jemand von oben in die Parade fährt und dafür sorgt, dass der Ablass-
verkauf wieder in die theologisch korrekte Spur gebracht wird.
Es war der katholische Lutherforscher Erwin Iserloh, der im Jahr
1961 an der schönen Geschichte vom Thesenanschlag zu zweifeln
begann. Seine Begründung: Luther selbst hat in all seinen vielen Re-
den und Schriften diese Kirchentürgeschichte nie erwähnt. Ist das
nicht seltsam? Wenn er die 95 Thesen tatsächlich eigenhändig an die
Kirchentür genagelt hätte, hätte er doch bestimmt eine schöne Ge-
schichte daraus gemacht und sie in immer neuen Varianten immer
wieder erzählt. Aber nichts dergleichen liegt vor. Kein Wort.
Urheber der Geschichte war Luthers wichtigster Partner Philipp
Melanchthon, der jedoch kein Augenzeuge gewesen sein konnte, da
er erst 1518 als Professor an die Wittenberger Universität berufen
wurde. Und er hat die Geschichte erst nach Luthers Tod erzählt.“
Der Sache deutlich näher gekommen sind die Lutherforscher,
als sie vor einigen Jahren ein Neues Testament entdeckten, mit dem
Luther gearbeitet hatte. In diesem Buch fanden sie eine handschrift-
liche Bemerkung von Luthers Sekretär Georg Rörer. Darin heißt es:
››Im Jahr 1517 am Vorabend von Allerheiligen sind in Wittenberg an
den Türen der Kirchen die Thesen über den Ablass von Doktor Martin
Luther vorgestellt worden.<<15
Also: Die Thesen wurden tatsächlich an der Kirchentür ange-
bracht, aber nicht nur an einer, sondern an mehreren Kirchentüren,
und nicht von Luther persönlich, sondern sehr wahrscheinlich vom
Pedell der Wittenberger Universität. Der Zweck dieser Plakatierung
bestand nicht darin, das Heilige Römische Reich in seinen Grund-
festen zu erschüttern, sondern darin, zu einer öffentlichen Fachdis-
kussion an der theologischen Fakultät einzuladen. Thema der Dis-
kussion: die 95 Thesen. In dieser Einladung heißt es: »Aus Liebe zur
Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen, soll über die
folgenden Sätze diskutiert werden.<<16 Das Echo auf diese Einladung
war so gering, dass die Veranstaltung abgesagt wurde."
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Übrigens hat Luther auch nie eine Antwort von Albrecht von
Brandenburg erhalten, auch von anderen Klerikern nicht, schon gar
nicht aus Rom. Das war für Luther die eigentliche Überraschung. Er
hatte damals noch eine hohe Meinung von seiner Kirche und ein fast
kindliches Zutrauen zu deren Führungspersonal. Wieso halten die
ihn für einer Antwort nicht würdig? Wieso erkennen sie nicht, dass
die Ablasspraxis eindeutig gegen die kirchliche Lehre verstößt und
dringend korrigiert werden muss? Wieso danken sie ihm nicht für
seinen Hinweis auf den Missbrauch des Ablasses?
Wenn Luther später - zum Teil bis heute - von katholischer Seite
als Kirchenspalter, Ketzer und Häretiker bezeichnet wurde, dann ist
das insofern ungerecht, als der Ursprung dieser Spaltung von Rom
zu verantworten ist. Luther hat in seinen 95 Thesen berechtigte Fra-
gen an den Papst und an die Kirche gestellt und verdient, darauf eine
Antwort zu erhalten. Hätte er diese bekommen, und hätte sie zu einer
Korrektur der Ablasspraxis geführt, wäre Luther vermutlich der brave
Mönch und treue Diener seiner Kirche geblieben, der er war.
-Aber was dann aus Rom kam, war eine römische Machtdemonst-
ration, die ihn zwingen sollte, den Mund zu halten. Und weil Luther
sich weigerte, das zu tun, eskalierte die Geschichte, in deren weite-
rem Verlauf sich dann auch Luther und viele andere schuldig mach-
ten. Aber ihren Ursprung hat die Geschichte in der Weigerung Roms,
auf Luthers begründete Kritik zu antworten und zu reagieren.
