129 »Vom unfreien Willen<<. Wo die Schrift unklar erscheine, liege der
Fehler nicht in der Schrift, sondern in dem unzureichend erkennen-
den Menschen, erklärte Luther. Und mit dem Willen des Menschen
verhalte es sich wie mit einem Zugtier: »Wenn Gott sich darauf ge-
setzt hat, will er und geht, wohin Gott will, wie der Psalm sagt.
Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan
will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von
beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, son-
dern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu
besitzen.<<
Folgenschwerer als diese Meinungsverschiedenheit war vermut-
lich die» Art, wie sie ausgetragen wurde. Erasmus lieferte einen abwä-
genden, ergebnisoffenen Debattenbeitrag, deren Fortsetzung er sich
erhoffte. Er schrieb in dem Bewusstsein, dass er über keine absolute
Wahrheit verfüge und ein Suchender ist, der sich gern eines Besse-
ren belehren lässt. Luther dagegen polterte dogmatisch und autori-
tär, er habe in seiner Schrift nicht Ansichten ausgetauscht, »sondern
ich habe feste Erklärungen abgegeben und gebe feste Erklärungen
- Ich will auch keinem das Urteil überlassen, sondern rate allen,
dass sie Gehorsam leisten. Der Herr aber, um dessen Sache es geht,
erleuchte dich und mache dich zu einem Gefäß zu seiner Ehre und
Herrlichkeit. Amen.«
Auf das Erasmus'sche Angebot eines offenen Gesprächs antwor-
tet Luther mit einer abschließenden Verkündung der Wahrheit. So
autoritär er sich damit gebärdet, so sehr leidet darunter seine Autori-
tät, vor allem seine eigene Glaubwürdigkeit, denn auf dem Reichstag
in Worms hatte er für sich ganz selbstverständlich, neuzeitlich und
130modern das Recht beansprucht, sich gegen die höchsten Autoritäten
auf Schrift, Vernunft und Gewissen zu berufen. Anderen verwehrte
er dieses Recht, wenn sie nicht zu denselben Schlussfolgerungen ge-
kommen sind wie er.
Seit seiner Rückkehr von der Wartburg wird Luther nun mit der
Kehrseite und dem Problematischen seiner Lehre und seines Frei-
heitsverständnisses konfrontiert: Wer entscheidet, was als wahr gel-
ten soll, wenn wir keinen Papst über uns akzeptieren?
Luther hat darauf die Antwort gegeben: die Schrift. Die Schrift
aber ist, wie schon Erasmus richtig erkannte, nicht immer eindeutig,
nicht selten in sich selbst widersprüchlich und kann verschieden in-
terpretiert werden. Welcher Interpret kann dann mit welchem Recht
behaupten, dass seine Interpretation die einzig richtige sei?
Das Problem verschärft sich noch, wenn einer unter Berufung auf
das allgemeine Priestertum aller Gläubigen offensichtliche Spinne-
reien verkündet und behauptet, der Heilige Geist habe ihm das ein-
gegeben. Wer soll entscheiden, wer ein Spinner, Schwärmer, Rotten-
geist ist? Und wenn einer eine Wahnsinnstat begeht und behauptet,
sein Gewissen, oder gar Gott selbst, habe ihm diese Tat geboten, wer
kann ihm sagen, dass sein Gewissen irrt?
Luther hat es nie so gesagt, aber stets so gehandelt und sich -
insgeheim wohl - als von Gott gesandter Prophet verstanden. Womit
er dann auch über dem Papst und praktisch allen anderen gestanden
hätte. ..
Eine sehr große, ja fast unangreifbare Autorität ist ihm anfangs
auch zugestanden worden, und die hatte er sich auch erarbeitet.
Hohe Glaubwürdigkeit verschaffte ihm sein Status des Bettelmönchs,
der mitdeníınanziellen Machenschaften und dem klerikalen Pfrün-
densystem seiner Kirche nichts zu tun hat. Als Prediger, der dem Volk
aufs Maul schaute, seine Sprache sprach und wusste, wo der Schuh
drückt, erarbeitete er sich den Respekt seiner Mitbürger. Und als ged-
lehrter Doktor und Professor, fand er Aufmerksamkeit und Gehör bei
den gebildeten Schichten, sprach öffentlich aus, was diese heimlich
dachten, formulierte es besser, als sie selbst es hätten formulieren
können und brachte sie überdies auf neue Gedanken.
