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EIN REBELLISCHER MÖNCH 38-48

2017. november 22. 16:48 - RózsaSá

Luther wurde bald schon von den Humanisten ebenfalls für einen
solchen gehalten. Aber war er wirklich einer? Jedenfalls stand
er während seines Studiums an der Universität Erfurt unter humanistischem
Einfluss, und es ist nicht bekannt, dass er sich dagegen
gewehrt hätte. Im Gegenteil. Von den an der Uni gelernten Methoden
der Textanalyse macht er nun fleißig Gebrauch auf seiner Wittenberger
Turmstube. Er tut dort, was Humanisten tun: Er geht zurück zu
den Quellen. In seinem Fall: zum Alten Testament, zum Neuen Tes-
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tament, zu den Schriften des Augustinus und des Aristoteles, den er
nicht mag. Aber er muss sich trotzdem mit ihm auseinandersetzen,
will herausfinden, warum er ihn nicht mag.
Aber vor allem will er das Bild, das die Bibel von Gott zeichnet,
rekonstruieren und es mit dem Bild vergleichen, das die Kirche von
ihm zeichnet. Das aber tut er nicht nur, wie die Humanisten, aus reiner
Neugier und Forscherdrang, sondern aus existenzieller Not. Ihm
geht es nicht primär um Bildung, schon gar nicht um eine romantisierende
Verehrung der Antike – ihm geht’s um Hölle, Tod und Teufel.
Ihm geht’s ums ewige Leben und das Heil seiner eigenen Seele.
Daher nähert er sich seiner Quelle mit größtem religiösen Respekt,
zugleich aber mit der unbekümmert forschenden Neugier der
Humanisten. Er weiß: Eigentlich hatte Gott verboten, sich ein Bild
von ihm zu machen. Andererseits haben schon die Autoren der Bibel
eine Fülle sprachlicher Gottesbilder benutzt. Diese ergänzen, widersprechen
und korrigieren einander. Man findet in der Bibel den
zornigen Gott, der sich rachsüchtig, unheimlich, cholerisch, ungerecht
gibt, der sogar mordet und wie ein Despot zur Willkür-Herrschaft
neigt. Man findet aber auch den anderen Gott, einen gnädigen,
liebenden, zärtlichen, treu sorgenden, barmherzigen Vatergott, der
geradezu vernarrt ist in seine Geschöpfe.
Was stimmt denn nun?
Um sich in den verwirrenden Gottesbildern zurechtzufinden, geht
der mittelalterliche Luther sehr neuzeitlich vor. Er isoliert ein einzelnes
Problem und versucht zunächst, dieses zu lösen. Daher konzentriert
er sich ganz auf die eine Frage, ob der Gott der Bibel tatsächlich
so ungerecht ist, dass er alle verdammt. Und ob es wirklich wahr ist,
dass man ihn mit guten Werken besänftigen und sich damit seine
Planstelle im Himmel sichern kann.
Beim Versuch, darauf eine Antwort zu finden, bleibt er immer
wieder an dem rätselhaften Pauluswort hängen, das von jener Gerechtigkeit
handelt, »die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in
Glauben«. Noch einmal und noch einmal liest Luther, was der Apostel
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Paulus über Gottes Gerechtigkeit sagt. Auch die Schriften des Augustinus
zieht er zurate. Dazu einen weiteren, deutlicheren Vers weiter
hinten im Römerbrief: »So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht
werde ohne des Gesetzes Werke, durch den Glauben.« (Römer
3,28)
Eigentlich steht da die Lösung schon: »… ohne des Gesetzes Werke,
allein durch den Glauben.« Obwohl: Dieses »allein« steht nicht
dabei im Original. Luther wird es später eigenmächtig einsetzen, und
in allen Lutherbibeln wird das Wörtchen bis auf den heutigen Tag
immer dabeistehen. Aber noch traut er sich das nicht, denn derselbe
Paulus schreibt an die Galater, auf »den Glauben, der durch die Liebe
tätig ist«, komme es an (Galater 5,6). Tätige Liebe, also doch wieder
die »Werke«, irgendwie. Und ganz eindeutig steht es im Jakobusbrief
(2,14): »Was hilft’s, liebe Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben,
und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen?
