KAPITEL IV
Das Laue-Diagramm
Entdeckung der Röntgenstrahlinterferenz
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Neben dem großen, von WILHELM CONRAD RÖNTGEN geleiteten Physi-
kalischen Inslitut gab es an der Universität München das Institut für
theoretische Physik. Hier scharte der 1906 berufene ARNOLD SOMMER-
FELD einen Kreis begeisterter Schüler um sich. Zum Institut gehörte
eine kleine experimentelle Abteilung, in der WALTHER FRIEDRICH als
Assistent tätig war. FRIEDRICH untersuchte die Intensitätsabhangigkeit
der Röntgenbremsstrahlung von der Ausstrahlungsrichtung, ein The-
ma, für das sich sowohl RÖNTGEN wie SOMMEREELD interessierten und
über das beide Professoren oft miteinander diskutierten.
Zum Kreise der SOMMERFELD-Schüler zählte auch der junge PETER
PAUL EWALD, der fast zufällig in eine Vorlesung S0MMERFELDs geraten
war: „Der Erfolg war, daß ich...so gefesselt wurde, daß ich von da ab
wußte, daß meine Liebe - dieser wunderbaren Harmonie von an-
schaulichem mathematischem Denken und physikalischem Geschehen,
der theoretischen Physik, galt.“ Die Mitte 1910 in Angriff genom-
mene Dissertation behandelte die „Dispersion und Doppelbrechung
von Elektronengittern.“ Bei der Niederschrift dieser Arbeit im Januar
1912 kamen EWALD einige Ergebnisse so merkwürdig vor, daß er eine
kritische Aussprache suchte. Niemand schien besser geeignet als der
am Institut tätige Privatdozent MAX LAUE, der sich auf optische Pro-
bleme spezialisiert hatte.
LAUE war zu einem Gespräch bereit und lud EWALD zum Abendessen
in sein Haus ein. Den Weg vom Institut durch den Englischen Garten
gingen sie zusammen. Zunächst orientierte EWALD den acht Jahre al-
teren LAUE über das Thema, und noch war man in den Räumen der
Universität, in der großen Wandelhalle, als EWALD das für LAUE ent-
scheidende Wort sprach: Gitter. Die von den elektromagnetischen
Wellen durchstrahlte Materie sollte (nach der Vorstellung EWALDs)
die Struktur eines Raumgitters haben.
LAUE hatte sich erst kurz zuvor mit der Theorie der Beugung am
Strichgitter und Kreuzgitter beschäftigt. Wahrscheinlich vollzog sich
bei LAUE in diesem Augenblick eine blitzartige Assoziation.
Fünfzig Jahre später hat EWALD seine Erinnerungen niedergeschrie-
ben. Der historische Abstand zu jener Zeit Ende Januar 1912 war so
groß geworden, daß EWALD von sich in der dritten Person sprach:
„Nachdem die Ludwigstraße überquert war, begann EWALD die von
ihm bearbeitete Fragestellung zu erläutern; LAUE hatte, zu seinem Er-
staunen, von der Problematik keine Ahnung. EWALD erläuterte, daß
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er, im Gegensatz zur üblichen Dispersionstheorie, angenommen habe,
daß die optischen Resonatoren gitterförmig angeordnet sind. LAUE
fragte nach dem Grund für diese Annahme. EWALD antwortete, für
Kristalle werde allgemein eine innere Regelmäßigkeit angenommen.
Das schien LAUE neu.“
„Inzwischen war man“, wie EWALD weiter berichtete, „in den Engli-
schen Garten gekommen. LAUE fragte: ,Was ist denn der Abstand zwi-
schen den Resonatoren?“ Darauf erwiderte EWALD, daß er sehr klein
sei verglichen mit der Wellenlänge dcs sichtbaren Lichtes, vielleicht
1/500 oder 1/1000, aber daß ein exakter Wert nicht gegeben werden
könne wegen der unbekannten Natur der ,molécules intégrantes“ oder
,Teilchen“ der Strukturtheorie; es sei jedoch der genaue Abstand für
sein Problem unwesentlich, denn es genüge zu wissen, daß er nur einen
kleinen Bruchteil der Wellenlänge ausmachc. Auf dem weiteren Weg
erläuterte EWALD seine Behandlung der Aufgabe . . ., aber er bemerk-
te, daß LAUE nicht mehr richtig zuhörte. LAUE bestand darauf, die Ab-
stände zwischen den Resonatoren zu erfahren, und als er die gleiche
Antwort wie zuvor erhielt, fragte er: ,Was würde passieren, wenn man
wesentlich kürzere Wellen durch den Kristall schickt?`“ Soweit der
Bericht EWALDs.
Während EWALD seine Dissertation zum Abschluß brachte und sich
auf das mündliche Examen vorbereitete, kam LAUE das Problem nicht
mehr aus dem Kopf: Was geschieht, wenn Röntgenstrahlen durch ei-
nen Kristall gehen? Wenn es wirklich stimmte, daß Röntgenstrahlen
kurze elektromagnetische Wellen - also dem Licht verwandt - sind
und wenn weiterhin stimmte, daß die Kristalle regelmäßig aus den
Atombausteinen aufgebaut sind, dann muß man doch eigentlich einen
Interferenzeffekt erwarten können. Es muß dann ein Kristall für
Röntgenlicht dasselbe sein wie ein Beugungsgittcr für gewöhnliches
Licht. und da hatte man ja schon seit hundert Jahren, seit JOSEPH VON
FRAUNHOFER, dem Pionier der praktischen und theoretischen Optik,
Interferenzerscheinungen beobachtet. Hinter einem Beugungsgitter
wechselt in charakteristischer Weise Hell und Dunkel: Licht zu Licht
gef*ügt kann Dunkelheit ergeben - dafür tritt dann Verstärkung der In-
tensität in anderen Richtungen auf.
„Wes das Herz voll ist, des fließt der Mund über“: LAUE diskutierte
mit jedem, der davon hören wollte. Die anerkannten Meister RÖNT-
GEN und SOMMERFELD äußerten Zweifel; aber die jüngeren Physiker
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begannen, sich für die Idee zu erwärmen. Zur Ausführung des Ver-
suchs erbot sich WALTHER FRIEDRICH, und er schien tatsächlich der Ge-
eignetste: erstens hatte er schon Erfahrung im Umgang mit Röntgen-
strahlen, zweitens hatte er eben promoviert und suchte nach einer
neuen Aufgabe. Unter dem Gewicht der Einwände SOMMERFELDs ka-
men aber nun auch FRIEDRICH Bedenken,
LAUEs Enthusiasmus war jedoch nicht zu dämpfen. Er überredete den
jungen Doktoranden PAUL KNIPPING, das Experiment zu wagen. „Daß
ein wenig Diplomatie erforderlich gewesen wäre, um den Beginn der
Versuche im Sommerfeldschen Institut zu erreichen, das ist allerdings
richtig“, schrieb LAUE später an PETER PAUL EWALD: „Denn um die
Wende März-April 1912 sah es so aus, als wollte FRIEDRICH die Inter-
ferenzversuche zunächst noch zurückstellen. Da veranlaßte ich KNIP-
PING, sich der Sache anzunehmen. .