»Insbesondere sein theologisches Doktorat war ihm, zunächst ge-
genüber den ›Papisten<, später auch gegenüber den ›Schwärmern< aus
dem eigenen Lager, ein wichtiges Instrument, um seinen eigenen Au-
toritätsanspruch zu legitimieren. Für die Selbstinszenierung seines
Wittenberger Kollegen, des Weltpriesters Karlstadt, der seine akade-
mischen Titulaturen ablegte, sich mit dem grauen Rock und Filzhut
eines Bauern bekleidete, sich als Ausdruck seiner Neubewertung des
geistlichen Status des Laien als ›neuer lay< bezeichnete und ›Bruder
Andreas< nennen ließ, hatte der ernste Bettelmönch nur Spott und
Verachtung übrig. Anbiedereien gegenüber Studenten oder niederen
Ständen widersprachen Luthers ständischen Ordnungsvorstellungen,
die auf dem Glauben an die gottgegebene soziale Ungleichheit der
Menschen basierten, zutiefst.«46
Er hat auch immer darauf bestanden, mit »Herr Doktor« angere-
det zu werden von seinen Studenten. Verbrüderung war seine Sache
nicht, und nie hat er in seiner jeweiligen Umgebung je einen Zweifel
daran gelassen, wer hier der Chef ist. Und seine Umgebung hat diese
Rolle immer anerkannt.
Aber beide, sowohl er wie auch seine Gefolgsleute, hatten offenbar
die Tragweite ihrer eigenen Gedanken nicht erfasst und darum nicht
vorhergesehen, welche Folgen sich unweigerlich einstellen würden.
Wer den Papst als oberste Instanz für die Wahrheit mit guten Grün-
den stürzt, kann sich anschließend nicht als neuer Papst installieren,
denn dieselben Gründe, die gegen den alten sprachen, sprachen ja
auch gegen jeden neuen.
Daher müssen also alle Papststürzer fortan mit ieinem/unlösba-
ren Problem leben: Wenn sie sich über die richtige Interpretation be-
stimmter Bibelstellen nicht einigen können, kann nicht einer allein
für sich beanspruchen, über die höhere Vernunft, das bessere Schrift-
verständnis, das reinere Gewissen zu verfügen, es sei denn, er findet
genügend Anhänger, die ihm das glauben. Er wird aber damit leben
132müssen, dass es meist noch mehr gibt, die ihm das nicht glauben und
anderen Interpreten oder eigenen Interpretationen vertrauen.
Genau dieses Schicksal steht nun den Anhängern der Reformation
bevor. Luther und Melanchthon müssen die Erfahrung machen, dass
sie zwar neue Gedanken in die Welt entlassen, die Kontrolle darüber
aber verloren haben. Die Gedanken sind frei, entfernen sich von ihren
Urhebern, entwickeln sich unkontrolliert weiter und verändern sich,
die Welt und die Menschen. Ab dem Jahr 1525 erleben Luther, Me-
lanchthon und alle Anhänger der Wittenberger Reformation, wie sich
ihre in Wittenberg entstandenen Gedanken zwar in alle Welt verbrei-
ten, aber ein Eigenleben entwickeln, das dazu führt, dass an anderen
Orten dieser Welt manches anders gesehen, gedacht und interpretiert
wird als in Wittenberg.
