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DER WEG IN DAS ATOMZEITALTER (Seiten 26 - 43)

2017. március 01. 11:11 - RózsaSá

KAPITEL IV

Das Laue-Diagramm

Entdeckung der Röntgenstrahlinterferenz

27

Neben dem großen, von WILHELM CONRAD RÖNTGEN geleiteten Physi-

kalischen Inslitut gab es an der Universität München das Institut für

theoretische Physik. Hier scharte der 1906 berufene ARNOLD SOMMER-

FELD einen Kreis begeisterter Schüler um sich. Zum Institut gehörte

eine kleine experimentelle Abteilung, in der WALTHER FRIEDRICH als

Assistent tätig war. FRIEDRICH untersuchte die Intensitätsabhangigkeit

der Röntgenbremsstrahlung von der Ausstrahlungsrichtung, ein The-

ma, für das sich sowohl RÖNTGEN wie SOMMEREELD interessierten und

über das beide Professoren oft miteinander diskutierten.

Zum Kreise der SOMMERFELD-Schüler zählte auch der junge PETER

PAUL EWALD, der fast zufällig in eine Vorlesung S0MMERFELDs geraten

war: „Der Erfolg war, daß ich...so gefesselt wurde, daß ich von da ab

wußte, daß meine Liebe - dieser wunderbaren Harmonie von an-

schaulichem mathematischem Denken und physikalischem Geschehen,

der theoretischen Physik, galt.“ Die Mitte 1910 in Angriff genom-

mene Dissertation behandelte die „Dispersion und Doppelbrechung

von Elektronengittern.“ Bei der Niederschrift dieser Arbeit im Januar

1912 kamen EWALD einige Ergebnisse so merkwürdig vor, daß er eine

kritische Aussprache suchte. Niemand schien besser geeignet als der

am Institut tätige Privatdozent MAX LAUE, der sich auf optische Pro-

bleme spezialisiert hatte.

LAUE war zu einem Gespräch bereit und lud EWALD zum Abendessen

in sein Haus ein. Den Weg vom Institut durch den Englischen Garten

gingen sie zusammen. Zunächst orientierte EWALD den acht Jahre al-

teren LAUE über das Thema, und noch war man in den Räumen der

Universität, in der großen Wandelhalle, als EWALD das für LAUE ent-

scheidende Wort sprach: Gitter. Die von den elektromagnetischen

Wellen durchstrahlte Materie sollte (nach der Vorstellung EWALDs)

die Struktur eines Raumgitters haben.

LAUE hatte sich erst kurz zuvor mit der Theorie der Beugung am

Strichgitter und Kreuzgitter beschäftigt. Wahrscheinlich vollzog sich

bei LAUE in diesem Augenblick eine blitzartige Assoziation.

Fünfzig Jahre später hat EWALD seine Erinnerungen niedergeschrie-

ben. Der historische Abstand zu jener Zeit Ende Januar 1912 war so

groß geworden, daß EWALD von sich in der dritten Person sprach:

„Nachdem die Ludwigstraße überquert war, begann EWALD die von

ihm bearbeitete Fragestellung zu erläutern; LAUE hatte, zu seinem Er-

staunen, von der Problematik keine Ahnung. EWALD erläuterte, daß

27

er, im Gegensatz zur üblichen Dispersionstheorie, angenommen habe,

daß die optischen Resonatoren gitterförmig angeordnet sind. LAUE

fragte nach dem Grund für diese Annahme. EWALD antwortete, für

Kristalle werde allgemein eine innere Regelmäßigkeit angenommen.

Das schien LAUE neu.“

„Inzwischen war man“, wie EWALD weiter berichtete, „in den Engli-

schen Garten gekommen. LAUE fragte: ,Was ist denn der Abstand zwi-

schen den Resonatoren?“ Darauf erwiderte EWALD, daß er sehr klein

sei verglichen mit der Wellenlänge dcs sichtbaren Lichtes, vielleicht

1/500 oder 1/1000, aber daß ein exakter Wert nicht gegeben werden

könne wegen der unbekannten Natur der ,molécules intégrantes“ oder

,Teilchen“ der Strukturtheorie; es sei jedoch der genaue Abstand für

sein Problem unwesentlich, denn es genüge zu wissen, daß er nur einen

kleinen Bruchteil der Wellenlänge ausmachc. Auf dem weiteren Weg

erläuterte EWALD seine Behandlung der Aufgabe . . ., aber er bemerk-

te, daß LAUE nicht mehr richtig zuhörte. LAUE bestand darauf, die Ab-

stände zwischen den Resonatoren zu erfahren, und als er die gleiche

Antwort wie zuvor erhielt, fragte er: ,Was würde passieren, wenn man

wesentlich kürzere Wellen durch den Kristall schickt?`“ Soweit der

Bericht EWALDs.

Während EWALD seine Dissertation zum Abschluß brachte und sich

auf das mündliche Examen vorbereitete, kam LAUE das Problem nicht

mehr aus dem Kopf: Was geschieht, wenn Röntgenstrahlen durch ei-

nen Kristall gehen? Wenn es wirklich stimmte, daß Röntgenstrahlen

kurze elektromagnetische Wellen - also dem Licht verwandt - sind

und wenn weiterhin stimmte, daß die Kristalle regelmäßig aus den

Atombausteinen aufgebaut sind, dann muß man doch eigentlich einen

Interferenzeffekt erwarten können. Es muß dann ein Kristall für

Röntgenlicht dasselbe sein wie ein Beugungsgittcr für gewöhnliches

Licht. und da hatte man ja schon seit hundert Jahren, seit JOSEPH VON

FRAUNHOFER, dem Pionier der praktischen und theoretischen Optik,

Interferenzerscheinungen beobachtet. Hinter einem Beugungsgitter

wechselt in charakteristischer Weise Hell und Dunkel: Licht zu Licht

gef*ügt kann Dunkelheit ergeben - dafür tritt dann Verstärkung der In-

tensität in anderen Richtungen auf.

„Wes das Herz voll ist, des fließt der Mund über“: LAUE diskutierte

mit jedem, der davon hören wollte. Die anerkannten Meister RÖNT-

GEN und SOMMERFELD äußerten Zweifel; aber die jüngeren Physiker

28

begannen, sich für die Idee zu erwärmen. Zur Ausführung des Ver-

suchs erbot sich WALTHER FRIEDRICH, und er schien tatsächlich der Ge-

eignetste: erstens hatte er schon Erfahrung im Umgang mit Röntgen-

strahlen, zweitens hatte er eben promoviert und suchte nach einer

neuen Aufgabe. Unter dem Gewicht der Einwände SOMMERFELDs ka-

men aber nun auch FRIEDRICH Bedenken,

LAUEs Enthusiasmus war jedoch nicht zu dämpfen. Er überredete den

jungen Doktoranden PAUL KNIPPING, das Experiment zu wagen. „Daß

ein wenig Diplomatie erforderlich gewesen wäre, um den Beginn der

Versuche im Sommerfeldschen Institut zu erreichen, das ist allerdings

richtig“, schrieb LAUE später an PETER PAUL EWALD: „Denn um die

Wende März-April 1912 sah es so aus, als wollte FRIEDRICH die Inter-

ferenzversuche zunächst noch zurückstellen. Da veranlaßte ich KNIP-

PING, sich der Sache anzunehmen. .