Und ein paar Verse weiter kommt die Antwort: »So seht ihr nun, dass
der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein.«
(Jakobus 2,24)
Eindeutiger kann man es nicht mehr sagen. Ohne gute Werke
geht es nicht.
Trotzdem zweifelt Luther. Und man bedenke: Es ist jetzt nicht
mehr irgendein Text einer kirchlichen Amtsautorität, sondern die
Heilige Schrift, an der er zweifelt. Oder genauer: Es ist der Jakobusbrief,
dessen Weisheit er bezweifelt. Er spricht es noch nicht aus. Erst
später wird er tatsächlich den Jakobusbrief als »nicht wirklich apostolisch
« abtun, aber jetzt, in seiner Klosterzelle, bahnt sich an, was
er später tun wird. Im radikalen Nachdenken über die Bibel tut der
mittelalterliche Luther, was er von den neuzeitlichen Humanisten
gelernt hat: Er betreibt Textkritik. Er nimmt sich die Freiheit, die
unantastbare Heilige Schrift zu relativieren, indem er fragt: Könnte
es sein, dass manche Bibelworte mehr Gewicht haben als andere, weil
sie das Ganze der Bibel, dessen Geist, besser zusammenfassen als weniger
wichtige Texte?
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In dem Moment, in dem einer so fragt, ist die Heilige Schrift nicht
mehr der unantastbare Text, der als fertiges »Wort Gottes« vom Himmel
gefallen ist, sondern ein von Menschen geschriebenes Werk. Und
waren es auch die Urväter, Propheten und Apostel, die da geschrieben
haben, so waren es doch Menschen, fehlbare Menschen. Warum also
sollte man jedes ihrer Wörtchen als nicht zu hinterfragen hinnehmen?
Ein gefährlicher Gedanke. Schnell kann zum Ketzer werden
und auf dem Scheiterhaufen landen, wer es wagt, selbstständig an
allem Gedachten und verbindlich Gelehrten vorbeizudenken. Luther
riskiert es und bahnt damit der neuzeitlich-wissenschaftlichen Erforschung
der Bibel und des Glaubens den Weg.
Der kritische Luther nimmt tatsächlich den Jakobus-Text weniger
ernst als den Paulus-Text. Er spürt, dass Jakobus das eigentliche
Problem gar nicht erkannt und darum an ihm vorbeigeschrieben hat.
Dass ein Christ gute Werke tun sollte, ja, geschenkt, dagegen ist ja
nichts einzuwenden. Aber, so weiß Luther längst, gute Werke sind
nicht das, was Gott eigentlich will, sondern gute Menschen will er.
Und ein Mensch wird nicht schon dadurch gut, dass er gute Werke
tut. Gute Werke tun kann auch der Böse. Jedes gute Werk kann
für böse Zwecke instrumentalisiert werden. Und einer, der das tut,
kommt gewiss nicht in den Himmel. Aber auch der, der gute Werke
nur deshalb tut, damit er in den Himmel kommt, der also anderen
hilft, um sich selbst zu helfen, wird von Gott durchschaut.
Nein, das Herz muss gut sein.
Das aber ist böse von Jugend auf. Steht so in der Bibel (1. Mose
8,21). Steht auch wieder bei Paulus im Römerbrief: »Wollen habe ich
wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das
ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, tue
ich« (Römer 7,18f.). Stimmt.