In Zürich zum Beispiel gibt der Schweizer Reformator Huldrych
Zwingli 1525 sein Glaubensbekenntnis Von der wahren und falschen
Religion heraus, das er dem französischen König Franz I. schickte. In
vielem ist er mit Luther einig, aber beimßleíendmahlsverständnis, der
Gottesdienstordnung und der Liturgie weicht er von Luther ab und
geht eigene Wege. Bilder, Messen und Zölibat werden abgeschafft und
es gibt eine geregelte Armenfürsorge. *
Ein Jahrzehnt später veröffentlicht Johannes Calvin in Genf sei-
ne Instítutio Chrístíanae Religíonís, zu Deutsch »Unterricht in der
christlichen Religion<<. Es wird zu einem der meistverkauften Werke
der Reformation. Auch er ist von Luther beeinflusst, stimmt in vie-
lem mit ihm überein, in anderen Dingen aber - unter anderem auch
wieder beim Abendmahlsverständnis - unterscheidet er sich sowohl
von Luther wie von Zwingli. Alle drei stehen wiederum gemeinsam
gegen den Papst. \
Und es ist gerade diese Entwicklung, die Luthers Verhaftetsein
ans Mittelalter überwindet und den Weg vorbereitet für den freien
Wettstreit der Gedanken, für Pluralismus, Meinungsfreiheit, Geistes-
freiheit, Freiheit überhaupt. Luther, Melanchthon und seine Witten-berger Reformatoren siegen, insofern sich ihre Gedanken über die
ganze Welt verbreiten. Und sie verlieren, indem andere sich die Frei-
heit nehmen, manche dieser Gedanken zu ändern, zu ergänzen oder
zu streichen.
` 'Das aber entspricht dem von Luther selbst in die Welt gesetzten
reformatorischen Prinzip. Letztlich hat er damit über sich selbst ge-
siegt. Es war ihm nur nicht recht. Lieber hätte er gern alle anderen
besiegt. Aber nirgends in der Schrift steht geschrieben, dass es im-
merzu allein nach dem sturen Kopf des Doktor Martinus Luther zu-
gehen müsse. XIII. Und plötzlich: »Herr Käthe«
129 Klösterliche Ruhe liegt über dem Garten von Marienthron. Man hört
nur das Summen der Hummeln, das Gezwitscher der Vögel und das
Geflüster der Nonnen, die im Garten Unkraut jäten, Kräuter ernten,
Setzlinge pflanzen. Die Welt dort im Sommer des Jahres 1522 scheint
stillzustehen. Es ist, wie es immer war, und es könnte werden, wie es
schon immer geworden ist.
Aber eine der Zisterzienserinnen, die sich gerade vergewissert hat,
wer in Hörweite ist, sagt zur anderen: ››Hast du schon von diesem
Doktor Martin Luther gehört, Katharina, dem Mann der in Worms
Kaiser und Papst die Stirn geboten hat?« A
››Ja, habe ich«, antwortet Katharina flüsterleise, »und ich habe
auch seine 95 Thesen gelesen,›seine Schrift über die Freiheit eines
Christenmenschen und seine Ansprache an den christlichen Adel
deutscher Nation.«
››Oh«, erwidert die andere, »ich kenne nur seine 95 Thesen, die
anderen Schriften nicht. Hast du sie noch, kannst du sie mir geben?«
›>Klopf heute Abend nach dem letzten Gebet an meine Tür, dann
übergebe ich sie dir<<, antwortet Katharina, ››und gib sie dann an
Schwester Else weiter, die hat mich auch schon danach gefragt<<.
››Else? Die brave fromme Else?« T
››Von wegen brav, von wegen fromm - und nicht nur Else, auch
Margarethe, Ave, Veronika haben mich schon gefragt. Und von Va-
netha Katharina vollendet ihren Satz nicht, denn die Abtissin nähert
sich. Still widmen sich die Nonnen wieder ihrer ArbeitL"El5enso still,
aber heimlich, verbreiten sie Luthers Gedanken unter den Nonnen
des Klosters. Freiheit liegt in der Luft. Träume von einem anderen
Leben werden geträumt. Und der Nervenkitzel der Gefahr, der im-
mer mit Freiheit verbunden ist, beflügelt die Fantasie einiger Zister-
zienserinnen im Kloster Marienthron in Nimbschen in der Nähe von
Grimma an der Mulde.
So oder so ähnlich könnte ein Film über Katharina von Bora begin-
nen. Historisch verbürgt ist dieser Anfang natürlich nicht. Aber wie
es weitergeht, das ist einigermaßen bekannt. Aus den Träumen von
Freiheit und einem anderen Leben wird Realität und die stinkt erst
einmal nach Fisch.