So begannen schließlich am 21. April 1912 WALTHER FRIEDRICH und

PAUL KNIPPING gemeinsam die Versuche. LAUE schrieb darüber in sei-

ner Autobiographie: „Nicht der erste, wohl aber der zweite führte zu

einem Ergebnis. Das Durchstrahlungsphotogramm eines Stückes

Kupfersulfat zeigte neben dem primären Röntgenstrahl einen Kranz

abgebeugter Gitterspektren. Tief in Gedanken ging ich durch die Leo-

poldstraße nach Hause, als mir FRIEDRICH diese Aufnahme gezeigt hat-

  1. Und schon nahe meiner Wohnung, Bismarckstraße 22, vor dem

Hause Siegfriedstraße 10, kam mir der Gedanke für die mathemati-

sche Theorie der Erscheinung. Die auf SCHWERD (1835) zurückge-

hende Theorie der Beugung am optischen Gitter hatte ich kurz zuvor

für einen Artikel in der Enzyklopädie der mathematischen Wissen-

schaften neu zu formulieren gehabt, so daß sie, zweimal angewandt

auch die Theorie des Kreuzgitters mit umfaßte, Ich brauchte sie nur,

den drei Perioden des Raumgitters entsprechend, dreimal hinzu-

schreiben, um die neue Entdeckung zu deuten. Insbesondere ließ sich

der beobachtete Strahlenkranz sogleich in Beziehung zu den Kegeln

setzen, welche jede der drei Interferenzbedingungen für sich allein be-

Stimmt.“

Wie ein Lauffeuer sprach sich der Erfolg unter den Münchener Physi-

kern herum. „Als RÖNTGEN barhaupt in das SOMMERFELDsche Institut

gestürzt kam, um sich die Versuchsergebnisse anzusehen, erkannte er

sofort, daß etwas wesentlich Neues vorläge und gratulierte FRIEDRICH

auf das herzlichste zu der Entdeckung. Aber er fügte hinzu: ,Interfe-

renzerscheinungen sind das nieht, die sehen ganz anders aus.“ “ Diesen

Bericht LAUEs ergänzte PETER PAUL KOCH, damals Assistent RÖNT-

GENs: „Ich erinnere mich, daß RÖNTGEN sehr ergriffen war und dabei

besonders die Kristalle betonte, indem er etwa sagte: ,Ja, ja, die Kri-

stalle!` Was dabei über die Interferenznatur des Latte-Diagramms

verhandelt wurde, kann ich nicht sagen , . . Später. . , war jedenfalls

RÖNTGEN von der Interferenznatur des Vorgangs überzeugt.“

Am 4. Mai reichten LAUE, FRIEDRICH und KNIPPING zur Sicherung ihrer

Priorität der Bayerischen Akademie eine Vorausmitteilung ein; die

gemeinsame Veröffentlichung der drei Forscher legte SOMMERFELD

der Akademie am 8. Juni vor. Am gleichen Tag referierte MAX LAUE

den Berliner Physikern. Von allen Seiten kam nun die Anerkennung.

Am meisten gefreut hat LAUE die Gratulation EINsTEINs. „Lieber Herr

28

LAUE“, schrieb dieser auf einer Postkarte, „ich gratuliere Ihnen herz-

lich zu Ihrem wunderbaren Erfolge. Ihr Experiment gehört zum

Schönsten, was die Physik erlebt hat."

Durch die LAUEsche Entdeckung war die elektromagnetische Natur

der Röntgenstrahlen, das heißt ihre Wesensverwandtschaft mit dem

sichtbaren Licht, endgültig bewiesen, Merkwürdigerweise häuften

 

28

Versuchsanordnung von Walther Friedrich und Paul Knipping, mit der im April

1912 die Interferenzen bei Röntgenstrahlen entdeckt wurden, Das Original steht

heute im Deutschen Museum in München.

 

29

Mitteilung der Entdecker vom 4. Mai 1912 an die Bayerische Akademie zur Sicherung der Priorität.

 

30

sich aber gleichzeitig auch die Beweise für ihren korpuskularen Cha-

rakter. Seit 1903 hatte in Cambridge der Physiker JOSEPH JOHN THOM-

SON immer wieder darauf hingewiesen, daß manche Phänomene wie

der lichtelektrische Effekt und die Ionisierung der Gasmoleküle die

Vorstellung erzwingen, daß in der Wellenfront die elektrische Kraft

nicht gleichmäßig verteilt ist: „Ich denke, es ist evident, daß die Wel-

lenfront in Wirklichkeit viel eher einer Zahl von hellen Flecken auf

dunklem Grunde gleicht als einer gleichmäßig erleuchteten Fläche.“

Auch WILHELM WIEN und JOHANNES STARK betonten die konzentrierte

Energie der Röntgenstrahlen, die mit der von der Wellentheorie gefor-

derten Intensitätsabnahme nach dem Gesetz 1/r2 (r Abstand von der

Lichtquelle) völlig unverständlich sei, ERNEST RUTHERFORD meinte in

einem Brief an NIELS BOHR am 24. Februar 1913: „Es scheint mir kein

Zweifel zu bestehen. daß die Röntgenstrahlen als eine Art Wellenbe-

wegung betrachtet werden müssen; aber persönlich kann ich mich der

Auffassung nicht entziehen, daß die Energie konzentriert sein muß.“

lm Grunde war die Problematik „Welle oder Korpuskel?“ schon von

EINSTEIN durch das Dualitätsprinzip gelöst worden. Es dauerte aber

noch lange, bis sich diese Erkenntnis allgemein durchsetzte, die AR-

NOLD SOMMERFELD von allen erstaunlichen Entdeckungen des

„20. Jahrhunderts die erstaunlichste“ genannt hat.

 

30

Arnold Sommerfeld im Hörsaal (Dezember 1937). An der Tafel stehen die

Laueschen Interferenzbedihgungen für die Streuung von Röntgenstrahlen am Kristall.

 

30

Die Laue-Interferenzen entstehen durch Wechselwirkung der Rönt-

genstrahlen mit dem Kristall: Deshalb ist es im Prinzip möglich, aus

den Beobachtungen einerseits etwas über die Rönlgenstrahlen, ande-

rerseits etwas über den Kristall auszusagen. Kennt man etwa bei den

Versuchen die Eigenschaften des Kristalls, das heißt seine innere

Struktur und die Abstände zwischen den Kristallbausteinchen, so hat

man in dem Raumgitter des Kristalls einen hochempfindlichen Spek-

tralapparat zur Verfügung. Mit der von WILLIAM HENRY BRAGG und

WILLIAM LAWRENCE BRAGG entwickelten Methode der selektiven Re-

flexion an Kristallen war erstmalig die Möglichkeit einer exakten Wel-

lenlängenmessung geschaffen. Als die beiden Braggs 1915 den Nobel-

preis erhielten, war William Henry Bragg 53 Jahre alt, sein Sohn Wil-

liam Lawrence 25.