Seine 95 Thesen wären möglicherweise auch versandet und ver-
gessen worden oder allenfalls eine Angelegenheit für Theologen, Ju-
risten und Verwaltungsbeamte geblieben, wenn nun nicht ein wei-
terer Mechanismus das Räderwerk der Reformation vorangetrieben
hätte: der Buchdruck, vom Mainzer Johannes Gutenberg um das Jahr
1450 erfunden. In dem halben Jahrhundert, das seitdem verging,
sind überall im Land Druckereien entstanden. Daher passiert nun et-
was, womit Luther nicht gerechnet hatte, und was das Bild von den
Hammerschlägen dann doch wieder stimmig macht: Auf nicht mehr
nachvollziehbaren Wegen gelangten Luthers Thesen in die Hände
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auswärtiger Drucker, die, ohne Luther zu fragen, dessen Thesen ein-
fach druckten.
Die Geschichte »Mönch gegen Rom« kam ihnen gerade recht, da
ihr Geschäft schon lange kriselte. Es mangelte an Themen, für die
sich ausreichend viele Käufer interessierten. Die 95 Thesen aber la-
sen sich wie etwas, worauf die Welt schon lang gewartet hatte. Der
Geldhunger Roms und die Art, wie Papst und Kurie Geld eintrieben,
war unter den Gebildeten im deutschen Reich schon seit Jahrzehnten
ein häufig diskutiertes Thema und Anlass für Kritik, Spott und Satire.
Generell herrschte im ganzen deutschen Reich der Eindruck vor,
››dass man in die Kirche, besonders in die Kurie und das Papsttum,
mehr hineinsteckte, als man wieder herausbekam«.18 Der Eindruck
war nicht ganz falsch, wie wir heute wissen. Zwar lässt sich wider-
legen, »dass das Papsttum Deutschland durch überzogene Abgaben
ausplünderte, andere Länder zahlten mehr<<,19 aber: Sie bekamen
auch ein Mehrfaches zurück. 4
Vor diesem Hintergrund stieß,Luthers akademisch verpackte Kri-
tik am Ablasshandel sofort auf hohe Aufmerksamkeit. Schnell wurden
die Thesen ins Deutsche übersetzt und nachgedruckt, denn sie verlie-
hen der populären Kirchenkritik ein seriöses wissenschaftliches Fun-
dament und passten zum humanistischen Zeitgeist dieser Jahre. So
wurden Luthers erste Leser zu Multiplikatoren seiner Ideen.
»Das weitere erledigte das von der Kirche unabhängige Kommu-
nikationsnetz der Humanisten- und Intellektuellenzirkel, die begierig
alles Gedruckte aufnahmen und öffentlich zur Diskussion stellten.«2°
Verblüfft notiert Martin Luther: »Ehe 14 Tage vergangen waren,
hatten diese Thesendas ganze Deutschland und in vier Wochen fast
die ganze Christenheit durchlaufen, als wären die Engel selber Boten-
läufer (...) und trügen sie vor aller Menschen Augen. Es glaubt kein
Mensch, was für ein Gerede davon entstand.<<21
Die neue Drucktechnik war den konservativen Herren im Klerus so
gleichgültig und fremd, dass sie deren Wirkung nicht nur falsch, son-
dern überhaupt nicht einschätzten.
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Dass ihnen diese Technik gefähr-
lich werden könnte, ahnten sie zunächst überhaupt nicht. Daher ka-
men sie auch nicht auf die Idee, diese Technik unter ihre Aufsicht
zu zwingen. So konnten die zahlreichen, im ganzen Reich verteilten
Druckereien ungestört von kirchlicher und staatlicher Kontrolle ver-
breiten, was sie wollten.
Durch diese kontinuierliche Produktion von Diskussionsstoff ent-
stand erstmals so etwas wie eine unabhängige öffentliche Meinung.
Und die richtete sich gegen Rom.
4 Innerhalb weniger Monate wurde die bis dahin nur lokal und regi-
onal bekannte Größe Martin Luther berühmt im ganzen Reich, und
dann dauerte es nicht mehr lange, bis auch der Papst und der Kaiser
erstmals diesen Namen hörten. In den anschließenden drei Jahren
passiert nun mehr als im ganzen Jahrhundert davor.
Was den Herren in Rom als »kleines Mönchsgezänk« zwischen
dem Augustiner Luther und dem Dominikaner Tetzel erscheint, setzt
plötzlich jene Maschinerie in Gang, die zur Kirchenspaltung führt,
zur_Gegenreformation, in den Dreißigjährigen Krieg, in die Verände-
rung ganz Europas. In diesem Frühstadium hätte sich noch manches
regeln lassen, wenn Rom nicht so abgehoben, nicht so arrogant und
nicht so fern von der Lebenswirklichkeit der Menschen gewesen wäre.