Aber der Reihe nach: Katharina von Bora, 24 Jahre jung, schreibt
einfach an Luther. Er solle ihr und acht weiteren Nonnen helfen, dem
Kloster zu entkommen. Der Brief ist verschollen, aber wir wissen,
dass Luther half. Er instruiert den mit ihm befreundeten Kaufmann
Leonhard Koppe aus Torgau, der das Kloster Marienthron regelmäßig
mit Fisch, Bier und Hirse beliefert. Er soll die Frauen nach Witten~
berg bringen.
Koppe erklärt sich einverstanden, obwohl das Unternehmen auch
für ihn hoch riskant ist: Wer Mönchen oder Nonnen zur Flucht ver-
hilft, kann nach Landesrecht zum Tode verurteilt werden. Das Kloster
liegt im Einflussbereich Georg von Sachsens, einem Gegner Luthers
und der Reformation, und er gilt als gnadenlos. Einen Bürger seines
Landes, der eine Nonne entführen wollte, hat er schon zu Tode mar-
tern lassen. Aber Koppe hat Mut, will seinem verehrten Luther und
den Frauen einen Gefallen erweisen und willigt ein, das Abenteuer zu
wagen. \
Ostern um Mitternacht 1523 ist der verabredete Termin, da wollen
die Frauen mit ihm zurück nach Torgau und dann weiter zu Luther
nach Wittenberg fahren. Koppe begibt sich also nach der nächsten
Fuhre Fisch für Nimbschen nicht sofort wieder auf den Heimweg,
sondern wartet mit seinem Wagen in der Nähe des Klosters, bis es
dunkel ist. Da schleichen sich die Frauen aus dem Kloster und ver-
stecken sich auf seinem Wagen, zwischen oder gar in den leeren
Heringsfässern, wie die Chronik berichtet: »nemlich in jeder Tonne136 eine Jungfrau, darin sie bequem hocken konnt.«'” Was für eine Fahrt
muss das sein - mit dem Fischgestank in der Nase und der Angst
im Nacken! Aufatmen können sie erst, als sie den Herrschaftsbereich
Georgs verlassen und in das Sachsen Friedrichs des Weisen nach
Torgau gelangen. Dort sind sie erst mal sicher, bevor es weitergeht zu
Luther in Wittenberg.
Der reagiert auf die Flucht der Nonnen aus Nimbschen sofort
mit einer neuen Kampfschrift: Ursach und Antwort, dass Jungfrauen
Klöster göttlich verlassen mögen.“ Und begründet darin, warum die
Frauen recht haben zu fliehen und auch ihre Ehre dadurch keinen
Schaden nimmt. Auch ermuntert er andere adelige Familien, ihre
Töchter ebenfalls aus den Klöstern zu holen und in die Freiheit zu
entlassen. Freund Koppe aber lobt er als guten und edlen Räuber, der
arme Seelen aus dem Gefängnis menschlicher Tyrannei gerettet und
damit ein wahres Wunder vollbracht habe.
Die Nacht vom Ostersamstag zu Sonntag, den 6. zum 7. April 1523,
verbringt Katharina im Haus von Leonhard Koppe, hier legt sie ihre
Ordenstracht ab und zieht an, was ihr die Damen der Umgebung aus
ihren Kleiderschränken spendieren. Aber was soll nun aus den Frau-
en werden? Es läge nahe, in ihre Elternhäuser zurückzukehren. Aber
nur drei wählen diesen Weg. Die anderen werden von ihren Eltern gar
nicht zurückgenommen, denn erstens hat man sie ja einst ins Kloster
gesteckt, weil man arm ist und die Töchter nicht ernähren und aus~
bilden konnte, zweitens ist es eine Schande, die Gelübde zu brechen
und einfach aus dem Kloster zu fliehen, und drittens wird sich wegen
dieser Schande auch kein Mann finden, der so eine heiraten würde.
Was also tun mit den sechs Abtrünnigen? Luther weiß: Das ist
jetzt mein Problem. Ich habe sie aus dem Kloster geholt, jetzt muss
ich mich auch um sie kümmern. _ ~
Und er kümmert sich. Am 10.April organisiert er am kurfürstlichen
Hof eine Kollekte, um die Frauen mit dem Nötigsten zu versorgen.