Was damit für die Analyse der von den (irgendwie angeregten) Ato-

men ausgehenden Röntgeneigenstrahlung gewonnen war, hat SOMMER-

FELD sieben Jahre nach der Entdeckung LAUEs erläutert. Im Vorwort

seines Buches „Atombau und Spektrallinien“, der „Bibel der Atom-

physik“, wie seine Studenten sagten, schrieb er 1919: „Seit der Ent-

deckung der Spektralanalyse konnte kein Kundiger zweifeln, daß das

Problem des Atoms gelöst sein würde, wenn man gelernt hätte, die

Sprache der Spektren zu verstehen. Das ungeheure Material, Welches

60 Jahre spektroskopischer Praxis aufgehäuft haben, schien allerdings

in seiner Mannigfaltigkeit zunächst unentwirrbar. Fast mehr haben die

sieben Jahre Röntgenspektroskopie zur Klärung beigetragen, indem

hier das Problem des Atoms an seiner Wurzel erfaßt und das Innere

des Atoms beleuchtet wird.“

Kennt man auf der anderen Seite die Eigenschaften der verwendeten

Röntgenstrahlung (das heißt ihre „Härte“ beziehungsweise ihre spek-

trale Zusammensetzung), so kann man aus dem Studium der Laue-In-

terferenzen Aufschlüsse gewinnen über die Gitterstruktur der durch-

strahlten Kristalle. lm wahrsten Sinne des Wortes begann man in den

Aufbau der Materie „hineinzuleuchten“. Die Röntgenstrukturanalyse

entwickelte sich zu einem eigenständigen Fach zwischen Physik, Che-

mie und Biologie. Hier leisteten WILLIAM HENRY BRAGG uııd WILLIAM

LAWRENCE BRAGG die Pionierarbeit.

LAUE selbst wurde kein Strukturforscher. Ihn interessierten als echten

Schüler MAX PLANCKs nur die „großen, allgemeinen Prinzipien“, ihm

war nur „das Absolute“ wichtig, nicht die spezielle Form, in der die

Materie ausgeprägt ist. 1912 erhielt LAUE eine außerordentliche Pro-

fessur an der Universität Zürich; es war die Stelle, die 1909 für EIN-

STEIN geschaffen worden war. Dieser hatte inzwischen die Berufung

auf den Lehrstuhl für theoretische Physik an der deutschen Universität

in Prag angenommen.

 

31

Peter Paul Ewald mit Lise Meitner 1028 in Tübingen. Ewald, ein Schüler Sommerfeld,

brachte Laue auf den entscheidenden Gedanken, der zur Entdeckung der Röntgenstrahlinterferenzen führte.

 

32

Brief von Albert Einstein an die Preußische Akademie der Wissenschaften vom

  1. Dezember 1913. Mit diesem Schreiben nahm EInstein seine Stellung in Berlin

als ordentliches Mitglied der Akademie an. Zur gleichen Zeit schrieb er an einen

Freund: „Die Berliner spekulieren mit mir wie mit einem prämierten Leghuhn.

Dabei weiß ich selbst nicht, ob ich überhaupt noch Eier legen kann.“

 

ENDE IV

 

KAPITEL V

 

Berlin - Hauptstadt der Wissenschaft

Das goldene Zeitalter der Physik

 

33

Als LAUE im Oktober 1912 sein neues Amt an der Universität Zürich

antrat, kehrte auch ALBERT EINSTEIN dorthin zurück, diesmal als or-

dentlicher Professor an die Eidgenössische Technische Hochschule, an

der er einst studiert hatte. EINSTEIN und LAUE sahen sich nun regelmä-

ßig. „An einem Nachmittag jeder Woche hielt EINSTEIN ein physikali-

sches Kolloquium über neuere Arbeiten aus der Physik ab. Obwohl es

im Physikgebäude der ETH stattfand, hatten selbstverständlich die

Dozenten und Studenten der Universität Zutritt“, berichtete LAUE,

der selbst regelmäßig teilnahm: „Nach dem Kolloquium ging EINSTEIN

mit allen, die sich ihm anschließen wollten, zum Abendessen ins Re-

staurant ,Kronenhalle“. Damals stand die Allgemeine Relativitätstheori

 in ihren Anfängen. und ich erinnere mich noch vieler Dispute mit

EINSTEIN. Er war vollkommen im Bannkreis dieser Ideen und kam

auch in den folgenden Jahren immer wieder im Gespräch darauf zu-

rück, manchmal von einem ganz anderen Gegenstand plötzlich darauf

überspringend, Ich hatte dabei die besondere Freude, daß er mein

Buch über die Spezielle Relativitätstheorie öfters lobte. Außerdem

standen damals, besonders angeregt durch NIELS BOHRs Atomtheorie

vom Jahre 1913, quantentheoretisehe Fragen im Vordergrund seiner

Interessen. Er versammelte um sich eine große Zahl von Schülern, un-

ter denen OTTO STERN und KARL FERDINAND  HERZFELDwohl die be-

deutendsten waren. Am lebhaftesten wurden aber die Diskusionen in

jenen Tagen des Sommers 1913, in denen der temperamentvolle PAUL

EHRENFEST Zürich besuchte: Ich sehe noch, wie einem großen

Schwarm Physikern EINSTEIN und EHRENFEST voranschritten, auf den

Zürichberg stiegen und EHRENFEST dort in das Jubelgeschrei ausbrach:

,Ich habe es verstanden!“

Für EINSTEIN und LAUE ging aber die Zeit in Zürich schnell zu Ende.

1914 wurde LAUE als ordentlicher Professor nach Frankfurt berufen

und im gleichen Jahr schon erhielt er den Nobelpreis für Physik. Der

Zufall wollte es, daß 1914 auch der Vater LAUEs, ein im Generalsrang

stehender Jurist, ausgezeichnet wurde, und zwar durch Aufnahme in

den erblichen Adelsstand. So verwandelte sich innerhalb kurzer Zeit

der in der Öffentlichkeit unbekannte Privatdozent MAX LAUE. in den

weltberühmten Nobelpreisträger Professor MAX VON LAUE.

33

Wir sind noch nicht darüber unterrichtet (denn die Archive der Nobel-

stiftung werden erst jetzt geöffnet), wann EINSTEIN zum ersten Mal für

den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Die Nobelstiftung tat sich

schwer mit den Verleihungen für rein gedankliche Leistungen. Ein Ef-

fekt war eben gleichsam „handgreiflich“, und auch der größte Zweif-

ler mußte sich von der Realität einer solchen Entdeckung überzeugen

lassen. Aber was das Relativitätsprinzip und die Quantentlıeorie betraf

- da ließen sich nun einmal die sehr kritischen Stimmen aus Kreisen

der älteren Physiker nicht überhören.

