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optimierte, reichte es der Kirche, wenn gezahlt wurde. Allerdings
reichte es nie bis zur letzten Sicherheit für die Gläubigen, daher tat
man gut daran, immer wieder zu zahlen. Lag man auf dem Sterbebett
und verlangte nach der letzten Ölung durch einen Priester, empfahl
dieser, zur Sicherheit einen beträchtlichen Teil seines Vermögens der
Kirche oder einem Kloster zu vermachen.
Nicht nur jede Sünde hat ihren Preis. Alles hat einen Preis in
Rom. Jeder, der Bischof oder Kardinal werden wollte, muss zahlen.
Der Verkauf von Bischofsämtern und Kardinalswürden ist eine lukra-
tive Einnahmequelle für den Papst und für den Käufer eine Investiti-
on in seine Zukunft.
So entwickelte sich die Kirche zu einem mächtigen, reichen, mul-
tinationalen Konzern, der mit Priester-, Bischofs- und Verwaltungs-
posten, Sündenvergebung, Heilsversicherungen und J enseitsgaran-
tien handelte. Zeitweise befand sich rund die Hälfte des deutschen
Bodens im Besitz der mittelalterlichen Kirche. Wer sich bei diesem
Konzern ein Amt kaufte, tat dies in der Regel nicht aus Frömmigkeit
und dem ehrlichen Bestreben, Gott zu dienen, sondern aus dem Inte-
resse an einer sicheren Stellung, einem hohen sozialen Status, einem
guten Leben und einer ordentlichen Machtfülle. Es gab viele Gelegen-
heiten, sich zu bereichern und Freunden und Verwandten eine Stelle
oder anderweitige Vorteile zu verschaffen. Ein Studium der Theologie
war für den Erwerb eines Bischofsamts nicht nötig, ja nicht einmal
die Priesterweihe. Geld genügte und war eine sichere und rentable
Investition, denn man verfügte über genügend Untertanen, deren Ar-
beitskraft so weit ausgebeutet werden durfte, dass es für einen fürstli-
chen Lebensstil der Bischofsfamilien reichte.
Schon lange vor Luther hat es immer wieder Kritik an dieser to-
talen Verweltlichung und Kommerzialisierung der Kirche gegeben.
Aber alle guten Vorsätze und alle Bemühungen um Reformen ver-
liefen irgendwann im Sande. Die Profiteure des Systems sahen nicht
ein, warum sie etwas ändern sollten an einem System, das sich doch -
für sie - bewährt hatte. Unbekümmert und äußerst professionell ver-
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arbeiteten sie den Schatz im Himmel, den Jesus und die Heiligen pro-
duziert hatten, zu handlichen Päckchen und verkauften ihn teuer in
alle Welt. Das erste multinationale kapitalistische Unternehmen war
entstanden. Immerhin hatte es auch eine soziale Komponente. Arme
bekamen den Ablass billiger oder sogar umsonst.
Und innovativ war man auch schon: Im Jahr 1476 erfand der Theo-
loge Raimund Peraudi den Ablass für die bereits Verstorbenen. De-
ren Aufenthalt im Fegefeuer konnte nun erheblich verkürzt werden,
wenn die Lebenden an die Kirche zahlten. Bereitwillig und schnell
gab der Papst dieser Erfindung seinen Segen, denn sein Geldbedarf -
und der seiner Kardinäle und Bischöfe ~ war unermesslich.23
Der Papst hieß damals Leo X. und war keineswegs, wie Luther ge-
dacht hatte, einer der reichsten Männer der Welt, sondern schrammte
hoch verschuldet bei den Fuggern immer knapp an der Pleite vorbei.
Zwar floss Geld in Strömen nach Rom, aber noch mehr als herein-
kam, gab der Papst aus. Seine Kriege, seine Bauwut, seine Förderung
der Kunst, notwendige Bestechungen, teure Gefälligkeiten, Feste, Ge-
lage, Mätressen, die Ansprüche der Familie, das alles verschlang mehr
Geld, als der Papst hatte.
Einer seiner Kunden war jener Albrecht von Brandenburg, Erz-
bischof von Magdeburg und Administrator der Diözese Halberstadt,
an den Luther seine 95 Thesen geschickt hatte, aber nie eine Antwort
bekommen hatte. Diesem Brandenburger Kirchenfürsten hatte nicht
gereicht, was er an Reichtümern schon besaß, er wollte noch mehr
und erkannte seine Chance, als das Erzbistum Mainz, ein ganz beson-
ders attraktives Kirchenstück, einen neuen Erzbischof brauchte. Der
Posten versprach nicht nur noch mehr Reichtum, sondern auch noch
mehr Macht. Der Erzbischof von Mainz war automatisch Reichskanz-
ler und deutscher Primas.“
Aber Rom verlangte für diese Goldgrube mehr, als Albrecht zahlen
konnte, dazu auch noch weitere jährliche Abgaben, denn eigentlich
war es nach dem Kirchenrecht verboten, mehr als einen Bischofssitz
innezuhaben. Aber wenn die Zahlung hoch genug war, konnte man
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als Papst schon mal eine Ausnahme machen. Albrecht war gewillt,
jeden Preis zu zahlen, und lieh sich daher das Geld von den Fuggern.