Und dann müssen sie schnell unter die Haube, passende Ehemänner unter den Junggesellen in Wittenberg und Torgau gesucht wer-
den. Der Professor-Doktor-Reformator-Lehrer-Bibelübersetzer und
Schriftsteller Martin Luther ist nun auch noch Heiratsvermittler.
Ein schwieriges Geschäft. Die »geistlichen Nymphlein«, wie sie spöt-
tisch genannt werden, sind keineswegs bereit, sich an den jeweils
Nächstbesten verkuppeln zu lassen, sondern stellen Ansprüche. Eine
zieht es vor, Leiterin der Mädchenschule in Grimma zu werden, zwei
weitere Frauen kommen zunächst in Haushalten unter, die anderen
finden schließlich akzeptable Ehemänner ~ bis auf eine: Katharina
von Bora.
Sie lebt im Haus des Malers Lucas Cranach, wo sie sich nützlich
macht und mit dessen Frau Barbara anfreundet. Die Beziehungen
zwischen den Familien Luther und Cranach sind eng. Beide über-
nehmen wechselseitig Taufpatenschaften für ihre Kinder. Beide sind
gesellschaftliche ››Hotspots«, wo regelmäßig Berühmtheiten und
Gelehrte aus dem ganzen deutschen Reich vorbeikommen, und Ka-
tharina von Bora ist jetzt mittendrin und lernt den dänischen König
Christian II. kennen, der sich, aus seinem Land verjagt, quasi im Exil
befindet. Er schenkt ihr aus Verehrung einen goldenen Ring. Macht
er ihr den Hof? Gefällt er ihr? Vielleicht. Aber vermutlich lässt sie
solche Fra n gar nicht zu, denn der königliche Däne ist ja schon
verheirat . Interessanter ist daher ein anderer, viel jüngerer Mann, den sie
ebefalls bei den Cranachs kennenlernt, und der ihr sehr gefällt:
def ehemalige Wittenberger Student Hieronymus Baumgartner, ein
Nürnberger Patriziersohn aus reichem Haus. Und es sieht so aus, als
erwidere er die Gefühle Katharinas, die sich -wohl zum ersten Mal in
ihrem Leben - heftig verliebt. Doch dann reist der junge Mann ab und
lässt nichts mehr von sich hören, Katharina wird fast krank vor Lie-
beskummer. Baumgartners Eltern seien entsetzt und hätten ihm die
Heirat mit einer entlaufenen Nonne gründlich ausgeredet, heißt es.
Und außerdem: eine Frau ohne Mitgift, arm wie eine Kirchenmaus,
was soll das? 138138 Luther macht sich noch Jahre später über diesen ihren ersten
››Liebhaber<< lustig, der so schnell von der Fahne ging. Aber jetzt sucht
er erst einmal Ersatz und schlägt Katharina einen anderen Mann vor,
den sehr viel älteren Wittenberger Stiftsherrn Kaspar Glatz; nur gilt
der als wenig anziehend und soll noch dazu zänkisch und geizig sein.
Für Katharina kommt diese Partie überhaupt nicht infrage, ihr Nein
fällt kategorisch aus; Wenn sie heiratet, dann nur einen, den sie auch
selbst gut findet. Warum also nicht Martin Luther persönlich? Sie
denkt das nicht nur, sondern lässt es ihm ausrichten: Nur er selber,
der Doktor Martin Luther, komme in Betracht, ihn sei sie bereit zu
nehmen, sonst keinen.
“Luther ist überrascht, damit hat er nicht gerechnet. Er propagiert
ja, dass Priester, Mönche und Nonnen heiraten, denn Kinder zu be-
kommen und großzuziehen ist für ihn gottgefälliger als alles Beten
im Kloster. Für sich selbst aber hat er diese Möglichkeit offenbar nie
in Betracht gezogen. Auch ist er schon über vierzig, hat mehr als die
Hälfte seines Lebens im Kloster-verbracht, sich also daran gewöhnt,
allein - oder zumindest ohne Frau - zu sein. ››Nicht, dass ich mein
Fleisch und Geschlecht nicht spüre - ich bin weder aus Holz noch
Stein<<49, schreibt Luther noch 1524 sehr offen über die Schwierig-
keit, zölibatär zu leben. Dennoch, an Ehe hat er bisher nicht gedacht.