Die wirklichen Kenner wußten jedoch, was die neuen Theorien be-

deuteten. In Preußen - und nach preußischem Vorbild auch in den an-

deren deutschen Ländern f wurde eine hervorragende Hochschulpoli-

tik bctrieben. Als PLANCK und NERNST den Plan entwickelten, EIN-

STEIN nach Berlin zu bringen, fanden sie im Kultusministerium tatkräf-

tige Unterstützung.

Um EINSTEIN zu gewinnen, war ein besonderes Angebot nötig. Als

überzeugter Individualist und Demokrat stand EINSTEIN den preußi-

schen Idealen, der von Pflichterfüllung diktierten Lebenseinstellung

und der unbedingten Hingabe an „König und Vaterland“ Verständnis-

los gegenüber, In Zürich hatte EINSTEIN schon 1901 das Bürgerrecht

erworben. und an der ETH wie in der Stadt fühlte er sich persönlich

wohl.

Tatsächlich konnte eine Stellung in Berlin geschaffen werden, die Em-

STEIN von den Vorlesungsverpflichtungen völlig frei hielt, die auf die

kollegialc Zusammenarbeit mit den Berliner Physikern zugeschnitten

war und die überdies eine der Bedeutung EINSTEINs entsprechende

Dotierung ermöglichte.

Im Frühsommer 1913 fuhren PLANCK und NERNST nach Zürich, um

den definitiven Vorschlag zu unterbreiten: EINTEIN solle ordentli-

ches, hauptamtliches Mitglied der Akademie. Direktor des damit de

jure zu schaffenden Kaiser- Wilhelm-Institutes für Physik und Profes-

sor an der Universität werden, mit dem Recht, aber nicht der Pflicht,

Vorlesungen zu halten.

Am 12. Juni verlas PLANCK in der Sitzung der physikalisch-mathemati-

schen Klasse den eigenhändig geschriebenen Wahlantrag: „Die Un-

terzeichneten (PLANCK, NERNST, RUBENS und WARBURG) sind sich

wohl bewußt, daß ihr Antrag, einen in noch so jugcndlichem Alter ste-

henden Gelehrten als ordentliches Mitglied in die Akademie aufzu-

nehmen, ein ungewöhnlicher ist, sie meinen aber, daß er sich nicht nur

durch die ungewöhnlichen Verhältnisse hinreichend begründen läßt,

sondern daß es das Interesse der Akademie direkt erfordert, die sich

darbietende Gelegenheit zur Erwerbung einer so außerordentlichen

34

Kraft nach Möglichkeit zu nutzen. Wenn sie auch naturgemäß für die

Zukunft keine Bürgschaft zu übernehmen vermögen, so treten sie

doch mit voller Überzeugung dafür ein, daß die heute schon vorlie-

genden wissenschaftlichen Leistungen des Vorgeschlagenen, von de-

nen in der gegebenen Zusammenstellung nur die markantesten her-

vorgeheben sind, seine Berufung in das vornehmste wissenschaftliche

Institut des Staates vollauf rechtfertigen, und sie sind weiter auch daf

von überzeugt, daß der Eintritt EINSTEINs in die Berliner Akademie

der Wissenschaften von der ganzen physikalisch en Welt im Sinne eines

besonders wertvollen Gewinnes für die Akademie beurteilt werden

würde.“

Die Wahl wurde am 12. November 1913 bestätigt; am 7. Dezember

erklärte EINSTEIN die Annahme und trat am l. April 1914 das neue

Amt an.

Als er Zürich verließ, meinte EINSTEIN scherzhaft, daß die Berliner mit

ihm „wie mit einem prämierten Leghuhn“ spekulierten: „Dabei weiß

ich selbst nicht, ob ich überhaupt noch Eier legen kann.“ Die Sorge

war unbegründet.

Mit der Quanten- und Relativitätstheorie hatte das „Goldene Zeitalter

der deutschen Physik“ begonnen. Das Zentrum der Forschung lag in

Berlin; an der Akademie, der Universität, der Technischen Hoch-

schule und der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt wirkte eine

Vielzahl von hervorragenden Forschern. Nach Gründung der Kai-

ser-Wilhelm-Gesellschaft im Januar 1911 entstanden in Rekordzeit

ein großes Institut für Physikalische Chemie und ein noch größeres für

Chemie.

Mit seinen Berliner Kollegen stand EINSTEIN bald in freundschaftli-

chem Kontakt: „Ich glaube, es war nur wenige Monate, nachdem EINSTEIN

nach Berlin gekommen war“, berichtete Lise Meitner, „als im

PLANCKschen Haus ein Musikabend stattfand. Es wurde das Beetho-

ventrio in B-Dur gespielt, PLANCK am Klavier, EINSTEIN spielte Geige

und der Cellist war ...ein holländischer Berufsmusiker. Das Zuhören

war ein wunderbarer Genuß, für den ein paar zufällige Entgleisungen

Einsteins nichts bedeuteten ... EINSTEIN, sichtlich erfüllt von der

Freude an der Musik, sagte laut lachend in seiner unbeschwerten Art,

daß er sich wegen der mangelhaften Technik schäme. PLANCK stand

dabei mit ruhigem, aber buchstäblich glückstrahlendem Gesicht und

rieb sich mit der Hand in der Herzgegend: ,Dieser wunderbare zweite

Satz“. Als nachher EINSTEIN und ich weggingen, sagte EINSTEIN ganz

unvermittelt: ,Wissen Sie, um was ich Sie beneide?’ Und als ich ihn et-

was überrascht ansah, fügte er hinzu: ,Um Ihren Chef.“ Ich war damals

noch Assistentin PLANCKs.“

 

34

Das Haus Planck in Berlin-Grunewald, Wangenheimstraße 21. 

Hier trafen sich regelmäßig die Kollegen zu Musikabenden. Oft war Einstein, Laue, Hahn und

Lise Meitner zu Gast.

 

34

„Als ich PLANCK näher kennenlernte, war er schon etwa 50 Jahre alt,

ein nobel denkender und fühlender Mensch, der dabei große Zurück-

haltung in seinen menschlichen Beziehungen übte“, berichtete EINSTEIN

später: ,Ich habe kaum so einen tief ehrlichen und wohlwollen-

den Menschen gekannt. Stets setzte er sich für das ein, was er für recht

hielt, auch wenn es nicht sonderlich bequem für ihn war. Er war stark

traditionsgebunden in seiner Beziehung zu seinem Staate und zu sei-

ner Kaste. aber er war stets willens und fähig, meine ihm fernliegenden

Überzeugungen aufzunehmen und zu würdigen.“

Schon seit einigen Jahren hatte PLANCK in seinem Haus in der Wan-

genheimstraße im Grunewald einen „jour fixe“ eingerichtet. Alle

vierzehn Tage kamen ohne besondere Einladung musikbegeisterte

junge Menschen, Freunde seiner Kinder und junge Kollegen. Als Sän-

ger glänzte OTTO HAHN, und stolz erzählte er später: „Da ich zwar eine

kräftige, aber ganz ungepflegte Tenorstimme hatte, riet mir PLANCK,

doch Gesangsunterricht bei einem guten Lehrer zu nehmen, es ließe

sich aus meiner Stimme Wohl etwas machen.“

PLANCK schätzte den jungen Chemiker, der sich mit der Radioaktivität

ein so interessantes Arbeitsgebiet gewählt hatte.

