen.. . Er

hatte an einer kleinen Grenzübergangsstelle erreicht, daß die LISE

ohne Visum, von COSTER begleitet. die Grenze nach Holland über-

schreiten könne. Die Schwierigkeit war ja, daß sie noch ihren österrei-

chischen Paß hatte und der nun notwendige deutsche den Judenver-

merk bekommen hätte. COSTER blieb eine Nacht in Berlin. Es wurde,

ohne irgendjemand etwas zu sagen, am Abend ein Handkoffer ge-

packt . . . Sie schlief, soviel ich mich erinnere, die Nacht vor ihrer Ab-

reise bei uns in der Altensteinstraße; COSTER selbst traf erst auf der

Bahn mit ihr zusammen. Dann reisten beide ab; wir zitterten, ob sie

durchkomme oder nicht. Einen Tag später kam das verabredete Tele-

gramm. - Nun mußte noch im Institut jeder Argwohn über das Ver-

schwinden vermieden werden. Deshalb sagte ich, sie sei plötzlich nach

Wien zu ihrer erkrankten Schwester gefahren.“

Als Dreißigjähriger war OTTO HAHN stolz gewesen. ein Deutscher zu

sein. So wie er hatte auch MAX VON LAUE empfunden und die ganze

Generation. Sie hatten gemeint, daß Deutschland in besonderem

Maße berufen sei, der Welt kulturellen und wissenschaftlichen Fort-

schritt zu bringen.

Jetzt, mit sechzig Jahren, mußten sie sich ihres Vaterlandes schämen.

„Leider kann ich meine Landsleute nicht entschuldigen“, schrieb ganz

in ihrem Sinne ARNOLD SOMMERFELD an EINSTEIN, „angesichts all des

Unrechts. das Ihnen und vielen anderen angetan worden ist; auch

nicht meine Kollegen von der Berliner und Münchner Akademie. Viel

Schuld hat die politische Unreife, Leichtgläubigkeit und Unvernunft

des deutschen Volkes.“

Gegen immer neue Angriffe während der ganzen zwölf finsteren Jahre

bewahrten einige deutsche Physiker den alten Geist ihrer Wissen-

schaft. An der Spitze der Kämpfer stand MAX VON LAUE, der „Ritter

ohne Furcht und Tadel“ und „Resolute Champion of Freedom“, wie

er später in den Vereinigten Staaten genannt wurde. „Ich bin mir be-

wußt“, schrieb EINSTEIN, „daß Du Dich wundervoll gehalten hast in

diesen unsagbar schweren Jahren, daß Du keine Kompromisse ge-

macht hast und Deinen Freunden und Überzeugungen treu geblieben

bist wie nur ganz wenige.“

 

92

Explosion der Plutonium-Bombe über der japanischen Stadt Nagasaki am 9. August 1945.

 

ENDE XI

 

KAPITEL XII

 

Die Tür zum Atomzeitalter

Physik wird Weltgeschichte

 

93

LISE MEITNER`s Briefe waren ein Spiegel ihrer Verzweiflung: „Ich

komme mir wie eine aufgezogene Puppe vor“, schrieb sie, „die auto-

matisch gewisse Dinge tut, freundlich dazu lächelt und kein wirkliches

Leben in sich hat.“

Auf der Flucht hatte sie nur das Nötigste mitnehmen können. Jetzt

brauchte sie ihre Bücher, ihre Instrumente und ihre Planskizzen, um

wieder forschen zu können. Arbeit war das einzige, was ihr helfen

konnte. OTTO HAHN ging selbst in die zuständigen Ämter, aber dort

Machte man sich einen Spaß daraus, die „Nicht-Arierin“ zu schikanie-

ren. Der Gedanke, bedrückte ihn, daß LISE MEITNER nun meinen

könnte, er würde sich nicht genügend um die Angelegenheit küm-

mern. Dabei tat er sein möglichstes, rannte herum, telefonierte und

machte sich unbeliebt, weil er sich so für „LISE SARAH MEITNER“ ein-

setzte. Eine besonders lächerliche Verordnung hatte verfügt, daß Ju-

den als zweiten Vornamen Isidor und Jüdinnen Sarah annehmen muß-

ten.