So begannen schließlich am 21. April 1912 WALTHER FRIEDRICH und
PAUL KNIPPING gemeinsam die Versuche. LAUE schrieb darüber in sei-
ner Autobiographie: „Nicht der erste, wohl aber der zweite führte zu
einem Ergebnis. Das Durchstrahlungsphotogramm eines Stückes
Kupfersulfat zeigte neben dem primären Röntgenstrahl einen Kranz
abgebeugter Gitterspektren. Tief in Gedanken ging ich durch die Leo-
poldstraße nach Hause, als mir FRIEDRICH diese Aufnahme gezeigt hat-
- Und schon nahe meiner Wohnung, Bismarckstraße 22, vor dem
Hause Siegfriedstraße 10, kam mir der Gedanke für die mathemati-
sche Theorie der Erscheinung. Die auf SCHWERD (1835) zurückge-
hende Theorie der Beugung am optischen Gitter hatte ich kurz zuvor
für einen Artikel in der Enzyklopädie der mathematischen Wissen-
schaften neu zu formulieren gehabt, so daß sie, zweimal angewandt
auch die Theorie des Kreuzgitters mit umfaßte, Ich brauchte sie nur,
den drei Perioden des Raumgitters entsprechend, dreimal hinzu-
schreiben, um die neue Entdeckung zu deuten. Insbesondere ließ sich
der beobachtete Strahlenkranz sogleich in Beziehung zu den Kegeln
setzen, welche jede der drei Interferenzbedingungen für sich allein be-
Stimmt.“
Wie ein Lauffeuer sprach sich der Erfolg unter den Münchener Physi-
kern herum. „Als RÖNTGEN barhaupt in das SOMMERFELDsche Institut
gestürzt kam, um sich die Versuchsergebnisse anzusehen, erkannte er
sofort, daß etwas wesentlich Neues vorläge und gratulierte FRIEDRICH
auf das herzlichste zu der Entdeckung. Aber er fügte hinzu: ,Interfe-
renzerscheinungen sind das nieht, die sehen ganz anders aus.“ “ Diesen
Bericht LAUEs ergänzte PETER PAUL KOCH, damals Assistent RÖNT-
GENs: „Ich erinnere mich, daß RÖNTGEN sehr ergriffen war und dabei
besonders die Kristalle betonte, indem er etwa sagte: ,Ja, ja, die Kri-
stalle!` Was dabei über die Interferenznatur des Latte-Diagramms
verhandelt wurde, kann ich nicht sagen , . . Später. . , war jedenfalls
RÖNTGEN von der Interferenznatur des Vorgangs überzeugt.“
Am 4. Mai reichten LAUE, FRIEDRICH und KNIPPING zur Sicherung ihrer
Priorität der Bayerischen Akademie eine Vorausmitteilung ein; die
gemeinsame Veröffentlichung der drei Forscher legte SOMMERFELD
der Akademie am 8. Juni vor. Am gleichen Tag referierte MAX LAUE
den Berliner Physikern. Von allen Seiten kam nun die Anerkennung.
Am meisten gefreut hat LAUE die Gratulation EINsTEINs. „Lieber Herr
28
LAUE“, schrieb dieser auf einer Postkarte, „ich gratuliere Ihnen herz-
lich zu Ihrem wunderbaren Erfolge. Ihr Experiment gehört zum
Schönsten, was die Physik erlebt hat."
Durch die LAUEsche Entdeckung war die elektromagnetische Natur
der Röntgenstrahlen, das heißt ihre Wesensverwandtschaft mit dem
sichtbaren Licht, endgültig bewiesen, Merkwürdigerweise häuften
28
Versuchsanordnung von Walther Friedrich und Paul Knipping, mit der im April
1912 die Interferenzen bei Röntgenstrahlen entdeckt wurden, Das Original steht
heute im Deutschen Museum in München.
29
Mitteilung der Entdecker vom 4. Mai 1912 an die Bayerische Akademie zur Sicherung der Priorität.
30
sich aber gleichzeitig auch die Beweise für ihren korpuskularen Cha-
rakter. Seit 1903 hatte in Cambridge der Physiker JOSEPH JOHN THOM-
SON immer wieder darauf hingewiesen, daß manche Phänomene wie
der lichtelektrische Effekt und die Ionisierung der Gasmoleküle die
Vorstellung erzwingen, daß in der Wellenfront die elektrische Kraft
nicht gleichmäßig verteilt ist: „Ich denke, es ist evident, daß die Wel-
lenfront in Wirklichkeit viel eher einer Zahl von hellen Flecken auf
dunklem Grunde gleicht als einer gleichmäßig erleuchteten Fläche.“
Auch WILHELM WIEN und JOHANNES STARK betonten die konzentrierte
Energie der Röntgenstrahlen, die mit der von der Wellentheorie gefor-
derten Intensitätsabnahme nach dem Gesetz 1/r2 (r Abstand von der
Lichtquelle) völlig unverständlich sei, ERNEST RUTHERFORD meinte in
einem Brief an NIELS BOHR am 24. Februar 1913: „Es scheint mir kein
Zweifel zu bestehen. daß die Röntgenstrahlen als eine Art Wellenbe-
wegung betrachtet werden müssen; aber persönlich kann ich mich der
Auffassung nicht entziehen, daß die Energie konzentriert sein muß.“
lm Grunde war die Problematik „Welle oder Korpuskel?“ schon von
EINSTEIN durch das Dualitätsprinzip gelöst worden. Es dauerte aber
noch lange, bis sich diese Erkenntnis allgemein durchsetzte, die AR-
NOLD SOMMERFELD von allen erstaunlichen Entdeckungen des
„20. Jahrhunderts die erstaunlichste“ genannt hat.
30
Arnold Sommerfeld im Hörsaal (Dezember 1937). An der Tafel stehen die
Laueschen Interferenzbedihgungen für die Streuung von Röntgenstrahlen am Kristall.
30
Die Laue-Interferenzen entstehen durch Wechselwirkung der Rönt-
genstrahlen mit dem Kristall: Deshalb ist es im Prinzip möglich, aus
den Beobachtungen einerseits etwas über die Rönlgenstrahlen, ande-
rerseits etwas über den Kristall auszusagen. Kennt man etwa bei den
Versuchen die Eigenschaften des Kristalls, das heißt seine innere
Struktur und die Abstände zwischen den Kristallbausteinchen, so hat
man in dem Raumgitter des Kristalls einen hochempfindlichen Spek-
tralapparat zur Verfügung. Mit der von WILLIAM HENRY BRAGG und
WILLIAM LAWRENCE BRAGG entwickelten Methode der selektiven Re-
flexion an Kristallen war erstmalig die Möglichkeit einer exakten Wel-
lenlängenmessung geschaffen. Als die beiden Braggs 1915 den Nobel-
preis erhielten, war William Henry Bragg 53 Jahre alt, sein Sohn Wil-
liam Lawrence 25.