 

35

Otto Hahn als eleganter junger Mann mit Barttracht des Wilhelminischen Zeitalters.

35

Max Planck, der “Praeceptor Physicae”.

36

Otto Hahn und Lise Meitner in den Anfangsjahren der Zusammenarbeit. Hier

1908 in der ehemaligen„Holzwerkstatt“des Chemischen Institut der Universi-

tät Berlin.

 

KAPITEL VI

 

Otto Hahn und Lise Meitner

Begründung der radioaktiven Forschung in Deutschland

 

37

Viele Mächtige hat es in unserem Jahrhundert gegeben, auf deren Be-

fehl sich Millionen in Bewegung setzten, aber keiner von ihnen hat so

wic EINSTEIN unseren Planeten verändert. Noch nie sollte sich der alte

Satz „Wissen ist Macht“ so bewahrheiten wie im Fall der kurzen und

einfachen EINSTEINschen Formel E = mc2.

Dabei besaß EINSTEIN gar nicht den Wunsch, in dieser Welt zu wirken;

er zog sich, so weites nur irgend möglich war, zurück. „Eines der stärk-

sten Motive, die zur Kunst und Wissenschaft hinführen“, sagte EIN-

STEIN und dachte dabei vor allem an PLANCK und sich selbst. „ist eine

Flucht aus dem Alltagsleben mit seiner schmerzlichen Rauheit und

trostlosen Öde, aus den Fesseln der ewig wechselnden persönlichen

Wünsche.“

Die im „Elfenbeinturm“ oder, wie EINSTEIN sagte, im „stillen Tempel

der Wissenschaft“ absichtslos, 1`art pour l`art geschaffene Physik aber

griff, ein paar Jahrzehnte später, tief in das Leben der Menschen ein.

Mit Recht hat man von einer neuen Epoche gesprochen.

Am 16. Juli 1945, als zum ersten Mal eine Atombombe explodierte. zu

Versuchszwecken in der Wüste von Nevada, vollzog sich, wie es in dem

offiziellen Bericht des amerikanischen Kriegsministeriums hieß, „der

Übertritt der Menschheit in ein neues Zeitalter, das Zeitalter des

Atoms“. Wie der nach der biblischen Sage aus dem Paradies vertrie-

bene Mensch nicht mehr zurüekfinden kann in den Zustand der Un-

schuld, so ist auch jetzt die Rückkehr in den früheren Zustand unmög-

lich.

Im Jahre 1905 schien nichts esoterischer als der Lehrsatz, daß elek-

tromagnetische Strahlung die Eigenschaft der „Trägheit“ besitzt. So-

weit sich die Physiker überhaupt Gedanken machten, verstanden sie

das als eine Aussage, die allenfalls zu einigen artifiziellen Gedanken-

experimenten taugte. Wenn sich EINSTEIN - wie vordem PLANCK - mit

dem Hohlraum beschäftigte, in dem elektromagnetische Strahlung

eingeschlossen war, konnte er auf diesen gedachten Hohlraum fiktive

Kräfte wirken lassen und fiktive Beschleunigungen erzielen. Die dafür

relevante Größe, die Masse m, mochte sich dann tatsächlich nach sei-

ner Formel m =E/c2 berechnen lassen. Bedeutung für die „Wirklich-

keit“. so meinte man, besaßen jedoch solcherlei Überlegungen nicht.

37

Wie ein Bewohner der Tropen nicht mit dem Faktum konfrontiert

wird, daß Wasser bei Null Grad Celsius zu Eis gefriert, so hatten bis

zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Forscher tatäschlich keine Er-

fahrungen mit der Formel E = mc2 sammeln können. Diese Bezeich-

nung bringt, wie wir sie heute verstehen, zum Ausdruck. daß sich

Energie in Masse verwandeln kann (und Masse in Energie).

Von zahlreichen Chemikern war schon im 19. Jahrhundert die Frage

diskutiert worden, ob nicht doch - im Widerspruch zu dem auf LAVOI-

SIER zurückgehenden Satz von der Erhaltung der Masse - bei chemi-

schen Reaktionen Gewichtsveränderungen auftreten. LOTHAR MEYER

hielt es 1872 für möglich, daß bei der Umgruppierung der Atome wäh-

rend der chemischen Reaktion eine Anzahl von (ponderablen) Licht-

und Ätherteilchen entweichen beziehungsweise neu gebunden wer-

den. In engstem Zusammenhang damit stand die wichtige Frage nach

der Konstanz des Atomgewichtes,

Von 1890 an beschäftigte sich fast zwanzig Jahre lang der Physiko-

chemikcr HANS LANDOLT mit der experimentellen Prüfung dieser Fra-

  1. Für seine Versuche verwendete er n-förmige Gefäße, füllte in die

beiden Schenkel die miteinander umzusetzenden Lösungen, schmolz

das Gefäß zu und wog mit größtmöglicher Genauigkeit. Durch Um-

drehen des Gefäßes wurde die Lösung gemischt, zur Reaktion ge-

bracht und danach erneut genauestens gewogen: „Das Schlußresultat

der ganzen Arbeit ist“, so stellte LANDOLT 1909 fest, „daß bei allen

vorgenommenen chemischen Umsetzungen eine Änderung des Ge-

samtgewichtes der Körper sich nicht hat feststellen lassen … Die ex-

perimentelle Prüfung des Gesetzes der Erhaltung der Masse (kann

wohl) als erledigt gelten."

Das Ergebnis war also eine Bestätigung der alten Überzeugung. EIN-

STEIN aber wußte, daß auch bei chemischen Reaktionen - seiner For-

mel gemäß - die Masse keineswegs einc Konstante war; nur blieben

die Massenänderungen weit unterhalb des Meßbaren. Wo gab es Vor-

gänge. bei denen sich die Massenänderungen bemerkbar machen kön-

nen? Und gab es überhaupt solche Vorgänge? Die EINSTEINsche For-

mel bringt zum Ausdruck, daß mit Energicändcrungen eines Systems

Massenänderungen auftreten. Aber unter welchen Bedingungen der

Energieumsatz so groß wird, daß die Veränderung der Masse meßbar

wird, darüber sagt die Formel nichts.

 

38

Die berühmte Arbeit Einsteins in den “Annalen der Physik”, Band 18 (1906),

Seite 639 bis 641, in der zum ersten mal der Schluß auf die Aquivalenz von

Masse und Energie gezogen wurde.