Die Nazis hatten keine Ahnung von der Wissenschaft, Die Radioche-

mie war ein modernes Forschungsgebiet zwischen Physik und Chemie,

und es war eine besondere Stärke des HAHNSCHEN Institutes, daß die

Physikerin LISE MEITNER als Abteilungsleiterin mitwirkte.

Zu lange hatte sich OTTO HAHN der Entlassung widersetzt. Nun drohte

ein Disziplinarverfahren. Er grüßte nicht mit „Heil Hitler“, und bei

Einstellungen bevorzugte er die jungen Leute, die es ebenso hielten.

Bei der verbotenen Trauerfeier für FRITZ HABER hatte er eine Rede

gehalten. Was mochte sich noch alles in seiner Personalakte ange-

sammelt haben?

OTTO HAHN, Direktor des Kaiser- W ilhelm-Instituts für Chemie in Ber-

lin-Dahlem, Thielallee 63 -67, hatte im Dezember 1938 eine Lebens-

krise. Der alte Rheumatismus meldete sich wieder, wie immer, wenn

es dem Winter zuging. Vielleicht sah er deshalb alles so negativ. Wie

lange würde ihm der Sohn HANNO noch bleiben? Jeder konnte sehen,

daß der Krieg vor der Tür stand. HANNO würde einer der ersten sein.

Freude machte ihm allerdings noch immer die wissenschaftliche Ar-

beit, dies konnte er auch in der schlechtesten Stimmung nicht leugnen.

Seine geliebte Radiochemie hatte er in Deutschland eingeführt, und

auf diesem Gebiet war er der Meister. Aber jetzt hatte er Angst. Er

galt als „unzuverlässig“ im Sinne des Dritten Reiches. Es gab genü-

gend Streber, die seine Stellung haben wollten. Und dann? Er konnte

nicht am Schreibtisch zu Hause arbeiten wie sein Freund MAX VON

LAUE. Wenn man dem ein altes Briefkuvert gab und einen Bleistift,

hatte er alles, war er brauchte. OTTO HAHNS Platz war im Laborato-

rium. Die radioaktiven Präparate kosteten ein Vermögen. Ohne sein

Institut war es mit der Forschung für ihn zu Ende.

OTTO HAHN war sechzig Jahre alt. War die Situation für einen sechzig-

jährigen Wissenschaftler tatsächlich besser als die einer Ballettänzerin

mit sechzig? Er dachte an den gleichaltrigen ALBERT EINSTEIN. Bis zum

Jahre 1933 hatten sie sich bei vielen Gelegenheiten in Berlin getroffen

- offiziellen und privaten. Immer war HAHN voller Bewunderung ge-

wesen für seinen Freund EINSTEIN. Scheinbar mühelos hatte er geniale

Theorien produziert, eine nach der anderen. Jetzt aber war sein Ge-

hirn „ausgeleiert“, wie er den alten Freunden schrieb. Tatsächlich war

ihm wohl schon seit zehn Jahren nichts rechtes mehr eingefallen. LISE

MEITNER hatte erzählt, daß WOLFGANG PAULI sich schon über ihn lustig

machte.

OTTO HAHN konnte noch arbeiten. Und er wollte arbeiten. Die Arbeit

war sein Leben, im Dezember 1938 machte er seine Experimente -

mit mehr Erfahrung und mehr innerer Beteiligung als je zuvor: Viel-

leicht waren es die letzten Versuche, die man ihm erlaubte.

Doch seine Resultate waren seltsam. Seit Wochen saß er nun schon mit

seinem Mitarbeiter FRITZ STRASSMANN an der Untersuchung. Sie be-

strahlten Uran mit Neutronen. Welche neuen Elemente entstehen da-

bei? Irgend etwas konnte nicht stimmen. Doch hundertprozentig si-

chere Ergebnisse waren so schwierig zu erhalten. In diesem Falle han-

delte es sich nur um winzigste Substanzmengen. Die Chemiker der al-

ten Schule schüttelten hier ohnehin nur den Kopf. Es war, als kippe

man in New York eine Flasche Whisky ins Meer und erhielte dann,

nachdem sich der Whisky schön im Atlantik verteilt hätte, den Auf-

trag, aus einer bei Helgoland entnommenen Probe den Alkoholgehalt

nachzuweisen.