Was damit für die Analyse der von den (irgendwie angeregten) Ato-
men ausgehenden Röntgeneigenstrahlung gewonnen war, hat SOMMER-
FELD sieben Jahre nach der Entdeckung LAUEs erläutert. Im Vorwort
seines Buches „Atombau und Spektrallinien“, der „Bibel der Atom-
physik“, wie seine Studenten sagten, schrieb er 1919: „Seit der Ent-
deckung der Spektralanalyse konnte kein Kundiger zweifeln, daß das
Problem des Atoms gelöst sein würde, wenn man gelernt hätte, die
Sprache der Spektren zu verstehen. Das ungeheure Material, Welches
60 Jahre spektroskopischer Praxis aufgehäuft haben, schien allerdings
in seiner Mannigfaltigkeit zunächst unentwirrbar. Fast mehr haben die
sieben Jahre Röntgenspektroskopie zur Klärung beigetragen, indem
hier das Problem des Atoms an seiner Wurzel erfaßt und das Innere
des Atoms beleuchtet wird.“
Kennt man auf der anderen Seite die Eigenschaften der verwendeten
Röntgenstrahlung (das heißt ihre „Härte“ beziehungsweise ihre spek-
trale Zusammensetzung), so kann man aus dem Studium der Laue-In-
terferenzen Aufschlüsse gewinnen über die Gitterstruktur der durch-
strahlten Kristalle. lm wahrsten Sinne des Wortes begann man in den
Aufbau der Materie „hineinzuleuchten“. Die Röntgenstrukturanalyse
entwickelte sich zu einem eigenständigen Fach zwischen Physik, Che-
mie und Biologie. Hier leisteten WILLIAM HENRY BRAGG uııd WILLIAM
LAWRENCE BRAGG die Pionierarbeit.
LAUE selbst wurde kein Strukturforscher. Ihn interessierten als echten
Schüler MAX PLANCKs nur die „großen, allgemeinen Prinzipien“, ihm
war nur „das Absolute“ wichtig, nicht die spezielle Form, in der die
Materie ausgeprägt ist. 1912 erhielt LAUE eine außerordentliche Pro-
fessur an der Universität Zürich; es war die Stelle, die 1909 für EIN-
STEIN geschaffen worden war. Dieser hatte inzwischen die Berufung
auf den Lehrstuhl für theoretische Physik an der deutschen Universität
in Prag angenommen.
31
Peter Paul Ewald mit Lise Meitner 1028 in Tübingen. Ewald, ein Schüler Sommerfeld,
brachte Laue auf den entscheidenden Gedanken, der zur Entdeckung der Röntgenstrahlinterferenzen führte.
32
Brief von Albert Einstein an die Preußische Akademie der Wissenschaften vom
- Dezember 1913. Mit diesem Schreiben nahm EInstein seine Stellung in Berlin
als ordentliches Mitglied der Akademie an. Zur gleichen Zeit schrieb er an einen
Freund: „Die Berliner spekulieren mit mir wie mit einem prämierten Leghuhn.
Dabei weiß ich selbst nicht, ob ich überhaupt noch Eier legen kann.“
ENDE IV
KAPITEL V
Berlin - Hauptstadt der Wissenschaft
Das goldene Zeitalter der Physik
33
Als LAUE im Oktober 1912 sein neues Amt an der Universität Zürich
antrat, kehrte auch ALBERT EINSTEIN dorthin zurück, diesmal als or-
dentlicher Professor an die Eidgenössische Technische Hochschule, an
der er einst studiert hatte. EINSTEIN und LAUE sahen sich nun regelmä-
ßig. „An einem Nachmittag jeder Woche hielt EINSTEIN ein physikali-
sches Kolloquium über neuere Arbeiten aus der Physik ab. Obwohl es
im Physikgebäude der ETH stattfand, hatten selbstverständlich die
Dozenten und Studenten der Universität Zutritt“, berichtete LAUE,
der selbst regelmäßig teilnahm: „Nach dem Kolloquium ging EINSTEIN
mit allen, die sich ihm anschließen wollten, zum Abendessen ins Re-
staurant ,Kronenhalle“. Damals stand die Allgemeine Relativitätstheori
in ihren Anfängen. und ich erinnere mich noch vieler Dispute mit
EINSTEIN. Er war vollkommen im Bannkreis dieser Ideen und kam
auch in den folgenden Jahren immer wieder im Gespräch darauf zu-
rück, manchmal von einem ganz anderen Gegenstand plötzlich darauf
überspringend, Ich hatte dabei die besondere Freude, daß er mein
Buch über die Spezielle Relativitätstheorie öfters lobte. Außerdem
standen damals, besonders angeregt durch NIELS BOHRs Atomtheorie
vom Jahre 1913, quantentheoretisehe Fragen im Vordergrund seiner
Interessen. Er versammelte um sich eine große Zahl von Schülern, un-
ter denen OTTO STERN und KARL FERDINAND HERZFELDwohl die be-
deutendsten waren. Am lebhaftesten wurden aber die Diskusionen in
jenen Tagen des Sommers 1913, in denen der temperamentvolle PAUL
EHRENFEST Zürich besuchte: Ich sehe noch, wie einem großen
Schwarm Physikern EINSTEIN und EHRENFEST voranschritten, auf den
Zürichberg stiegen und EHRENFEST dort in das Jubelgeschrei ausbrach:
,Ich habe es verstanden!“
Für EINSTEIN und LAUE ging aber die Zeit in Zürich schnell zu Ende.
1914 wurde LAUE als ordentlicher Professor nach Frankfurt berufen
und im gleichen Jahr schon erhielt er den Nobelpreis für Physik. Der
Zufall wollte es, daß 1914 auch der Vater LAUEs, ein im Generalsrang
stehender Jurist, ausgezeichnet wurde, und zwar durch Aufnahme in
den erblichen Adelsstand. So verwandelte sich innerhalb kurzer Zeit
der in der Öffentlichkeit unbekannte Privatdozent MAX LAUE. in den
weltberühmten Nobelpreisträger Professor MAX VON LAUE.
33
Wir sind noch nicht darüber unterrichtet (denn die Archive der Nobel-
stiftung werden erst jetzt geöffnet), wann EINSTEIN zum ersten Mal für
den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Die Nobelstiftung tat sich
schwer mit den Verleihungen für rein gedankliche Leistungen. Ein Ef-
fekt war eben gleichsam „handgreiflich“, und auch der größte Zweif-
ler mußte sich von der Realität einer solchen Entdeckung überzeugen
lassen. Aber was das Relativitätsprinzip und die Quantentlıeorie betraf
- da ließen sich nun einmal die sehr kritischen Stimmen aus Kreisen
der älteren Physiker nicht überhören.