 

38

Seite aus Einsteins Veröffentlichung von 1907, in der erstmals

die Formel E=mc2 explizit dargestellt ist.

 

39

Zwei Jahre zuvor hatte PIERRE CURIE die Wärmemenge gemessen, die

ein Gramm Radium pro Stunde abgibt, war auf bemerkenswert

hohe Werte gekommen. „Es ist nicht ausgeschlossen", schrieb EIN-

STEIN hoffnungsvoll, „daß bei Körpern, deren Energieinhalt in hohem

Maße veränderlich ist (zum Beispiel bei den Radiumsalzen), eine Prü-

fung der Theorie gelingen wird.“ Schon 1905 also richtete EINSTEIN

seine Aufmerksamkeit auf Prozesse, bei denen der Energieumsatz be-

sonders hohe Werte annimmt. Es ging ihm damals freilich nur darum,

eine experimentelle Bestätigung seiner Formel zu finden.

1907 schrieb EINSTEIN: „Ob die Methode mit Erfolg angewendet wer-

den kann, hängt in erster Linie davon ab, ob es radioaktive Reaktionen

gibt, für welche (M-Summe m)/M nicht allzu klein gegen l ist.“ Als Maß für

die Stabilität des Atomkernes spielt heute diese Größe f der relative

Massendefekt » eine wichtige Rolle in der Kernphysik, aber ebenso

bei den technischen Anwendungen in Atomreaktor und Atombombe.

Mit der experimentellen Bestätigung dauerte es freilich noch eine gute

Weile. Bisher war die radioaktive Forschung die Sache einiger weniger

Pioniere, und das Gebiet schien weder recht in die Chemie noch in die

Physik zu gehören. „Ich habe mir das Thomsonsche Laboratorium

genau angesehen“, berichtete der Würzburger Physik-Ordinarius

WILHELM WIEN 1904 von einer Reise nach Cambridge: „Man ist dort

sehr tätig, namentlich in den neuen Erscheinungen der Radioaktivität,

und ich habe den Eindruck gewonnen, daß wir in Deutschland gerade

auf diesem Gebiet etwas zuriückgeblieben sind. Ich werde sehen, daß

wir auch bci uns dieses Arbeitsgebiet mehr pflegen." Tatsächlich

wurde die radioaktive Forschung auch bald in Deutschland in größe-

rem Umfang betrieben. Das aber kam nicht durch eine bewußte Steue-

rung, sondern lief gleichsam automatisch nach dem Gesetz. nach dem

sich Wissenschaft selbst entfaltet.

Ein junger Chemiker namens OTTO HAHN hatte 1902 bei THEODOR

ZINCKE in Marburg promoviert und zwar, wie es sich für einen recht-

schaffenen Chemiker gehörte, auf organischem Gebiet. Die deutsche

chemische Industrie besaß die führende Position auf dem Weltmarkt:

mit Recht führte man das auf die Spitzenstellung in der Forschung zuf

rück. So stand die Industrie in enger Verbindung mit den Hochschulin-

stituten. Wenn ein Chemiker gebraucht wurde, so fragte man einen

befreundeten Ordinarius.

ZINCKE hatte allen Anlaß, seinen tüchtigen und sympathischen Assi-

stenten zu loben. Auch dem Direktor der Chemischen Werke Kalle &

Co. in Biebrich bei Wiesbaden gefiel der junge Mann - und so schien

alles den üblichen und richtigen Gang zu gehen. An der Ausbildung

fehlte offenbar nichts als die Auslandserfahrung. „Professor ZINCKE

riet mir“, berichtete HAHN„,zunächst ein halbes Jahr nach London

zu gehen. wo ich vielleicht bei dem berühmten Entdecker der Edelga-

se, Sir WLLIAM RAMSAY, einen Arbeitsplatz finden würde. ZINCKE

fragte RAMSAY, ob er einen seiner Schiiler für einige Zeit imUniversity

College aufnehmen wolle, und RAMSAY antwortete, ich möge kom-

men. So reiste ich im Herbst 1904 nach zweijähriger Assistenten-

tätigkeit nach London, “

WILLIAM RAMSAY aber gab dem jungen Chemiker ein Thema aus der

Radioaktivität, und dieses faszinierende Naturphänomen ließ HAHN

39

nicht mehr los. Die Radioaktivität ist eine Eigenschaft, die nur einige

Wenige, besonders schwere Atome besitzen wie etwa Uran, Thorium

und Radium.

Diese Atome senden eine Strahlung aus und verwandeln sich dabei in

Nachbarelemente. So ist das am genauesten erforschte Radium ein so-

genannter Alpha-Strahler, das heißt, es schleudert Heliumkerne aus und

geht dabei in Radiumemanation (das Edelgas „Radon“) über. Man

führte später, um solche Prozesse zu beschreiben, eine eigene Formel-

sprache ein:

226Ra = 222Em+4He

  88          86         2

Links steht der Ausgangskern, rechts schreibt man die Folgeprodukte

Die Symbolik ist also den chemischen Reaktionsgleichungen nachge-

bildet.

Die Aufgabe, die OTTO HAHN von WILLIAM RAMSAY gestellt war, laute-

te: aus einer Probe von etwa 100 Gramm Bariumchlorid das Radium

zu gewinnen. Barium und Radium sind ähnliche Elemente, beide ste-

hen in der Gruppe der Erdalkalien. Wenn man die vorhandenen phy-

sikalischen und chemischen Unterschiede bestmöglichst ausnutzt, so

gelingt die Trennung. Radium löst sich etwas schlechter als Barium

(das heißt das Löslichkeitsprodukt“ ist kleiner). Beim Auskristalli-

sieren fällt Radium (etwa als Sulfat) stärker aus, freilich immer zu-

sammen mit Barium. Unterbricht mati aber den Vorgang und löst er

neut, so erhält man nach vielfacher Wiederholung dieser sogenannten

„fraktioniertcn Kristallisation“ eine deutliche Anreicherung von Ra-

dium.

Dieses schon von MARIE CURIE bei der ersten Darstellung des Elemen-

tes angewandte Verfahren benutzte nun auch OTTO HAHN: „Sehr bald

stellte sich heraus“, berichtete er. „daß in dem für Radium (und Ba-

rium) gehaltenen Präparat noch eine andere radioaktive Substanz

enthalten sein müsse.“ Diese radioaktive Substanz hatte die Eigene

schaft, in die kurzlebige „Emanation des Thoriums überzugehen“ (wir

sagen heute: in das Radonisotop 220), OTTO HAHN schloß richtig, daß

es sich um ein Umwandlungsprodukt des Thoriums handeln müsse

und nannte den neuen Körper “Radiothorium“.