Uran wird mit Neutronen bombardiert. Welche neuen Elemente wer-

den gebildet? Das war die große Frage. Die Antwort, die HAHN und

STRASSMANN am 15. Dezember 1938 gaben, war: aus Uran entsteht

Radium.

Aber die Physiker waren skeptisch. Bisher hatte man immer nur die

Verwandlung eines Atoms in Nachbaratome beobachtet. Das Uran

hatte die Ordunggszahl 92, sozusagen war also „92“ die Hausnummer

in der Straße der Atome. Radium aber trug die Nummer 88. Die

Nummer 93 hätte man sich als Ergebnis denken können, vielleicht

auch 90, nicht aber 88.

Es mußte aber doch Radium sein. Um mit so winzigen Stoffmengen,

die man auch mit der feinsten Waage nicht nachweisen kann, zu arbei-

ten, braucht man eine ,.Trägersubstanz“. HAHN und STRASSMANN

nahmen Barium als Träger. Chemisch war dieses Element mit Ra-

dium eng verwandt, und deswegen blieb das Radium beim „Fällen“

(wie der Chemiker sagt) immer brav auf dem Träger.

 

94

Originalveröffentlichung von Otto Hahn und Fritz Strassmann (letzte von vorletzte Seite)

in der Zeitschrift “Die Naturwissenschaften”, Jahrgang 27 (1939), Seite 14 bis 15.

 

95

Seite 15

 

96

Originalveröfentlichungen von Lise Meitner und Otto Robert Frisch

in der englischen Zeitschrift “Nature”, Band 143 (1939), Seiten 239 und 471.

97

Seite 471

 

98

Otto Hahn und Fritz Strassmann vor dem sogenannten „Hahn- Tisch “ im Deut-

schen Museum, München, in Erinnerung an die große Entdeckung vom Dezem-

Ber 1938. Das Photo entstand um das Jahr 1961.

 

98

Es wurde unheimlich. Feinste Nachprüfungen, immer mit der Träger-

substanz Barium, ergaben: Der neue Stoff ließ sich in keiner Weise

vom Barium unterscheiden. Als Chemiker kam er zu dem Ergebnis,

daß der neue Stoff Barium sein müsse. Aber war das denn möglich?

Die Physiker wollten nicht einmal an die Umwandlung von Uran (Or-

dungszahl 92) in Radium (Ordungszahl 88) glauben. Barium hatte die

Ordungszahl 56! Wie soll aus der Bestrahlung von Uran mit Neutro-

nen Barium entstehen? Das hieße ja, daß das Atom völlig zertrümmert

worden wäre.

 

98

OTTO HAHN ging es wie einem Gerichtsmediziner, der während der

Verhandlung ein ncues Beweisstück untersucht und statt der erwarte-

ten Fingerabdrücke des Angeklagten die des Staatsanwalts findet.

Was würde LISE MEITNER sagen? OTTO HAHN erinnerte sich an die vie-

len temperamentvollen Diskussionen. Zu Beginn ihrer Zusammenar-_

beit vor dreißig Jahren war LISE MEITNER immer ganz still gewesen.

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sie es als Frau in der Männergesell-

schaft sicher nicht leicht gehabt. Aber mit den Jahren war der wissen-

schaftliche Erfolg gekommen und mit dem Erfolg das Selbstbewußt-

sein. Regelmäßig diskutierten sie nach dem Institutskolloquium mit-

einander; sie standen dann vor dem Treppenaufgang, und LISE MEIT-

NER beendete sehr oft das Gespräch: „Hähnchen“, sagte sie, oder auch

„Liebes Hähnchen: Geh’ nach oben, von Physik verstehst Du nichts.“

Im ersten Stock hatte er als Direktor die schönsten Räume. Eigentlich

war das Institut ein Schloß mit dicken Mauern und Türmen. OTTO

HAHN liebte es. Ungeheuer gewissenhaft hatte er für sein Institut

Sorge getragen und auch die Mitarbeiter dazu angehalten. An jeder

Türklinke hing Toilettenpapier, neben jedem Telephon stand eine

Rolle. So war es gelungen, die gefürchtete radioaktive Verseuchung zu

verhindern. Doch ging es dabei in erster Linie weniger um die Ge-

sundheit, vielmehr um die „Sauberkeit“ der Versuche.