Die wirklichen Kenner wußten jedoch, was die neuen Theorien be-
deuteten. In Preußen - und nach preußischem Vorbild auch in den an-
deren deutschen Ländern f wurde eine hervorragende Hochschulpoli-
tik bctrieben. Als PLANCK und NERNST den Plan entwickelten, EIN-
STEIN nach Berlin zu bringen, fanden sie im Kultusministerium tatkräf-
tige Unterstützung.
Um EINSTEIN zu gewinnen, war ein besonderes Angebot nötig. Als
überzeugter Individualist und Demokrat stand EINSTEIN den preußi-
schen Idealen, der von Pflichterfüllung diktierten Lebenseinstellung
und der unbedingten Hingabe an „König und Vaterland“ Verständnis-
los gegenüber, In Zürich hatte EINSTEIN schon 1901 das Bürgerrecht
erworben. und an der ETH wie in der Stadt fühlte er sich persönlich
wohl.
Tatsächlich konnte eine Stellung in Berlin geschaffen werden, die Em-
STEIN von den Vorlesungsverpflichtungen völlig frei hielt, die auf die
kollegialc Zusammenarbeit mit den Berliner Physikern zugeschnitten
war und die überdies eine der Bedeutung EINSTEINs entsprechende
Dotierung ermöglichte.
Im Frühsommer 1913 fuhren PLANCK und NERNST nach Zürich, um
den definitiven Vorschlag zu unterbreiten: EINTEIN solle ordentli-
ches, hauptamtliches Mitglied der Akademie. Direktor des damit de
jure zu schaffenden Kaiser- Wilhelm-Institutes für Physik und Profes-
sor an der Universität werden, mit dem Recht, aber nicht der Pflicht,
Vorlesungen zu halten.
Am 12. Juni verlas PLANCK in der Sitzung der physikalisch-mathemati-
schen Klasse den eigenhändig geschriebenen Wahlantrag: „Die Un-
terzeichneten (PLANCK, NERNST, RUBENS und WARBURG) sind sich
wohl bewußt, daß ihr Antrag, einen in noch so jugcndlichem Alter ste-
henden Gelehrten als ordentliches Mitglied in die Akademie aufzu-
nehmen, ein ungewöhnlicher ist, sie meinen aber, daß er sich nicht nur
durch die ungewöhnlichen Verhältnisse hinreichend begründen läßt,
sondern daß es das Interesse der Akademie direkt erfordert, die sich
darbietende Gelegenheit zur Erwerbung einer so außerordentlichen
34
Kraft nach Möglichkeit zu nutzen. Wenn sie auch naturgemäß für die
Zukunft keine Bürgschaft zu übernehmen vermögen, so treten sie
doch mit voller Überzeugung dafür ein, daß die heute schon vorlie-
genden wissenschaftlichen Leistungen des Vorgeschlagenen, von de-
nen in der gegebenen Zusammenstellung nur die markantesten her-
vorgeheben sind, seine Berufung in das vornehmste wissenschaftliche
Institut des Staates vollauf rechtfertigen, und sie sind weiter auch daf
von überzeugt, daß der Eintritt EINSTEINs in die Berliner Akademie
der Wissenschaften von der ganzen physikalisch en Welt im Sinne eines
besonders wertvollen Gewinnes für die Akademie beurteilt werden
würde.“
Die Wahl wurde am 12. November 1913 bestätigt; am 7. Dezember
erklärte EINSTEIN die Annahme und trat am l. April 1914 das neue
Amt an.
Als er Zürich verließ, meinte EINSTEIN scherzhaft, daß die Berliner mit
ihm „wie mit einem prämierten Leghuhn“ spekulierten: „Dabei weiß
ich selbst nicht, ob ich überhaupt noch Eier legen kann.“ Die Sorge
war unbegründet.
Mit der Quanten- und Relativitätstheorie hatte das „Goldene Zeitalter
der deutschen Physik“ begonnen. Das Zentrum der Forschung lag in
Berlin; an der Akademie, der Universität, der Technischen Hoch-
schule und der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt wirkte eine
Vielzahl von hervorragenden Forschern. Nach Gründung der Kai-
ser-Wilhelm-Gesellschaft im Januar 1911 entstanden in Rekordzeit
ein großes Institut für Physikalische Chemie und ein noch größeres für
Chemie.
Mit seinen Berliner Kollegen stand EINSTEIN bald in freundschaftli-
chem Kontakt: „Ich glaube, es war nur wenige Monate, nachdem EINSTEIN
nach Berlin gekommen war“, berichtete Lise Meitner, „als im
PLANCKschen Haus ein Musikabend stattfand. Es wurde das Beetho-
ventrio in B-Dur gespielt, PLANCK am Klavier, EINSTEIN spielte Geige
und der Cellist war ...ein holländischer Berufsmusiker. Das Zuhören
war ein wunderbarer Genuß, für den ein paar zufällige Entgleisungen
Einsteins nichts bedeuteten ... EINSTEIN, sichtlich erfüllt von der
Freude an der Musik, sagte laut lachend in seiner unbeschwerten Art,
daß er sich wegen der mangelhaften Technik schäme. PLANCK stand
dabei mit ruhigem, aber buchstäblich glückstrahlendem Gesicht und
rieb sich mit der Hand in der Herzgegend: ,Dieser wunderbare zweite
Satz“. Als nachher EINSTEIN und ich weggingen, sagte EINSTEIN ganz
unvermittelt: ,Wissen Sie, um was ich Sie beneide?’ Und als ich ihn et-
was überrascht ansah, fügte er hinzu: ,Um Ihren Chef.“ Ich war damals
noch Assistentin PLANCKs.“
34
Das Haus Planck in Berlin-Grunewald, Wangenheimstraße 21.
Hier trafen sich regelmäßig die Kollegen zu Musikabenden. Oft war Einstein, Laue, Hahn und
Lise Meitner zu Gast.
34
„Als ich PLANCK näher kennenlernte, war er schon etwa 50 Jahre alt,
ein nobel denkender und fühlender Mensch, der dabei große Zurück-
haltung in seinen menschlichen Beziehungen übte“, berichtete EINSTEIN
später: ,Ich habe kaum so einen tief ehrlichen und wohlwollen-
den Menschen gekannt. Stets setzte er sich für das ein, was er für recht
hielt, auch wenn es nicht sonderlich bequem für ihn war. Er war stark
traditionsgebunden in seiner Beziehung zu seinem Staate und zu sei-
ner Kaste. aber er war stets willens und fähig, meine ihm fernliegenden
Überzeugungen aufzunehmen und zu würdigen.“
Schon seit einigen Jahren hatte PLANCK in seinem Haus in der Wan-
genheimstraße im Grunewald einen „jour fixe“ eingerichtet. Alle
vierzehn Tage kamen ohne besondere Einladung musikbegeisterte
junge Menschen, Freunde seiner Kinder und junge Kollegen. Als Sän-
ger glänzte OTTO HAHN, und stolz erzählte er später: „Da ich zwar eine
kräftige, aber ganz ungepflegte Tenorstimme hatte, riet mir PLANCK,
doch Gesangsunterricht bei einem guten Lehrer zu nehmen, es ließe
sich aus meiner Stimme Wohl etwas machen.“
PLANCK schätzte den jungen Chemiker, der sich mit der Radioaktivität
ein so interessantes Arbeitsgebiet gewählt hatte.