Und er fliegt auch nicht gerade auf Katharina, denn sie erscheint ihm
»stolz und hochmütig<<, wie er sich später erinnert; ein Etikett, das
eine selbstbewusste Frau im 16. Jahrhundert wahrscheinlich schnell
weghat. Lieber hätte er die sanfte Ave von Schönfeld gehabt, eine der
anderen Nonnen aus Nimbschen, aber die ist schon an einen Apothe-
ker und Arzt in Torgau vergeben.
Und überhaupt: Ist er nicht vor Jahren nicht nur hauptsächlich
wegen eines Gewitters, sondern ein bisschen auch wegen drohender
Zwangsverheiratung ins Kloster geflohen? Und nun kommt so ein
freches 24-jähriges Weibsstück daher und sagt einfach: Heirate mich!
Andererseits imponiert ihm diese selbstbewusst zupackende Art.
Schon im Kloster war sie ja diejenige, die Gedanken des Reformators
in sich aufgesogen, die anderen Nonnen damit infiziert, die Initiative
zur Flucht ergriffen und alles organisiert hat. Und jetzt ist sie diejeni-
ge, die dem 16 Jahre älteren weltberühmten Dr. Luther unverblümt
erklärt, sie wolle ihn haben - statt abzuwarten, welche Pläne er mit
ihr hat, wie es sich eigentlich gehört.
Luther mag sie deshalb als »stolz und hochmütig<< beschrieben
haben, aber vermutlich war es gerade das, was ihn an ihr gereizt hat.
Also warum nicht? Und so vollbringt Luther wieder eine Tat, die das
ganze Reich in Aufruhr versetzt: Der entlaufene Mönch und Kopf der
Reformation heiratet eine entlaufene Nonne. Was für ein Skandal.
Was für ein Gerede. ~
Wie hat die junge Katharina das verkraftet? Wir wissen es nicht. Wie
wir überhaupt wenig wissen über sie.
Wäre die Reformation wirklich die große, alles verändernde, welt-
umstürzende“Revolution gewesen, als die sie mancher Papsttreue
der damaligen Zeit empfunden haben mag, wüssten wir heute über
Luthers ››Käthe<< genauso viel wie über Luther, denn dann hätte die-
se Weltveränderung auch die herrschende Geschlechter-Ordnung ge-
stürzt. Die Gleichwertigkeit der Geschlechter wäre anerkannt und die
Worte der Frauen genauso wichtig genommen worden wie die Worte
der Männer. Und es wäre dann nicht nur aufgeschrieben worden, was
Luther bei Tisch alles so gesagt hat, sondern auch, was Käthe zu er-
widern hatte.
Es wurde aber nicht für wert befunden, Frauenworte aufzuschrei-
ben. \ iemand, nicht Luther, nicht die Humanisten, ja nicht einmal
die Ffiauen selbst, wären damals auf die Idee gekommen, für Frauen
diesqiben Rechte zu fordern, wie die Männer sie haben.
Daher wissen wir über Katharina von Bora wenig und das wenige
meist nur aus zweiter oder dritter Hand. Und noch weniger über die
anderen Frauen der Reformationszeit und die anderen entlaufenen
Nonnen. Denen gegenüber hatte Katharina immerhin einen kleinen
Vorteil: Als Ehefrau des prominentesten Theologen der damaligen
las140Zeit war sie für diesen häufig ein Anlass, sich über sie zu äußern
und so erfahren wir wenigstens aus dem Munde Martin Luthers einií
ges über Katharina. Und einiges lässt sich erschließen aus den vielen
Briefen, die er an seine Frau geschrieben hat.