Auch diesmal konnten sich HAHN und STRASSMANN auf ihre Versuche

verlassen. Aber als Wissenschaftler waren sie vorsichtig: Nie etwas

behaupten, was man nicht ganz sicher beweisen kann! So schrieben sie

am 21. Dezember 1938 in ihrer Mitteilung für die Zeitschrift „Die Na-

turwissenschaften“:

„Wir kommen zu dem Schluß: Unsere Radium-Isotope haben die Ei-

genschaften des Bariums, denn andere Elemente als Radium oder Ba-

rium kommen nicht in Frage... Als der Physik in gewisser Weise na-

hestehende Kern-Chemiker können wir uns zu diesem, allen bisheri-

gen Erfahrungen der Kernphysik widersprechenden Sprung noch

nicht entschließen, Es könnten doch noch eine Reihe seltsamer Zu-

fälle unsere Ergebnisse vorgetäuscht haben.“

Ein paar Tage später waren OTTO HAHN und FRITZ STRASSMANN völlig

sicher: Aus Uran war Barium entstanden. Sie hatten das Atom gespal-

ten,

Als erste wußte es LISE MEITNER. Über die Weihnachtstage war ihr

Neffe OTTO ROBERT FRISCH, auch er ein Physiker, zu ihr nach Schwe-

den gekommen. In einem Dorf verbrachten sie das Fest mit Freunden.

Als er von der Entdeckung hörte, widersprach OTTO ROBERT FRISCH, so

wie sie OTTO HAHN widersprochen hätte: Uran spaltet sich in Barium?

Unmöglich!

Aber OTTO HAHN mußte man glauben. Keiner arbeitete so sorgfältig

wie er, So überlegten LISE MEITNER und OTTO ROBERT FRISCH einmal,

sozusagen probeweise: Angenommen, HAHN hätte recht. Was ließe

sich daraus schließen?

Wenn Barium (Ordungszahl 56) ein Bruchstück ist, dann muß das

zweite Bruchstück die Ordungszahl 36 haben, also ein Krypton-

Atomkern sein, Die Uranspaltung muß sich also schreiben lassen:

92U+1,0 n = 56Ba+36Kr

 

99

Taschenkalender von Otto Hahn. Am 19. Dezember 1938 berichtete Otto Hahn

erstmalig über die”aufregende Versuche” in einem Brief an Lise Meitner.

Am 22. Dezember schloß das Manuskript der berühmten Veröffentlichung ab.

99

Arbeitstisch von Otto Hahn und Fritz Strassmann. Rekonstruktion im Deut-

schen  Museum , München. Mit dieser Versuchsanordnung wurde im Dezember

1938 die Spaltung des Urans entdeckt.

 

100

Die Massenzahlen konnte man noch nicht einsetzen. Man wußte nicht,

welches Uran-Isotop zerplatzt, und man wußte vor allem nicht, welche

Barium- und Krypton-Isotope entstehen. Es ließ sich aber leicht er-

kennen, daß es schwere Isotope mit einem Neutronen-Überschuß sein

müssen.

Immerhin konnte man die Massenzahlen abschätzen. Leicht errech-

nete sich dann der Massendefekt, so wie es EINSTEIN schon 1907 vor-

geführt hatte. Mit etwa 200 MeV war der Massendefekt, das heißt die

freigesetzte Energie, höher als bei allen Kernreaktionen, die man bis-

her kannte.

Immer wenn damals ein Atomphysiker Probleme hatte, mit denen er

nicht fertig wurde, ging er zu NIELS BOHR nach Kopenhagen. So auch

OTTO ROBERT FRISCH im Auftrag von LISE MEITNER.