35
Otto Hahn als eleganter junger Mann mit Barttracht des Wilhelminischen Zeitalters.
35
Max Planck, der “Praeceptor Physicae”.
36
Otto Hahn und Lise Meitner in den Anfangsjahren der Zusammenarbeit. Hier
1908 in der ehemaligen„Holzwerkstatt“des Chemischen Institut der Universi-
tät Berlin.
KAPITEL VI
Otto Hahn und Lise Meitner
Begründung der radioaktiven Forschung in Deutschland
37
Viele Mächtige hat es in unserem Jahrhundert gegeben, auf deren Be-
fehl sich Millionen in Bewegung setzten, aber keiner von ihnen hat so
wic EINSTEIN unseren Planeten verändert. Noch nie sollte sich der alte
Satz „Wissen ist Macht“ so bewahrheiten wie im Fall der kurzen und
einfachen EINSTEINschen Formel E = mc2.
Dabei besaß EINSTEIN gar nicht den Wunsch, in dieser Welt zu wirken;
er zog sich, so weites nur irgend möglich war, zurück. „Eines der stärk-
sten Motive, die zur Kunst und Wissenschaft hinführen“, sagte EIN-
STEIN und dachte dabei vor allem an PLANCK und sich selbst. „ist eine
Flucht aus dem Alltagsleben mit seiner schmerzlichen Rauheit und
trostlosen Öde, aus den Fesseln der ewig wechselnden persönlichen
Wünsche.“
Die im „Elfenbeinturm“ oder, wie EINSTEIN sagte, im „stillen Tempel
der Wissenschaft“ absichtslos, 1`art pour l`art geschaffene Physik aber
griff, ein paar Jahrzehnte später, tief in das Leben der Menschen ein.
Mit Recht hat man von einer neuen Epoche gesprochen.
Am 16. Juli 1945, als zum ersten Mal eine Atombombe explodierte. zu
Versuchszwecken in der Wüste von Nevada, vollzog sich, wie es in dem
offiziellen Bericht des amerikanischen Kriegsministeriums hieß, „der
Übertritt der Menschheit in ein neues Zeitalter, das Zeitalter des
Atoms“. Wie der nach der biblischen Sage aus dem Paradies vertrie-
bene Mensch nicht mehr zurüekfinden kann in den Zustand der Un-
schuld, so ist auch jetzt die Rückkehr in den früheren Zustand unmög-
lich.
Im Jahre 1905 schien nichts esoterischer als der Lehrsatz, daß elek-
tromagnetische Strahlung die Eigenschaft der „Trägheit“ besitzt. So-
weit sich die Physiker überhaupt Gedanken machten, verstanden sie
das als eine Aussage, die allenfalls zu einigen artifiziellen Gedanken-
experimenten taugte. Wenn sich EINSTEIN - wie vordem PLANCK - mit
dem Hohlraum beschäftigte, in dem elektromagnetische Strahlung
eingeschlossen war, konnte er auf diesen gedachten Hohlraum fiktive
Kräfte wirken lassen und fiktive Beschleunigungen erzielen. Die dafür
relevante Größe, die Masse m, mochte sich dann tatsächlich nach sei-
ner Formel m =E/c2 berechnen lassen. Bedeutung für die „Wirklich-
keit“. so meinte man, besaßen jedoch solcherlei Überlegungen nicht.
37
Wie ein Bewohner der Tropen nicht mit dem Faktum konfrontiert
wird, daß Wasser bei Null Grad Celsius zu Eis gefriert, so hatten bis
zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Forscher tatäschlich keine Er-
fahrungen mit der Formel E = mc2 sammeln können. Diese Bezeich-
nung bringt, wie wir sie heute verstehen, zum Ausdruck. daß sich
Energie in Masse verwandeln kann (und Masse in Energie).
Von zahlreichen Chemikern war schon im 19. Jahrhundert die Frage
diskutiert worden, ob nicht doch - im Widerspruch zu dem auf LAVOI-
SIER zurückgehenden Satz von der Erhaltung der Masse - bei chemi-
schen Reaktionen Gewichtsveränderungen auftreten. LOTHAR MEYER
hielt es 1872 für möglich, daß bei der Umgruppierung der Atome wäh-
rend der chemischen Reaktion eine Anzahl von (ponderablen) Licht-
und Ätherteilchen entweichen beziehungsweise neu gebunden wer-
den. In engstem Zusammenhang damit stand die wichtige Frage nach
der Konstanz des Atomgewichtes,
Von 1890 an beschäftigte sich fast zwanzig Jahre lang der Physiko-
chemikcr HANS LANDOLT mit der experimentellen Prüfung dieser Fra-
- Für seine Versuche verwendete er n-förmige Gefäße, füllte in die
beiden Schenkel die miteinander umzusetzenden Lösungen, schmolz
das Gefäß zu und wog mit größtmöglicher Genauigkeit. Durch Um-
drehen des Gefäßes wurde die Lösung gemischt, zur Reaktion ge-
bracht und danach erneut genauestens gewogen: „Das Schlußresultat
der ganzen Arbeit ist“, so stellte LANDOLT 1909 fest, „daß bei allen
vorgenommenen chemischen Umsetzungen eine Änderung des Ge-
samtgewichtes der Körper sich nicht hat feststellen lassen … Die ex-
perimentelle Prüfung des Gesetzes der Erhaltung der Masse (kann
wohl) als erledigt gelten."
Das Ergebnis war also eine Bestätigung der alten Überzeugung. EIN-
STEIN aber wußte, daß auch bei chemischen Reaktionen - seiner For-
mel gemäß - die Masse keineswegs einc Konstante war; nur blieben
die Massenänderungen weit unterhalb des Meßbaren. Wo gab es Vor-
gänge. bei denen sich die Massenänderungen bemerkbar machen kön-
nen? Und gab es überhaupt solche Vorgänge? Die EINSTEINsche For-
mel bringt zum Ausdruck, daß mit Energicändcrungen eines Systems
Massenänderungen auftreten. Aber unter welchen Bedingungen der
Energieumsatz so groß wird, daß die Veränderung der Masse meßbar
wird, darüber sagt die Formel nichts.
38
Die berühmte Arbeit Einsteins in den “Annalen der Physik”, Band 18 (1906),
Seite 639 bis 641, in der zum ersten mal der Schluß auf die Aquivalenz von
Masse und Energie gezogen wurde.