Wir werden so geboren. Kaum dass wir auf der Welt sind, schreien
wir schon und benehmen uns, als ob wir der Nabel der Welt seien und
diese dazu da sei, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, und zwar alle,
sofort. Deshalb werden wir anschließend durch Dressur und Erzie-
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hung so »abgerichtet«, dass wir die Existenz anderer Weltnabel und
deren Maßlosigkeit zur Kenntnis nehmen, uns mit deren Ansprüchen
abfinden, einander besänftigen durch gute Werke und gute Worte,
mindestens versuchen, einigermaßen sozialverträglich miteinander
auszukommen, uns an die Gesetze zu halten, und wenn nicht, muss
halt die Polizei einschreiten.
Wie könnte so ein Nabel der Welt – und mag er auf noch so viele
gute Werke verweisen können – je vor Gott bestehen? Wir halten uns
an Regeln und Gesetze, nicht weil wir gut sind, sondern weil wir mit
dem Verstand eingesehen haben, dass die Regeln gut sind für alle, es
sogar von Vorteil sein kann, nicht immer nur an sich zu denken, und
ein Regelverstoß, bei dem man ertappt wird, meist nachteilige Folgen
hat.
Das Herz muss gut sein, aber es kann gar nicht anders, als böse
sein, und wir können es nicht ändern. Wie kann Gott uns dafür bestrafen?
Darüber zermartert sich Luther auf seiner Turmstube über Jahre
das Hirn, und irgendwann, vermutlich um das Jahr 1517, vielleicht
auch etwas später, kommt die Erleuchtung. Luther wird von dem Gefühl
überwältigt, die Antwort auf all seine Fragen plötzlich gefunden
zu haben: Gott weiß das doch alles. Er weiß, dass wir nicht aus eigener
Kraft und durch eigene Willensanstrengung gut werden können. Genau
deshalb hat er seinen eigenen Sohn für uns geopfert und mit diesem
Opfer für alle Zukunft all die Sünden getilgt, die unserem bösen
Herz entspringen. Ein Vater, der seinen Sohn opfert für andere – gibt
es einen größeren Liebesbeweis? Dieser eine Beweis macht alles zunichte,
was sonst noch in der Bibel über Gott als zornigen Rächer und
Despoten steht. Ein Gott, der so etwas tut, muss ein liebender Gott
sein, der sich um jede einzelne Menschenseele sorgt. Dieser liebende
Gott löst das Problem der menschlichen Unfähigkeit zum Guten, indem
er einfach barmherzig darüber hinwegsieht, und darum ist sein
Interesse an der Frage, was so ein Menschenkind auf Erden an religiösen
Leistungen vollbracht hat, sehr gering, ja eigentlich gleich null.
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Daher ist das Einzige, was ein Mensch jetzt noch tun muss, dieses
Geschenk anzunehmen. Wer es annimmt, wird zwar nicht gut werden,
aber wie neugeboren sein und deshalb mit den anderen Neugeborenen
zusammen eine Welt errichten, in der das Schlechte, das aus
dem immer noch bösen Herz kommt, in Gutes verwandelt wird. Und
wer so lebt, der glaubt, und der Glaube macht ihn gerecht.
Ganz so hat es Luther nicht gesagt. Aber so lautet heute – 500 Jahre
danach – die Übersetzung des Lutherworts »Wir sind gerechtfertigt
durch den Glauben« in unsere Sprache.
Ob Luther die Tragweite dieser scheinbar kleinen Korrektur am
offiziellen Gottesbild gleich erkannt hat, darf bezweifelt werden. Zwar
wusste er, dass er mit dieser Korrektur der offiziellen Lehre widerspricht,
aber er dachte, die Kirche werde sich über seinen theologischen
Erkenntnisfortschritt freuen, denn er bedeutet eine sehr gute
Nachricht für die ganze Christenheit.
Doch die gute Nachricht enthielt eine ziemlich schlechte Nachricht
für den Papst und seine Bischöfe. Das haben diese vermutlich
schneller verstanden als Luther, denn dessen reformatorische Entdeckung
hatte eine unvermeidliche Nebenwirkung: Die Priester, die
sich als Mittler zwischen Gott und die Menschen gedrängt hatten, um
den Menschen die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen, werden überflüssig,
wenn es genügt, einfach nur das Geschenk Gottes anzunehmen.