Und wenn nicht der bei den Fuggern hoch verschuldete Albrecht von
Brandenburg so dringend des Verkaufs der Ablässe bedurft hätte,
denn er verdiente gut daran. Auch die Fugger verdienten bestens. Und
natürlich der Papst. Das - und das selbstherrliche Vertrauen in die ei-
gene Macht, die sich um Wahrhaftigkeit nicht scheren muss - erklärt
die Weigerung Roms, auf die 95 Thesen zu antworten.
Das blinde Interesse am Geld hinderte die Interessierten daran,
die überall am Horizont sich abzeichnenden Zeichen einer herauf-
ziehenden neuen Zeit- Renaissance, Humanismus, Kopernikus, Ko-
lumbus - zu sehen. Und wo man etwas sah, wurde es falsch gedeutet
oder unterschätzt. Aber vor allem fehlte jegliches Schuld- und Un-
rechtsbewusstsein für das, was man eigentlich tat: die Verwandlung
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der Gnade Gottes in eine Vollkaskoversicherung, deren Einnahmen
dazu dienen sollten, den aufwendigen Lebensstil der Fürsten und
Bischöfe zu finanzieren.
Natürlich haben sie auch Luther total falsch eingeschätzt. Was
will der denn? Dieser Mann ist ein Nichts, und der will dem Papst und
den Fürsten vorschreiben, was sie zu tun hätten? Mit dem werden wir
ganz schnell kurzen Prozess machen, wenn er weiter unsere Krei-
se stört. Sie konnten sich nicht im Traum vorstellen, in welch gro-
ße Schwierigkeiten dieser völlig unbedeutende Dickschädel aus der
deutschen Provinz den gesamten Klerus, die Kirche, die Christenheit,
Europa noch bringen würde.
~ Auch Luther hat sich das zum damaligen Zeitpunkt kaum vor-
stellen können und merkte zunächst nicht, wie er in einen Sog ge-
riet, aus dem es schon bald kein Entkommen mehr geben sollte. Es
hat eine Weile gedauert, bis ihm aufging, dass er, der eigentlich nur
ganz fromm und naiv, als guter Seelsorger und treuer Diener seiner
Kirche, ohne Arg und mit reinem Herzen die Tetzel'sche Ablasspra-
xis kritisierte, plötzlich gezwungen war, ein immer größeres Rad zu
drehen.
Luther wird nun bald die nächste überraschende Erfahrung ma-
chen: Er, der bisher ein fast kindliches Zutrauen in den fernen Papst,
dessen Kardinäle und Fürstbischöfe hatte, wird dieses kirchliche
Führungspersonal im weiteren Verlauf zum Teil persönlich kennen-
lernen und die Erfahrung machen, dass dessen Handeln von allem
Möglichen bestimmt ist, nur nicht von der Sorge um die Kirche und
der Verantwortung für die Gläubigen. Und bald merkt er auch, dass
er mit seiner naiven Unschuld mächtigen Gegenspielern in die Quere
gekommen ist und so ungewollt in die große Politik gerät. Die Kir-
chenführer, denen er bisher vorbehaltlos vertraut hatte, werden ihm
spinnefeind.
Die Geschichte einer enttäuschten Liebe beginnt. Aber Enttäu-
schungen sind »Ent-Täuschungen<<, der Verlust von Illusionen, also
Aufklärung, Erkenntnis. Luther wird über diese Desillusionierung
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wortmächtig schreiben und sprechen und großen Widerhall finden
im Volk, denn halb gewusst, geahnt, vermutet hat man schon lange,
dass diesem kirchlichen Führungspersonal nicht zu trauen ist.
Aber wenn so eine Enttäuschung aus Liebe einmal begonnen hat,
bleibt es nicht bei bloßer Desillusionierung. Der Prozess entwickelt
sich weiter: Aus enttäuschter Liebe wird Hass.
Luthers eigenes Naturell hat dann erheblich dazu beigetragen,
dass sein klarsichtiger Zorn des Gerechten manchmal in blinden
Hass umschlug und er Gegen-Hass provozierte. So geriet er in im-
mer tiefere Konflikte mit den leitenden Herren der Kirche und des
Staates, später auch mit den Bauern und den Humanisten, hinein.
Jede Teufelei, die sich seine Gegner ausdachten, beantwortete er mit
einer eigenen Teufelei. Immer häufiger ging er »herzu wie ein šeblen'
det Pferd«, das dann ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Eigenge-
setzlichkeit entwickelte, die von niemandem mehr zu steuern und zu
stoppen war.