Bor-in war auf dern Wege in die Vereinigten Staaten; er hätte fast das

Schiff versäumt. Die amerikanischen Physiker erfuhren von ihm das

Versuchsergebnis, die anderen lasen die Mitteilung in der Zeitschrift

„Die Naturwissenschaften“. In den Ländern, in denen es entspre-

chend ausgerüstete Institute gab, wurden die Versuche wiederholt.

Die Physiker stellten unzweifelhaft fest:

  1. Bei jeder Uranspaltung wird eine große Menge Energie frei.
  2. Der Prozeß wird durch ein Neutron bewirkt; gleichzeitig entstehen

zwei bis drei neue Neutronen.

Danach sollte es möglich sein, im Uran eine Kettenreaktion in Gang zu

setzen. Wie in einem Schneeballsystem sollte sich die Zahl der Neu-

tronen steigern - und ebenso die Zahl der gespaltenen Uranatomker-

ne: l, 2, 4, 8, 16, 32, 64 , . . Binnen Sekundenbruchteilen müßten dann

alle vorhandenen Atomkerne des Urans gespalten werden. Das war -

im Prinzip - ein Sprengstoff von unerhörter Gewalt, oder, wenn es ge-

länge, die Kettenreaktion „zu zähmen“, ein Kraftwerk von phantasti-

scher Leistungsfähigkeit.

Zur gleichen Zeit, als diese Reaktion von den Forschern entdeckt

Wurde, marschierten deutsche Truppen in Prag ein. Jetzt mußte jeder

begreifen, daß es unmöglich war, mit dem „Dritten Reich“ in Frieden

zu leben, „Peace for our time“, „Frieden für unsere Generation“ hat-

te der englische Premierminister CHAMBERLAIN mit dem „Münchner

Abkommen“ vom Herbst 1938 schaffen wollen. Schon ein halbes

Jahr später, im Frühjahr 1939, hatte HITLER den Vertrag gebrochen.

In England begann man, sich auf den Krieg einzustellen. In Amerika

waren es die Flüchtlinge aus Europa, die wußten, was von HITLER zu

halten war. Den Kernphysiker LEO SZILARD überfiel ein jähes Entset-

zen: Sollte Deutschland einen Vorsprung in der technischen Nutzung

der Kernenergie gewinnen, würden die Nazis dies zu einer Erpressung

größten Stils nutzen.

Man mußte die amerikanische Regierung warnen! Keine Ahnung

hatte sie von dieser ungeheuren Gefahr. SZILARD war erst kürzlich

nach Amerika gekommen, und außer ein paar Physikern kannte ihn

niemand, Er fuhr zu EINSTEIN.

Es war inzwischen Ende Juli geworden. EINSTEIN machte Urlaub am

Atlantik. Mit SZILARD saß er auf der Veranda des gemieteten Som-

merhauses an der „Old Grove Road“ in Peconic auf Long Island. Szı-

LARD, ein gebürtiger Ungar, hatte lange in Deutschland gearbeitet und

 

100

Mit seinem Schreiben vom 2. August 1939 (Abbildungen Seite 101) gab Ein-

stein, der überzeugte Pazifist, aus Furcht vor der Machthabern der National-

sozialisten, den Anstoß zum Bau der amerikanischen Atombombe. Ende Juli

1939 verfaßten Einstein und Szilard den Brief an den amerikanischen Präsiden-

ten Roosevelt. Bei dem Photo handelt es sich wahrscheinlich um eine am histori-

schen Ort im Summer 1946 nachgestellte Aufnahme.

 

100

konnte alles in der einzigen Sprache besprechen, die EINSTEIN wirklich

beherrschte: in Deutsch. In dieser delikaten Angelegenheit kam es

auch auf die Feinheiten an. EINSTEIN entwarf ein Schreiben, SZILARD

übersetzte es ins Englische und fügte einige Abschnitte hinzu. „Einige

mir im Manuskript vorliegende neue Arbeiten von E. FERMI und L.

SZILARD lassen mich annehmen, daß das Element Uran in absehbarer

Zeit in eine neue wichtige Energiequelle verwandelt werden könnte.