38
Seite aus Einsteins Veröffentlichung von 1907, in der erstmals
die Formel E=mc2 explizit dargestellt ist.
39
Zwei Jahre zuvor hatte PIERRE CURIE die Wärmemenge gemessen, die
ein Gramm Radium pro Stunde abgibt, war auf bemerkenswert
hohe Werte gekommen. „Es ist nicht ausgeschlossen", schrieb EIN-
STEIN hoffnungsvoll, „daß bei Körpern, deren Energieinhalt in hohem
Maße veränderlich ist (zum Beispiel bei den Radiumsalzen), eine Prü-
fung der Theorie gelingen wird.“ Schon 1905 also richtete EINSTEIN
seine Aufmerksamkeit auf Prozesse, bei denen der Energieumsatz be-
sonders hohe Werte annimmt. Es ging ihm damals freilich nur darum,
eine experimentelle Bestätigung seiner Formel zu finden.
1907 schrieb EINSTEIN: „Ob die Methode mit Erfolg angewendet wer-
den kann, hängt in erster Linie davon ab, ob es radioaktive Reaktionen
gibt, für welche (M-Summe m)/M nicht allzu klein gegen l ist.“ Als Maß für
die Stabilität des Atomkernes spielt heute diese Größe f der relative
Massendefekt » eine wichtige Rolle in der Kernphysik, aber ebenso
bei den technischen Anwendungen in Atomreaktor und Atombombe.
Mit der experimentellen Bestätigung dauerte es freilich noch eine gute
Weile. Bisher war die radioaktive Forschung die Sache einiger weniger
Pioniere, und das Gebiet schien weder recht in die Chemie noch in die
Physik zu gehören. „Ich habe mir das Thomsonsche Laboratorium
genau angesehen“, berichtete der Würzburger Physik-Ordinarius
WILHELM WIEN 1904 von einer Reise nach Cambridge: „Man ist dort
sehr tätig, namentlich in den neuen Erscheinungen der Radioaktivität,
und ich habe den Eindruck gewonnen, daß wir in Deutschland gerade
auf diesem Gebiet etwas zuriückgeblieben sind. Ich werde sehen, daß
wir auch bci uns dieses Arbeitsgebiet mehr pflegen." Tatsächlich
wurde die radioaktive Forschung auch bald in Deutschland in größe-
rem Umfang betrieben. Das aber kam nicht durch eine bewußte Steue-
rung, sondern lief gleichsam automatisch nach dem Gesetz. nach dem
sich Wissenschaft selbst entfaltet.
Ein junger Chemiker namens OTTO HAHN hatte 1902 bei THEODOR
ZINCKE in Marburg promoviert und zwar, wie es sich für einen recht-
schaffenen Chemiker gehörte, auf organischem Gebiet. Die deutsche
chemische Industrie besaß die führende Position auf dem Weltmarkt:
mit Recht führte man das auf die Spitzenstellung in der Forschung zuf
rück. So stand die Industrie in enger Verbindung mit den Hochschulin-
stituten. Wenn ein Chemiker gebraucht wurde, so fragte man einen
befreundeten Ordinarius.
ZINCKE hatte allen Anlaß, seinen tüchtigen und sympathischen Assi-
stenten zu loben. Auch dem Direktor der Chemischen Werke Kalle &
Co. in Biebrich bei Wiesbaden gefiel der junge Mann - und so schien
alles den üblichen und richtigen Gang zu gehen. An der Ausbildung
fehlte offenbar nichts als die Auslandserfahrung. „Professor ZINCKE
riet mir“, berichtete HAHN„,zunächst ein halbes Jahr nach London
zu gehen. wo ich vielleicht bei dem berühmten Entdecker der Edelga-
se, Sir WLLIAM RAMSAY, einen Arbeitsplatz finden würde. ZINCKE
fragte RAMSAY, ob er einen seiner Schiiler für einige Zeit imUniversity
College aufnehmen wolle, und RAMSAY antwortete, ich möge kom-
men. So reiste ich im Herbst 1904 nach zweijähriger Assistenten-
tätigkeit nach London, “
WILLIAM RAMSAY aber gab dem jungen Chemiker ein Thema aus der
Radioaktivität, und dieses faszinierende Naturphänomen ließ HAHN
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nicht mehr los. Die Radioaktivität ist eine Eigenschaft, die nur einige
Wenige, besonders schwere Atome besitzen wie etwa Uran, Thorium
und Radium.
Diese Atome senden eine Strahlung aus und verwandeln sich dabei in
Nachbarelemente. So ist das am genauesten erforschte Radium ein so-
genannter Alpha-Strahler, das heißt, es schleudert Heliumkerne aus und
geht dabei in Radiumemanation (das Edelgas „Radon“) über. Man
führte später, um solche Prozesse zu beschreiben, eine eigene Formel-
sprache ein:
226Ra = 222Em+4He
88 86 2
Links steht der Ausgangskern, rechts schreibt man die Folgeprodukte
Die Symbolik ist also den chemischen Reaktionsgleichungen nachge-
bildet.
Die Aufgabe, die OTTO HAHN von WILLIAM RAMSAY gestellt war, laute-
te: aus einer Probe von etwa 100 Gramm Bariumchlorid das Radium
zu gewinnen. Barium und Radium sind ähnliche Elemente, beide ste-
hen in der Gruppe der Erdalkalien. Wenn man die vorhandenen phy-
sikalischen und chemischen Unterschiede bestmöglichst ausnutzt, so
gelingt die Trennung. Radium löst sich etwas schlechter als Barium
(das heißt das Löslichkeitsprodukt“ ist kleiner). Beim Auskristalli-
sieren fällt Radium (etwa als Sulfat) stärker aus, freilich immer zu-
sammen mit Barium. Unterbricht mati aber den Vorgang und löst er
neut, so erhält man nach vielfacher Wiederholung dieser sogenannten
„fraktioniertcn Kristallisation“ eine deutliche Anreicherung von Ra-
dium.
Dieses schon von MARIE CURIE bei der ersten Darstellung des Elemen-
tes angewandte Verfahren benutzte nun auch OTTO HAHN: „Sehr bald
stellte sich heraus“, berichtete er. „daß in dem für Radium (und Ba-
rium) gehaltenen Präparat noch eine andere radioaktive Substanz
enthalten sein müsse.“ Diese radioaktive Substanz hatte die Eigene
schaft, in die kurzlebige „Emanation des Thoriums überzugehen“ (wir
sagen heute: in das Radonisotop 220), OTTO HAHN schloß richtig, daß
es sich um ein Umwandlungsprodukt des Thoriums handeln müsse
und nannte den neuen Körper “Radiothorium“.