Von den vielen Briefen, die sie ihrem Mann schreibt, ist kaum ei-
ner überliefert. Dass sie sie schreibt, belegen seine Antworten. Ihre
Briefe hingegen sind fast alle verschollen, Martin Luther wird sie
nicht aufgehoben haben, wie auch vieles andere nicht, das ihm nicht
wichtig scheint. Er hat genug eigenen Papierkram am Hals und zu
ordnen, will sich nicht noch damit beschweren, Briefe anderer aufzu-
heben, und schon gar nicht will er dafür einen Sekretär beschäftigen,
»denn da würde ein Papsttum wieder daraus werden<<5°, wie er mit
feiner Ironie vermerkt.
So kommt es, dass fast alles, was über Katharina von Bora be-
kannt ist, von Martin Luther selbst stammt. Also muss sie auch hier,
Schicksal der entlaufenen Nonne diesem Buch hinzufügt Äim ihr ein
- . . . f iı
šllenıšg Gerechtigkeit widerfahren zu lassen,„feın Teil seines Lebens
ei en. Wir konnen Katharina nur mit seinen Augen sehen, der Per-
spektive Martin Luthers, den wir wiederum durch die Brille der 500
Jahre später Lebenden wahrnehmen, wie durch ein Fernglas mit ge-
trübter Linse, das kein ganz scharfes Bild mehr liefern kann
Immerhin verfügen wir noch über eine zweite vermutlich eben-
falls getrübte Linse, mit der sich dennoch das unscharfe Bild ein we-
nig schärfen lässt: die Augen des ››Hofmalers« Lucas Cranach. Er erschafft das Bild, nach dem sich die Nachwe/lt Katharina vorstellen soll
er ist ja auch dicht dran bei den Luthers in Wittenberg nicht nur als
enger Freund und Anhänger des Reformators, sondern auch als sein
Trauzeuge und Taufpate des ältesten Kindes Johannes
Und Sie Wird sich einpfäâen, Seine Version von Katharina von
Bora nâben ihrem schon berühmten Bräutigam, und als die Luthe_
rin in .ie Geschichte eingehen: eine aparte junge Frau, mit schräg
geschnittenen Augem hohen Wfinšenknochen und selbstbewusstem
141
in diesem Kapitel, das die Autorin aus Neugier und Anteilnahme am Ä
Blick. Vielleicht keine Schönheit nach heutigem Geschmack, aber
eine eigenwillig hübsche, ausdrucksstarke Erscheinung, die sich ne-
ben dem 16 Jahre älteren, körperlich sehr präsenten Dr. Martinus
Luther durchaus behauptet.
Wenn sie auf den Bildern denn gut getroffen ist. Böse Zungen be-
haupten ja, dass Cranach Frauen immer so oder ähnlich malt. Wenn
man sich seine Venus im Frankfurter Städel oder andere von Cranachs
Frauengesichtern ansieht, meint man hin und wieder, die Züge von
Katharina zu erkennen. Vielleicht ist sie ja für Cranach das Maß aller
Frauen, oder er ist mit seinen Luther- und von Bora-Bildern derart
im Geschäft, dass er nicht die Zeit hat, noch groß zu variieren. Er
muss ja schnell arbeiten und seine Söhne und eine beträchtliche An-
zahl von Hilfsmalern beschäftigen, um die im ganzen Reich steigende
Nachfrage nach Lutherbildern zu befriedigen. Schon deshalb könnte
es ja sein, dass sich die Gesichtszüge Luthers auf den Cranach-Bil-
dern auffallendlähnlich bleiben. Oder bleiben sie sich so ähnlich, weil
dieser Maler dem Original am nächsten kommt? Seine Porträts hat
Luther jedenfalls autorisiert, die der anderen zeitgenössischen Maler
nicht. Sie müssen also zumindest seinem Selbstbild nahekommen.
Aber es ist klar: Die Bilder erfüllen auch Propagandazwecke, sol-
len das Lauffeuer der Reformation am Lodern halten. Denn das wis-
sen Lucas Cranach und Martin Luther aus Erfahrung: Bilderwirken
stärker als Worte, gerade wenn nur wenige Zeitgenossen lesen kön-
nen. Und so setzen sie die große Produktivität der Cranach-Werkstatt
auch d zu gn, die Reformation und ihre Protagonisten im Volk zu
verbreiten und durchzusetzen. Die gedruckten Lutherporträts nach