Gewisse Aspekte der Situation scheinen die Aufmerksamkeit der Re-

gierung und , wenn nötig, rasche Aktion zu erfordern. Ich halte es da-

her für meine Pflicht, Ihnen die folgenden Fakten und Vorschläge Zu

unterbreiten: Im Lauf der letzten vier Monate wurde - durch die Stu-

dien von JOLIOT in Frankreich und von FERMI und SZILARD in den Ver-

einigten Staaten - die Möglichkeit geschaffen, in einer großen Uran-

masse atomare Kettenreaktionen zu erzeugen, wodurch gewaltige

Energiemengen und große Quantitäten neuer radiumähnlicher Ele-

mente ausgelöst würden. Es scheint jetzt fast sicher, daß dies in der al-

lernächsten Zeit gelingen wird...“

Schon 1907 hatte sich EINSTEIN für Reaktionen interessiert, „für wel-

che (M-Summe m)/M nicht allzu klein gegen l ist“. Damals war es ihm dar-

auf angekommen, seine Formel E = mxc2 experimentell zu verifizieren.

An Beweisen für die Richtigkeit der Formel gab es nun keinen Mangel

mehr; hundertfach, tausendfach hatte sie sich bestätigt.

 

101

Brief Einsteins an Roosevelt.

 

101

Jetzt war die Frage, ob sich die von OTTO HAHN und FRITZ STRASSMANN

entdeckte Kernspaltung tatsächlich dazu eignete, technisch Energie zu

gewinnen. EINSTEIN hatte immer an eine solche Möglichkeit gedacht.

Im Jahre 1919, in der großen Energiekrise nach dem Ersten Welt-

krieg, hatte ihn ein Reporter des „Berliner Tageblattes“ daraufhin an-

gesprochen. ERNEST RUTHERFORD hatte damals zum ersten Mal eine

Kernreaktion künstlich ausgeführt: Unter dem Beschuß von a-Teil-

chen (Helium-Atomkernen) verwandelte sich Stickstoff in Sauerstoff.

Dies war freilich ein sehr seltenes Ereignis, Skeptisch und pragma-

tisch, wie er war, blieb Rutherford dabei, daß die Idee, Atomenergie

zu gewinnen, „dog's moonshine“, Phantasie und Schneegestöber sei.

Einstein aber hatte schon 1919 zu Protokoll gegeben: „Es ist durchaus

nicht ausgeschlossen, daß [beim Experiment von Rutherford] bedeu-

tende Energiemengen freigemacht werden. Es wäre möglich und ist

nicht einmal unwahrscheinlich, daß daraus neuartige Energiequellen

von ungeheurer Wirksamkeit erschlossen werden können, aber eine

unmittelbare Stütze in den bis jetzt bekannten Tatsachen hat diese

Erwägung noch nicht. Es ist ja sehr schwer, Prophezeiungen zu ma-

chen, aber es liegt im Bereich der Möglichkeit. Wenn es überhaupt ge-

lingt, auf diese Weise die innere Atomenergie freizumachen, so würde

das wahrscheinlich für die ganze Energiebilanz...von ungeheurer

Bedeutung werden.“

Jetzt war es so weit. Am 2. August 1939 unterzeichnete EINSTEIN den

Brief an den Präsidenten ROOSEVELT. SZILARD übergab ihn einem

Freund des Präsidenten. Nach einigem Hin und Her hatte ROOSEVELT

begriffen. Zu seinem Attache, General „Pa“ WATSON, sprach er die

berühmt gewordenen Worte: „Pa, dies hier bedeutet: Wir müssen

handeln.“ Aus Physik wurde Weltgeschichte.

Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges jubelten die Menschen; als der

Zweite Weltkrieg begann, waren alle still. 1914 hatte OTTO HAHN ein-

rücken müssen, 1939 war sein Sohn HANNO an der Reihe. MAX VON

LAUE hatte seinen Sohn schon zwei Jahre zuvor nach Amerika ge-

schickt, um ihn nicht in die Lage zu bringen, einmal für einen HITLER

kämpfen zu müssen.

 

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