Und die Bedeutung der Heiligen einschließlich der Jungfrau Maria
sinkt.
Wer braucht noch deren Fürsprache bei Gott, wenn dieser den
wahrhaft Glaubenden schon freigesprochen hat?
Nebenbei hat Luther damit auch noch der Pilger-, Reise-, Wallfahrts-
und Reliquienbranche einen sehr empfindlichen Schlag versetzt.
Der von Gott bedingungslos angenommene Mensch hat es
nicht mehr nötig, von einem Wallfahrtsort zum nächsten zu pilgern
und dort viel Geld zu lassen für die Besichtigung von Wunderorten
und Reliquienschreinen, den Kauf heils- und gesundheitsfördernder
Devotionalien, die Stiftung von Kerzen und die Dienste des Hotel-
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und Gastronomiegewerbes. Einem wesentlichen Teil des päpstlichen
Religionsbusiness hat Luther die Geschäftsgrundlage entzogen.
Wie immer, wenn etwas Großes passiert, bilden sich Legenden drum
herum. Auch um diese »Rechtfertigung allein aus Glauben« entsteht
eine Geschichte, und es ist der Geschichtenerzähler Luther selbst,
der daraus ein legendäres Ereignis machte: In seinem Turm-Studierzimmer
habe ihn blitzartig, wie durch göttliche Eingebung, die neue,
bahnbrechende Erkenntnis durchzuckt, dass wir keiner guten Werke
bedürfen, weil Gott uns schon längst so angenommen hat, wie
wir sind, in all unserer Sünd- und Fehlerhaftigkeit und Bosheit und
Schwäche.
Im Turm also. In seiner Gelehrtenstube. Wie der Blitz. Wieder
ein Blitz. Die plötzlich im Turm aufblitzende Wahrheit, also Luthers
»Turmerlebnis«, führte zur »reformatorischen Wende«. Große Worte.
Geht’s auch eine Nummer kleiner?
Nun, vielleicht war’s ja doch eher auf dem Klo. Ein geistiger
Durchbruch während eines Durchfalls. Luther selbst in seiner unbändigen
Fabulier- und Provozierlust hatte einmal die Aufmerksamkeit
auch auf diese Variante gelenkt: »Diese Kunst hat mir der Heilige
Geist auff dieser cloaca auff dem thorm eingeben.«9
Gegner wie Anhänger haben das begierig aufgegriffen – »die einen,
um die Reformation als Kloakentheologie zu verspotten; die anderen
in andächtiger Verehrung als »das Turmerlebnis«.10
Turm, Klo, Blitz – wie es wirklich war, und wann genau das eigentlich
gewesen sein sollte, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren
und bleibt eine Herausforderung für Kirchengeschichtler und
Lutherforscher. Vom Blitz in Stotternheim konnte Luther das Jahr
und den Tag nennen, an dem es geschah. Vom Blitz im »thorm« gibt
es kein Datum, weshalb die Lutherforscher annehmen, dass das mit
der plötzlichen Erleuchtung im Turm vielleicht doch auch wieder
eine dieser typischen Geschichten ist, die Luther nur deshalb so erzählt
hat, weil sich eine Blitz-Geschichte nun mal besser erzählt und
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einprägt als die Geschichte eines langwierigen Erkenntnisprozesses.
Die Wahrheit, meinen Lutherforscher, liege aber trotzdem eher in
der Geschichte von der allmählichen Verfestigung eines neuen Gedankens
als in der Geschichte einer blitzartigen göttlichen Eingebung.