Dies war ein wunderbarer Erfolg für den Anfänger. Man sprach von
der Entdeckung eines „neuen Elementes“. Heute drücken wir uns an-
ders aus: OTTO HAHN hat ein neues Isotop des Thoriums entdeckt, das
Isotop mit der Massenzahl 228. Voller Begeisterung schrieb WILLIAM
RAMSAY (in seinem nicht ganz sicheren Deutsch) an EMIL FISCHER, den
großen und einflußreichen Berliner Chemiker: „Ich bin sehr frappiert
gewesen über die Kühnheit, Geschicklichkeit und Ausdauer von DR.
HAHN … HAHN hat in München. auch bei ZINCKE in Marburg studiert.
Er möchte habilitieren, und ich glaube. es wäre gut, wenn er dasselbe
bei Ihnen macht. Wäre es möglich. daß er in Ihrem Laboratorium wäh-
rend ein paar Jahren arbeitet? Er ist ein netter Kerl, bescheiden, ganz
zu vertrauen und hoch begabt; und er ist mir sehr lıcb geworden. Er ist
und will Deutscher bleiben; und er ist mit allen Untersuchungsmetho-
den der Radioaktivität vertraut ... Ich weiß. daß Sie Ihr Laboratorium
so vielseitig wie möglich machen wollen; haben Sie eine Ecke für ihn?“
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Wie schon 1901 HAHNs Doktorvater THEODOR ZINCK in Marburg. so
war nun WILLIAM RAMSAY ganz begeistert von den Fähigkeiten des
jungen Wissensehaftlers. Dabei war das Abiturzeugnis nur mittelmä-
ßig bis schlecht gewesen. Hatten ihn die Lehrer falsch eingeschätzt?
Erfahrungsgemäß spiegeln die Abiturzeugnisse sehr gut die intellek-
tuellen Fähigkeiten. OTTO HAHN war mit der Beurteilung (in der
Mehrzahl der Fälle mit nur „befriedigend“ bis “ausreichend“) durch-
aus richtig erfaßt. Private Briefe, die OTTO HAHN im höheren Alter an
seine Frau geschrieben hat und die nun veröffentlicht sind, zeigen,
daß er sich des geistigen Abstandes zu manchen Freunden und Kolle-
gen (zum Beispiel zu MAX VON LAUE) ganz bewußt war. „Wie könnte
ich über LEIBNIZ, NEWTON oder über Naturphilosophie oder derglei-
chen vortragen? Das können die anderen alle. Die lesen die Arbeiten
unter Umständen noch im lateinischen Urtext.“
Aber OTTO HAHN muß andererseits doch eine Qualität besessen ha-
ben, die mit einer bloß intellektuellen Beurteilung nicht erfaßt wird.
Vielleicht läßt sich diese mit „Sauberkeit und Ehrlichkeit“ umschrei-
ben.
Gemeint dabei ist die Fähigkeit zu genauer Unterscheidung zwischen
dem tatsächlich Bewiesenen und dem nur plausibel Gemachten. Diese
Qualität hat mit dem Verstand zu tun, aber noch mehr mit dem Cha-
rakter. Wie leicht ist es, sich selbst zu täuschen, wenn man ein be-
stimmtes Ergebnis erwartet! Von Anfang an widerstand OTTO HAHN
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dieser Versuchung. In seinem Charakter war kein Platz dafür.
Eine Geschichte, die dies illustriert, trug sich noch in London zu, nach
der glücklichen Entdeckung des Radiothors: „Zur Abscheidung und
Messung des aktiven Niederschlags meiner Thorpräparate machte ich
gelegentlich einen Schwefelwasscrstoffniederschlag. Es fiel mir auf,
daß ich bei der Wiederholung dieser Reaktion nach einiger Zeit immer
wieder den Hauch eines Niederschlags bekam ... Als ich RAMSAY
diese Beobachtung erzählte, meinte er, ,that's a new stuff' … Er
schlug vor, in der Royal Society eine kurze Mitteilung zu machen.“
HAHN lehnte die Ehre ab; er war sich seiner Sache nicht sicher. Nach
einer Weile stellte sich heraus, daß es sich im wahrsten Sinne des Wor-
tes um einen „Dreckeffekt“ handelte. Der „Niederschlag“ war Staub
und Rost. der von der eisernen Decke herabgefallen war.
Bevor HAHN, von RAMSAY empfohlen, zu EMIL FISCHER nach Berlin
ging, arbeitete er noch cin dreiviertel Jahr bei RUTHERFORD in Montre-
- ERNEST RUTHERFORD war, mehr noch als MADAME CURIE, der große
Pionier auf dem neuen Gebiet. Bei ihm lernte HAHN vor allem die phy-
sikalischen Methoden. Im Herbst 1906 erhielt HAHN im Chemischen
Institut der Universität Berlin ein eigenes kleines Laboratorium. Es
lag im Erdgeschoß, und weil sich dort die Schreinerei des Institutes be-
funden hatte, hieß es weiterhin „die Holzwerkstatt“. Das Angebot der
Firma Kalle in Wiesbaden-Biebrich schlug er aus. Die Entscheidung
für die Wissenschaft war gefallen.
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Montreal 1906: Ernest Rutherford (unten rechts) mit seinen Mitarbeitern; links hinter ihm Otto Hahn.
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Im gleichen Jahr begann er Tagebuch zu führen. Vierzig Jahre lang hat
er die wichtigsten Ereignisse des Tages notiert. Das war eine unschätz-
bare Hilfe für die Arbeit, und ist heute eine unschätzbare Hilfe für den
Historiker. So wissen wir es auf den Tag genau: Am 28. November
1907 trafen OTTO HAHN und LISE MEITNER einander zum ersten Male.
An diesem 28. November begann eine mehr als 30 Jahre währende
fruchtbare Zusammenarbeit. die erst durch das Einwirken politischer
Umstände beendet werden sollte. Zwar gab es auch zwischen OTTO
HAHN und LISE MEITNER gelegentliche Mißstimmungen, und zwar ge-
rade wegen der politischen Ereignisse, aber im Grunde blieben beide
einander freundschaftlich zugetan und verbunden.
Es war nicht leicht für LISE MEITNER, einen Arbeitsplatz zu erhalten.
OTTO HAHN war ja selbst nur „Gast“ im Chemischen Institut. Geheim-
rat EMIL FISCHER hielt nichts vom Frauenstudium, noch weniger von
der Tätigkeit der Frau in der Wissenschaft. Da EMIL FISCHER aber ein
gutherziger Mann war und sich zudem MAX PLANCK persönlich ein-
schaltete, so wurde eine Ausnahme gemacht. Fräulein Dr. MEITNER
bekam einen Platz in der „Holzwerkstatt”, durfte aber, weiß der
Himmel warum, die oberen Experimentiersäle der Studenten nicht
betreten. Vielleicht befürchtete der Geheimrat, daß LISE MEITNER
seine Studenten zu sehr verwirren würde. Übel sah sie ja gewiß nicht
aus. Aber die ersten Frauen in der Wissenschaft konnten sich in der
Männerwelt nur durch betonte Sachlichkeit behaupten.