VI Rom – Die große Hure Babylon
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Als Luther in Rom war, entstand dort gerade die große europäische
Kunst der Renaissance, und die Wissenschaft begann sich von der
Theologie zu emanzipieren. Die Stadt selbst, die damals rund 50 000
Einwohner zählte und damit bedeutend kleiner war als die Metropo-
len Vfnedig und Mailand, entwickelte sich aber dank der internationa-
en romıschen Kirche mit dem Papst als europäisches Machtzentrum
zum kosmopolitischsten Ort Europas” Und dank des ungeheuren
Drangs des Klerus nach Prunk und Glanz und Gloria, nach Bildern,
Skulpturen, Parks, Kapellen, Springbrunnen gab es für die Künstler
in Rom vıel zu tun. '
Für all das hatte Luther kaum einen Blick. Was ihm später als er
mit dem Papst schon heftig im Clinch lag, in der Erinnerung!unan_
genehm aufstößt, ist das geschäftliche Treiben an den Pilgerstätten
Vielleicht hätte er es schon damals am liebsten wie Jesus gemacht
der einst die Händler in Jerusalem aus dem Tempel getrieben hat.
Aber so weit war Luther damals noch nicht. Später hat er es getan
mit seinen Worten.
Auch für die hinter Rom stehende politisch-kirchliche Weltord-
nung hatte der fromme Mönch Luther noch kein kritisches Bewusst-
sein. Dass »Rom<< die damals herrschende Supermacht war die Kaiser
und Könige krönte,daran fand Luther nichts auszusetzen, betrachte-
te er doch deren Herrschaft, wie diese selbst als gottgewollt - Kaiser
von Gottes Gnaden, und auf dem Stuhl Petri dessen legitimer Nach-
folger, der Papst. In Rom .wurde das Bündnis von Thron und Altar zum beidersei-
tigen Vorteil erfunden. Der Kaiser beschützt den Papst vor seinen
Feinden. Der Papst legitimiert ihn dafür als gottgewollten weltlichen
Herrscher, dem alle Untertanen zu gehorchen haben
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Der Papst führt Krieg oder lässt Kriege führen, wenn er seine Macht bedroht sieht.
Der Papst bestimmt, was als wahr zu gelten habe und was als Irrlehre
zu verwerfen sei. Und wenn ein kleiner König, Stadtfürst oder Ketzer
hier und da gegen die Papstherrschaft aufbegehren sollte, wurde er
eben vom Papst exkommuniziert, gebannt, verdammt, hingerichtet,
verbrannt oder militärisch bekämpft.
»Rom«, das war der Papst. Und der Papst war die Kirche. Ihre
führenden Köpfe, die Kardinäle und Bischöfe, lebten fürstlich auf
Kosten der Bauern und aller Übrigen, ließen sich auf Sänften tragen
und gründeten diese Privilegien auf den, der einmal gesagt hatte, im
Reich Gottes werden »die Letzten die Ersten und die Ersten die Letz-
ten sein<<. Sie lebten in Schlössern inmittenvon Luxus und Reichtum
und erzählten dem Volk von »Jesus Christus<<, dem Weltenherrscher
und Weltenlenker. Dass dieses arme, machtlose »Lamm Gottes« einst
gesagt hatte, die »Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem
Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein
Haupt hinlege« - erzählten sie dem des Lesens unkundigen Volk lie-
ber nicht.
Was sie erzählten, war eine andere Geschichte: Ihr seid Sünder,
und ihr seid alle verdammt, auf ewig in der Hölle zu schmoren, aber
ihr habt Glück, denn ihr habt uns, und ihr habt Jesus. Dieser ist für
eure Sünden gestorben und hat durch seinen Tod im Himmel einen
Schatz angehäuft, der allein schon reichen würde, um allen Men-
schen dieser Welt alle Sünden zu vergeben, aber es kommen auch
noch die Verdienste der Heiligen und der Gottesmutter Maria hinzu,
die diesen Schatz vergrößern. Und uns, Papst, Bischöfe und Priester
hat Jesus eingesetzt als Hüter und Verwalter dieses Schatzes.
Wir haben den Zugriff und dürfen ihn anzapfen zum Zweck der
Vergebung eurer Sünden. Aber diese Vergebung gibt es nicht um-
sonst. Ihr müsst etwas dafür tun: Bereuen, büßen, eine Kerze stiften,
so und so viele »Vater unser« oder »Ave Maria« beten, auf eine Pil-
gerreise gehen, nach Rom wallfahren, gute Werke tun, aber vor al-
lem und immer wieder: zahlen. Zuletzt, als Tetzel sein Ablassgeschäft