Dies war ein wunderbarer Erfolg für den Anfänger. Man sprach von

der Entdeckung eines „neuen Elementes“. Heute drücken wir uns an-

ders aus: OTTO HAHN hat ein neues Isotop des Thoriums entdeckt, das

Isotop mit der Massenzahl 228. Voller Begeisterung schrieb WILLIAM

RAMSAY (in seinem nicht ganz sicheren Deutsch) an EMIL FISCHER, den

großen und einflußreichen Berliner Chemiker: „Ich bin sehr frappiert

gewesen über die Kühnheit, Geschicklichkeit und Ausdauer von DR.

HAHN … HAHN hat in München. auch bei ZINCKE in Marburg studiert.

Er möchte habilitieren, und ich glaube. es wäre gut, wenn er dasselbe

bei Ihnen macht. Wäre es möglich. daß er in Ihrem Laboratorium wäh-

rend ein paar Jahren arbeitet? Er ist ein netter Kerl, bescheiden, ganz

zu vertrauen und hoch begabt; und er ist mir sehr lıcb geworden. Er ist

und will Deutscher bleiben; und er ist mit allen Untersuchungsmetho-

den der Radioaktivität vertraut ... Ich weiß. daß Sie Ihr Laboratorium

so vielseitig wie möglich machen wollen; haben Sie eine Ecke für ihn?“

40

Wie schon 1901 HAHNs Doktorvater THEODOR ZINCK in Marburg. so

war nun WILLIAM RAMSAY ganz begeistert von den Fähigkeiten des

jungen Wissensehaftlers. Dabei war das Abiturzeugnis nur mittelmä-

ßig bis schlecht gewesen. Hatten ihn die Lehrer falsch eingeschätzt?

Erfahrungsgemäß spiegeln die Abiturzeugnisse sehr gut die intellek-

tuellen Fähigkeiten. OTTO HAHN war mit der Beurteilung (in der

Mehrzahl der Fälle mit nur „befriedigend“ bis “ausreichend“) durch-

aus richtig erfaßt. Private Briefe, die OTTO HAHN im höheren Alter an

seine Frau geschrieben hat und die nun veröffentlicht sind, zeigen,

daß er sich des geistigen Abstandes zu manchen Freunden und Kolle-

gen (zum Beispiel zu MAX VON LAUE) ganz bewußt war. „Wie könnte

ich über LEIBNIZ, NEWTON oder über Naturphilosophie oder derglei-

chen vortragen? Das können die anderen alle. Die lesen die Arbeiten

unter Umständen noch im lateinischen Urtext.“

Aber OTTO HAHN muß andererseits doch eine Qualität besessen ha-

ben, die mit einer bloß intellektuellen Beurteilung nicht erfaßt wird.

Vielleicht läßt sich diese mit „Sauberkeit und Ehrlichkeit“ umschrei-

ben.

Gemeint dabei ist die Fähigkeit zu genauer Unterscheidung zwischen

dem tatsächlich Bewiesenen und dem nur plausibel Gemachten. Diese

Qualität hat mit dem Verstand zu tun, aber noch mehr mit dem Cha-

rakter. Wie leicht ist es, sich selbst zu täuschen, wenn man ein be-

stimmtes Ergebnis erwartet! Von Anfang an widerstand OTTO HAHN

40

dieser Versuchung. In seinem Charakter war kein Platz dafür.

Eine Geschichte, die dies illustriert, trug sich noch in London zu, nach

der glücklichen Entdeckung des Radiothors: „Zur Abscheidung und

Messung des aktiven Niederschlags meiner Thorpräparate machte ich

gelegentlich einen Schwefelwasscrstoffniederschlag. Es fiel mir auf,

daß ich bei der Wiederholung dieser Reaktion nach einiger Zeit immer

wieder den Hauch eines Niederschlags bekam ... Als ich RAMSAY

diese Beobachtung erzählte, meinte er, ,that's a new stuff' … Er

schlug vor, in der Royal Society eine kurze Mitteilung zu machen.“

HAHN lehnte die Ehre ab; er war sich seiner Sache nicht sicher. Nach

einer Weile stellte sich heraus, daß es sich im wahrsten Sinne des Wor-

tes um einen „Dreckeffekt“ handelte. Der „Niederschlag“ war Staub

und Rost. der von der eisernen Decke herabgefallen war.

Bevor HAHN, von RAMSAY empfohlen, zu EMIL FISCHER nach Berlin

ging, arbeitete er noch cin dreiviertel Jahr bei RUTHERFORD in Montre-

  1. ERNEST RUTHERFORD war, mehr noch als MADAME CURIE, der große

Pionier auf dem neuen Gebiet. Bei ihm lernte HAHN vor allem die phy-

sikalischen Methoden. Im Herbst 1906 erhielt HAHN im Chemischen

Institut der Universität Berlin ein eigenes kleines Laboratorium. Es

lag im Erdgeschoß, und weil sich dort die Schreinerei des Institutes be-

funden hatte, hieß es weiterhin „die Holzwerkstatt“. Das Angebot der

Firma Kalle in Wiesbaden-Biebrich schlug er aus. Die Entscheidung

für die Wissenschaft war gefallen.

40

Montreal 1906: Ernest Rutherford (unten rechts) mit seinen Mitarbeitern; links hinter ihm Otto Hahn.

41

Im gleichen Jahr begann er Tagebuch zu führen. Vierzig Jahre lang hat

er die wichtigsten Ereignisse des Tages notiert. Das war eine unschätz-

bare Hilfe für die Arbeit, und ist heute eine unschätzbare Hilfe für den

Historiker. So wissen wir es auf den Tag genau: Am 28. November

1907 trafen OTTO HAHN und LISE MEITNER einander zum ersten Male.

An diesem 28. November begann eine mehr als 30 Jahre währende

fruchtbare Zusammenarbeit. die erst durch das Einwirken politischer

Umstände beendet werden sollte. Zwar gab es auch zwischen OTTO

HAHN und LISE MEITNER gelegentliche Mißstimmungen, und zwar ge-

rade wegen der politischen Ereignisse, aber im Grunde blieben beide

einander freundschaftlich zugetan und verbunden.

Es war nicht leicht für LISE MEITNER, einen Arbeitsplatz zu erhalten.

OTTO HAHN war ja selbst nur „Gast“ im Chemischen Institut. Geheim-

rat EMIL FISCHER hielt nichts vom Frauenstudium, noch weniger von

der Tätigkeit der Frau in der Wissenschaft. Da EMIL FISCHER aber ein

gutherziger Mann war und sich zudem MAX PLANCK persönlich ein-

schaltete, so wurde eine Ausnahme gemacht. Fräulein Dr. MEITNER

bekam einen Platz in der „Holzwerkstatt”, durfte aber, weiß der

Himmel warum, die oberen Experimentiersäle der Studenten nicht

betreten. Vielleicht befürchtete der Geheimrat, daß LISE MEITNER

seine Studenten zu sehr verwirren würde. Übel sah sie ja gewiß nicht

aus. Aber die ersten Frauen in der Wissenschaft konnten sich in der

Männerwelt nur durch betonte Sachlichkeit behaupten.