So wurde er 1514 Erzbischof und Kurfürst von Mainz und ein guter
Kunde der Fugger.
Auch der Papst war ein wertvoller Fugger-Kunde, jedoch nur un-
ter der Bedingung, dass er immer pünktlich seine Raten für Zins und
Tilgung beglich. Sorgen machte der Bank, dass der Papst sich in das
Abenteuer des Petersdoms stürzte. Dessen Wiederaufbau hatte 70
Jahre zuvor unter Papst Nikolaus V. begonnen, war aber noch lange
nicht beendet und sollte nun nach Leos Willen zügig vorangetrie-
ben werden, einerseits zum höheren Ruhme Gottes, andererseits zum
höheren Ruhm von Leo X. Und das verschlang nun mal sehr hohe
Summen. "
Um hier mehr Sicherheit hineinzubringen, kam die Fuggerbank
auf die rettende Idee, Ablassbriefe in großem Stil und im ganzen
Reich zu verkaufen. Und so schlugen die Banker dem Papst vor, den
Erzbischof Albrecht von Mainz zum »päpstlichen Ablasskommissar«
zu ernennen. Er soll dafür sorgen, dass der Verkauf sicher und or-
dentlich über die Bühne gehe, dafür würde er an den Einnahmen be-
teiligt. Ein perfekter Deal, von dem alle profitieren: Die Gläubigen be-
kommen ihren Sündenerlass, Albrecht und Leo entledigen sich ihrer
Geldsorgen, auch für die mit dem Verkauf beauftragten Dominikaner
fällt etwas ab, die Bank macht ein gutes, sicheres Geschäft, und in
Rom wird die Peterskirche gebaut.
Es hätte alles so einfach und schön werden können, wenn ihnen
nicht dieser halsstarrige, weltfremde, unkooperative Wittenberger
Idiot Martin Luther in die«Quere gekommen wäre. Aber, so dachten
sie noch immer, mit dem werden wir schon fertig werden - wären
sie vielleicht auch geworden, wenn Luther allein in einem isolierten
Umfeld gehandelt hätte.
Aber er war nicht allein. Und sein Umfeld war bestens präpariert.
Die antiklerikale Stimmung - befördert durch Berichte und Gerüchte
über geldgierige Kleriker, geile Mönche, verlogene Priester - wurde
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durch die Humanisten auf ein wissenschaftliches Fundament gestellt.
Durch ihr Studium alter Texte hatten sie sich zu intimen Kennern
des Wortes entwickelt, sich von der antiken Begeisterung für das
Wort und den Glauben an die Macht des Wortes anstecken lassen,
aber trotz aller Begeisterung die Texte kritisch gelesen.
Dafür hatten sie an etlichen europäischen Universitäten Metho-
den für die Analyse erarbeitet. Sie waren nun in der Lage, jeden Text
in all seinen Facetten systematisch zu untersuchen, zu gewichten
und aus dem Entstehungsdatum, der Herkunft, dem Anlass, dem Er-
scheinungsbild und seinem Gehalt die richtigen Schlüsse zu ziehen,
zum Beispiel, ob ein Text echt oder gefälscht ist.
Dazu hatte man allen Grund. ››In früheren Jahrhunderten hat-
ten Mönche in großem Stil und leichten Herzens Dokumente zum
größeren Ruhme Gottes gefälscht, insbesondere Urkunden, die den
rechtmäßigen Anspruch ihres Klosters auf Ländereien oder Privilegi-
en bezeugten. Diese Mönche hatten in einer Welt gelebt, in der es viel
zu wenige Dokumente gab, also mussten sie die nötigen Belege und
Urkunden selbst herstellen, um das zu beweisen, was sie aus tiefstem
Herzen als wahr und richtig erachteten.<<
Daher unterzogen die Humanisten auch kirchliche Dokumente
und Schriften der Kirchenväter ihrer kritischen Lesart. Und kamen
teilweise zu verblüffenden Ergebnissen. Zum Beispiel kam heraus,
dass es sich bei der ››Konstantinischen Schenkung« um eine um das
Jahr 800 gefälschte Urkunde handelt, die angeblich in den Jahren
315/317 vom römischen Kaiser Konstantin ausgestellt wurde. Darin
wird Papst Silvester I. (Pontifex von 314-335) und all seinen Nach-
folgern bis ans Ende der Zeit die Oberherrschaft über Rom, Italien,
die gesamte Westhälfte des Römischen Reichs, aber auch das gesam-
te Erdenrund mittels Schenkung übertragen. Mit diesem Dokument
in der Hand begründeten die Päpste territoriale Ansprüche und ihre
Herrschaft über die gesamte Christenheit.