„Von Gemeinsamkeiten zwischen uns, außerhalb des Institutes,
konnte keine Rede sein“, erzählte OTTO HAHN. „LISE MEITNER hatte
noch ganz die Erziehung einer höheren Tochter genossen, war sehr zu-
rückhaltend und fast scheu. Während ich mit meinem Kollegen
FRANZ FISCHER täglich zu Mittag aß, und wir an Samstagen
und später auch mittwochs noch ins Kaffeehaus gingen, habe ich mit LISE MEITNER
viele Jahre lang außerberuflich nie zusammen gegessen. Wir sind auch
nicht gemeinsam spazierengegangen. Abgesehen von physikalischen
Kolloquien begegneten wir einander nur in der ,Holzwerkstatt.“
Als er dies am Ende seines Lebens berichtete, hatte er wohl im Au-
genblick nicht mehr daran gedacht, daß er auch im Hause von
MAX PLANCK mit LISE MEITNER zusammentraf. Aber bei diesen Musikaben-
den waren so viele Physiker anwesend und so viele junge Damen, daß
wohl kaum Gelegenheit bestand, mit der Kollegin mehr als ein paar
Begrüßungsworte zu wechseln.
„In der ,Holzwerkstatt ‘”, so der Bericht HAHNS, „haben wir meist bis
kurz vor 8 Uhr gearbeitet. so daß mal der eine, mal der andere in die
Nachbarschaft laufen mußte, um schnell noch Aufschnitt und Käse zu
kaufen, denn um 8 Uhr schlossen die Läden. Niemals wurde das Ein-
gekaufte gemeinsam verzehrt. LISE MEITNER ging nach Hause, und ich
ging nach Hause. Dabei waren wir doch herzlich miteinander befreun-
det.“
Auch LISE MEITNER hat später öfter von ihren unbeschwerten Arbeits-
jahren in der „Holzwerkstatt“ erzählt: „Wenn unsere eigene Arbeit
gut ging, sangen wir zweistimmig, meistens Brahmslieder, wobei ich
nur Summen konnte, während HAHN eine sehr gute Singstimme hatte.
Zu den jungen Kollegen am nahegelegenen Physikalischen Institut
hatten wir menschlich und wissenschaftlich ein sehr gutes Verhältnis.
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Karte von Lise Meitner an Otto Hahn vom 28. September 1957: Erinnerung an
die Zusammenarbeit, die fünfzig Jahre zuvor begonnen hatte. Wie sie es als „hö-
here Tochter” in der Kaiserzeit gelernt hatte, sandte sie dem Kollegen und Freund
ein Goethe-Gedicht.
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Sie kamen uns öfters besuchen. und es konnte passieren, daß sie durch
das Fenster der ,Holzwerkstatt hereintstiegen, statt den üblichen Weg
zu nehmen. Kurz, wir waren jung, vergnügt und sorglos, vielleicht poli-
tisch zu sorglos."
Jedenfalls waren sie fleißig. OTTO HAHN klärte zu einem wesentlichen
Teil die Thorium-Zerfallsreihe Wie er schon lange vermutet hatte:
Zwischen dem Thorium (Isotop 232) und dem Radiothorium (Tho-
rium 228) stehen als Zwischenprodukte Mesothoriurn 1 (Radium 228)
und Mesothorium 2 (Actinium 228). Heute schreiben wir:
Alpha Beta
232Th = 228Ms Th1 = 228Ms Th2
90 88 89
Beta Alpha Alpha
= 228Rd Th = 224ThX = 220Rn
90 80 86
(Die Zerfallsreihe geht von der zuletzt angeschriebenen kurzlebigen
Thoriumemanation weiter bis zum Blei 208.)
Deutlich verschieden in ihren radioaktiven Eigenschaften waren Tho-
rium und Radiothor. Das „eigentliche“ Thorium ist sehr langlebig (so
daß es HAHN zunächst als strahlungslos angesehen hatte), während das
Radiothor eine Halbwertzeit von knapp zwei Jahren besitzt. Trotzdem
gelang es HAHN nicht, die beiden so deutlich verschiedenen „Elemen-
te“ chemisch voneinander zu trennen.
Dasselbe geschah ihm bei Radium und Mesothorium 1. Er dachte „an
eine so nahe chemische Ähnlichkeit. wie man sie bei einigen seltenen
Erden beobachtet hatte, deren Reinherstellung ja zahlreicher fraktio-
nierter Kristallisationen unter ganz bestimmten Bedingungen be-
durfte.“
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Eine der vielen gemeinsamen Veröffentlichung von Otto Hahn und Lise Meitner: In der Physikalischen Zeitschrift Band 18, 1917, gaben sie die Entdeckung des Elementes Nr. 91 bekannt, das sie “Protactinium” nannten. Auf der rechten Seite: Bibliothek des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Chemie (1913). Zu sehen sind die Direktoren Ernst Otto Beckmann und Richard Willstätter (vorne) und der Leiter der kleinen “radioaktiven Abteilung” Otto Hahn mit seiner Mitarbeiterin Lise Meitner (rechts im Hintergrund).
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In Wirklichkeit lagen hier nicht verschiedene „Elemente“ vor, son-
dern Verschiedene Isotope gleicher Elemente. Erst im Jahre 1912
entwickelte NIELS BOHR die Vorstellung „elektronisch identischer“
Elemente, Publiziert wurde dieser Gedanke ein Jahr später von FRE-
DERICK SODDY, der auch den Begriff des Isotops prägte.
Heute drückt man die Verhältnisse einfach so aus: Die Zahl der Pro-
tonen im Atomkern (und damit die Zahl der Elektronen in der Hülle
des neutralen Atoms) bestimmt die chemischen Eigenschaften. Diffe-
rieren kann die Zahl der Neutronen im Kern.
So waren also die von HAHN entdeckten Körper (Radiothor, Mesotho-
rium 1 und Mesothorium 2) keine „Elemente“ in unserem Sinne, son-
dern „nur“ Isotope bereits bekannter Elemente. 1917 gelang es ihm
aber doch noch, zusammen mit LISE MEITNER wirkliches Element
zu entdecken: Nämlich das Element Nr. 91, das sie Protactinium nannten.
LISE MEITNER beschäftigte sich in den Jahren vor dern Ersten Welt-
krieg mit den Eigenschaften der Beta-Strahlen. Unter den radioaktiven
Atomen gibt es zwei Sorten: Die einen senden Alpha-Strahlen aus (He-
lium-Atomkerne), die anderen Beta-Strahlen (Elektronen). Die Eigen-
schaften der Beta-Strahlen waren sehr viel schwerer zu fassen, und es
dauerte Jahrzehnte, bis LISE MEITNER im Dialog mit anderen Arbeits-
gruppen Klarheit gewann.
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Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem. Hier arbeitete Otto Hahn vom Tag der Einweihung 1912 an bis zum Tag der Zerstörung 1944. Lise Meitner mußte 1938 das Institut verlassen und in die Emigration gehen.
ENDE VI