„Von Gemeinsamkeiten zwischen uns, außerhalb des Institutes,

konnte keine Rede sein“, erzählte OTTO HAHN. „LISE MEITNER hatte

noch ganz die Erziehung einer höheren Tochter genossen, war sehr zu-

rückhaltend und fast scheu. Während ich mit meinem Kollegen

FRANZ FISCHER täglich zu Mittag aß, und wir an Samstagen

und später auch mittwochs noch ins Kaffeehaus gingen, habe ich mit LISE MEITNER

viele Jahre lang außerberuflich nie zusammen gegessen. Wir sind auch

nicht gemeinsam spazierengegangen. Abgesehen von physikalischen

Kolloquien begegneten wir einander nur in der ,Holzwerkstatt.“

Als er dies am Ende seines Lebens berichtete, hatte er wohl im Au-

genblick nicht mehr daran gedacht, daß er auch im Hause von

MAX PLANCK mit LISE MEITNER zusammentraf. Aber bei diesen Musikaben-

den waren so viele Physiker anwesend und so viele junge Damen, daß

wohl kaum Gelegenheit bestand, mit der Kollegin mehr als ein paar

Begrüßungsworte zu wechseln.

„In der ,Holzwerkstatt ‘”, so der Bericht HAHNS, „haben wir meist bis

kurz vor 8 Uhr gearbeitet. so daß mal der eine, mal der andere in die

Nachbarschaft laufen mußte, um schnell noch Aufschnitt und Käse zu

kaufen, denn um 8 Uhr schlossen die Läden. Niemals wurde das Ein-

gekaufte gemeinsam verzehrt. LISE MEITNER ging nach Hause, und ich

ging nach Hause. Dabei waren wir doch herzlich miteinander befreun-

det.“

Auch LISE MEITNER hat später öfter von ihren unbeschwerten Arbeits-

jahren in der „Holzwerkstatt“ erzählt: „Wenn unsere eigene Arbeit

gut ging, sangen wir zweistimmig, meistens Brahmslieder, wobei ich

nur Summen konnte, während HAHN eine sehr gute Singstimme hatte.

Zu den jungen Kollegen am nahegelegenen Physikalischen Institut

hatten wir menschlich und wissenschaftlich ein sehr gutes Verhältnis.

 

41

Karte von Lise Meitner an Otto  Hahn vom 28. September 1957: Erinnerung an

die Zusammenarbeit, die fünfzig Jahre zuvor begonnen hatte. Wie sie es als „hö-

here Tochter” in der Kaiserzeit gelernt hatte, sandte sie dem Kollegen und Freund

ein Goethe-Gedicht.

 

41

Sie kamen uns öfters besuchen. und es konnte passieren, daß sie durch

das Fenster der ,Holzwerkstatt hereintstiegen, statt den üblichen Weg

zu nehmen. Kurz, wir waren jung, vergnügt und sorglos, vielleicht poli-

tisch zu sorglos."

Jedenfalls waren sie fleißig. OTTO HAHN klärte zu einem wesentlichen

Teil die Thorium-Zerfallsreihe Wie er schon lange vermutet hatte:

Zwischen dem Thorium (Isotop 232) und dem Radiothorium (Tho-

rium 228) stehen als Zwischenprodukte Mesothoriurn 1 (Radium 228)

und Mesothorium 2 (Actinium 228). Heute schreiben wir:

           Alpha                      Beta

232Th    =      228Ms Th1    =     228Ms Th2

  90                  88                          89   

 

Beta            Alpha              Alpha

= 228Rd Th     =  224ThX   =  220Rn

      90                     80                 86

 

(Die Zerfallsreihe geht von der zuletzt angeschriebenen kurzlebigen

Thoriumemanation weiter bis zum Blei 208.)

Deutlich verschieden in ihren radioaktiven Eigenschaften waren Tho-

rium und Radiothor. Das „eigentliche“ Thorium ist sehr langlebig (so

daß es HAHN zunächst als strahlungslos angesehen hatte), während das

Radiothor eine Halbwertzeit von knapp zwei Jahren besitzt. Trotzdem

gelang es HAHN nicht, die beiden so deutlich verschiedenen „Elemen-

te“ chemisch voneinander zu trennen.

Dasselbe geschah ihm bei Radium und Mesothorium 1. Er dachte „an

eine so nahe chemische Ähnlichkeit. wie man sie bei einigen seltenen

Erden beobachtet hatte, deren Reinherstellung ja zahlreicher fraktio-

nierter Kristallisationen unter ganz bestimmten Bedingungen be-

durfte.“

 

42

Eine der vielen gemeinsamen Veröffentlichung von Otto Hahn und Lise Meitner: In der Physikalischen Zeitschrift Band 18, 1917, gaben sie die Entdeckung des Elementes Nr. 91 bekannt, das sie “Protactinium” nannten. Auf der rechten Seite: Bibliothek des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Chemie (1913). Zu sehen sind die Direktoren Ernst Otto Beckmann und Richard Willstätter (vorne) und der Leiter der kleinen “radioaktiven Abteilung” Otto Hahn mit seiner Mitarbeiterin Lise Meitner (rechts im Hintergrund).

 

43

In Wirklichkeit lagen hier nicht verschiedene „Elemente“ vor, son-

dern Verschiedene Isotope gleicher Elemente. Erst im Jahre 1912

entwickelte NIELS BOHR die Vorstellung „elektronisch identischer“

Elemente, Publiziert wurde dieser Gedanke ein Jahr später von FRE-

DERICK SODDY, der auch den Begriff des Isotops prägte.

Heute drückt man die Verhältnisse einfach so aus: Die Zahl der Pro-

tonen im Atomkern (und damit die Zahl der Elektronen in der Hülle

des neutralen Atoms) bestimmt die chemischen Eigenschaften. Diffe-

rieren kann die Zahl der Neutronen im Kern.

So waren also die von HAHN entdeckten Körper (Radiothor, Mesotho-

rium 1 und Mesothorium 2) keine „Elemente“ in unserem Sinne, son-

dern „nur“ Isotope bereits bekannter Elemente. 1917 gelang es ihm

aber doch noch, zusammen mit LISE MEITNER wirkliches Element

zu entdecken: Nämlich das Element Nr. 91, das sie Protactinium nannten.

LISE MEITNER beschäftigte sich in den Jahren vor dern Ersten Welt-

krieg mit den Eigenschaften der Beta-Strahlen. Unter den radioaktiven

Atomen gibt es zwei Sorten: Die einen senden Alpha-Strahlen aus (He-

lium-Atomkerne), die anderen Beta-Strahlen (Elektronen). Die Eigen-

schaften der Beta-Strahlen waren sehr viel schwerer zu fassen, und es

dauerte Jahrzehnte, bis LISE MEITNER im Dialog mit anderen Arbeits-

gruppen Klarheit gewann.

 

44

Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem. Hier arbeitete Otto Hahn vom Tag der Einweihung 1912 an bis zum Tag der Zerstörung 1944. Lise Meitner mußte 1938 das Institut verlassen und in die Emigration gehen.

 

ENDE VI

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