Aus Dankbarkeit, so steht in der Urkunde, weil Silvester den Kai-
ser vom Aussatz geheilt habe, habe dieser dem Papst die kaiserlichen
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Insignien und Vorrechte verliehen (Diadem, Purpurmantel und Zep-
ter). Somit stand also nun der Papst im selben Rang wie der Kaiser.
Drei Gelehrte des 15. Jahrhunderts - der deutsche Kardinal Niko-
laus von Kues, der Italiener Lorenzo Valla und der englische Bischof
Reginald Pecock - haben unabhängig voneinander diesen päpstlichen
Anspruch zu Fall gebracht mithilfe der neuen textkritischen Metho-
den, die sie zwischen 1432 und 1450 auf diese Schenkungsurkunde
angewendet hatten. Alle drei waren zu dem Schluss gekommen, dass
es sich um eine Fälschung handle, weil der Stil, in dem der Text ge-
schrieben ist, überhaupt nicht zu dem Stil passte, in dem im 4. Jahr-
hundert geschrieben wurde.25
Die drei Forscher haben das aber nie an die große Glocke gehängt.
Lange blieb das ein Wissen unter Eingeweihten. Luther und die Deut-
schen erfuhren davon erst, als der deutsche Humanist Ulrich von
Hutten (1488-1523) Vallas Traktat über die Fälschung übersetzen,
nachdrucken und ab 1517 verbreiten ließ. Nun war bewiesen, was
man schon immer geahnt hatte: ››Rom<< ~ das ist nicht nur der Ort,
an dem der Klerus in Saus und Braus lebt, das Geld der Gläubigen
verprasst, Mätressen beschäftigt, mit Ämtern schachert und dauernd
uneheliche Kinder zeugt, die es zu versorgen gilt, nein, Rom ist auch
ein einziger großer Priesterschwindel.
So arbeiteten Luther und die Humanisten zu Beginn der Reforma-
tion Hand in Hand gegen die römische Kirche. Das kleine Korn der re-
formatorischen Erkenntnis wurde vermehrt vom gerade erfundenen
Buchdruck, gesät von den Humanisten und Luthers Sympathisan-
ten, gewässert von Rom, gedüngt vom Dominikanermönch Tetzel -
und ging auf unter der Sonne der Renaissance, die aus Italien über
die Alpen schien.
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VII Es geht los
Nicht nur Tetzel hatte sich in Rom über Luther beschwert. Auch je-
ner Albrecht von Brandenburg, der bei den Fuggern tief in der Krei-
de stand, seit er sich die Titel Erzbischof von Mainz, Metropolit der
Kirchenprovinz Mainz, Landesherr des Erzstifts Mainz, Kurfürst und
Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches teuer erkauft hatte, war
unter den Beschwerdeführern. Als päpstlicher Ablasskommissar durf-
te der Mann, der Luther nie auf dessen 95 Thesen geantwortet hat-
te, Zweifel an der Wirksamkeit des Ablasses gar nicht erst aufkom-
men lassen. Auch die Fugger, deren Abgesandte an jedem Abend das
neu eingenommene Sündengeld zählten, hatten ein vitales Interesse
an einer reibungslosen Fortsetzung des Geschäfts. Da störte dieser
Mönch aus Wittenberg gewaltig.
Nun liegen aber zwischen Wittenberg und Rom ungefähr andert-
halbtausend Kilometer. Eine einzelne Nachricht, die so einen weiten
Weg zurücklegen muss, verliert schon allein durch diese Entfernung
einen Teil ihrer Brisanz. Den Rest verliert sie, wenn der Adressat, in
diesem Fall also Papst Leo X., beim Eintreffen ganz andere Sorgen hat
und Nachrichten erhält, die zwar auch von weit her kommen, aber
sofortiges Handeln erfordern.
Und diese Nachrichten kamen von den Ostgrenzen des Reiches.
Die Osmanen breiteten sich immer mehr nach Westen aus, und wenn
sie nicht endlich gestoppt würden, stünden sie irgendwann vor Rom.
Daher rief Leo einige Stadtstaaten, Fürstentümer und den König von
Frankreich zu einem Kreuzzug auf, stieß aber auf wenig Begeiste-
rung und war nun damit beschäftigt, diese Begeisterung zu wecken.
Die Nachricht von dem Ärger mit diesem Luther erreichte den Papst
zu einer Zeit, in der es galt, eine schlagkräftige Koalition gegen die
Türken zu schmieden.