Die Lutherforscher tun sich auch schwer mit der Datierung. Die
einen vermuten, schon zwischen 1511 und 1513 habe Luther seine
reformatorische Entdeckung gemacht, andere verlegen den Zeitraum
auf die Jahre 1515 bis 1519. Aber: Hätte Luther den souveränen Furor,
mit dem er gegen das Ablass-Geschäft wetterte und seine 95 Thesen
veröffentlichte, ohne »Turmerlebnis« schon gehabt? Vielleicht
war ihm die Tragweite seiner Erkenntnis nicht sofort bewusst, und es
musste erst ein Tetzel kommen, um ihm bewusst zu machen, was er
da in seiner Turmstube ausgebrütet hatte. Daher spricht doch manches
für das Jahr 1517.
Aber ist das so wichtig? Egal, wie es zu dem neuen Gedanken kam –
als er da war, hat er eingeschlagen wie der Blitz. Und das erlaubt es,
weiterhin vom »Turmerlebnis« oder der »reformatorischen Wende«
zu sprechen.
Als Luther begriffen hatte, welches Licht ihm aufgegangen war,
hatte er erkannt: Der Begriff »Gottes Gerechtigkeit« ist wie eine Kippfigur,
die zwei sich ergänzende Bilder in sich vereint. Bisher hat man
in all den Jahrhunderten immer nur das eine Bild gesehen, das Bild
vom strengen Richter, der gute und böse Taten und Gedanken gegeneinander
aufwiegt. Lohn oder Strafe nach Verdienst und Leistung.
Aber jetzt kippt das Bild, und Luther sieht verblüfft etwas völlig
Neues, was zwar schon immer da war, aber bisher eben noch von niemandem
gesehen wurde. Jetzt sieht der Mann in der Turmstube: »Der
Gerechte lebt aus Glauben.« Und das bedeutet: Wer glaubt, ist freigesprochen.
Lohn ohne eigene Leistung und Verdienst.
Damit hat Luther dem rätselhaften Paulus-Wort einen neuen Sinn
abgetrotzt, und wenn er diesen jetzt auf das Wort anwendet, kann er
es besser, »sinngemäßer« übersetzen. Dann lautet der Satz: »So hal-
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ten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes
Werke, allein durch den Glauben.«
So einfach soll das sein? Einerseits: Ja, so einfach ist das. Im Prinzip.
Andererseits: Wenn man genauer hinsieht, ist es so einfach auch
wieder nicht. Was Glaube eigentlich ist, wie man zu diesem Glauben
kommt, wie er sich auf die praktische Lebensführung auswirkt, das
sind andere Fragen, die Luther in seinem weiteren Leben noch in
starke Widersprüche verwickeln werden, die er mit einem Feuerwerk
paradoxer Behauptungen zu kontern versucht.
Aber ab ungefähr dem Jahr 1517 steht zunächst einmal Luthers
Entdeckung eines neuen Gottesbildes im Vordergrund. Das war mehr
als die Lösung irgendeines theologischen Problems. Für Luther war
es die Er-lösung. Seine verzweifelte Angst vor dem Zorn Gottes hatte
ein Ende. Seine religiösen Höchstleistungen, die ihn bis an die Grenze
seiner körperlichen und seelischen Belastbarkeit brachten und
dennoch nie genügten, waren überflüssig. Als ihm das aufging, habe
er sich »völlig neu geboren« gefühlt. Ihm war, als ob er »durch die
geöffneten Pforten des Paradieses selbst eingetreten« sei.
Glücklich, befreit, nun besessen von dem Drang, die ganze Welt
an seiner Freude teilhaben zu lassen, verlässt er seine Turmstube,
geht hinaus und predigt allen, die ihm zuhören: Hört auf mit eurer
frommen Selbstoptimierung. Die Sorge um euer Seelenheil ist unbegründet.
Beendet eure religiöse Hochleistungsturnerei und nutzt
die dadurch gewonnene Energie, um die Welt zu gestalten und zum
Guten zu verändern.
Jetzt ändert Bruder Martinus seinen Namen. Jetzt will er nicht
mehr Luder heißen, sondern Luther, was von Eleutherius kommt
und »der Befreite« heißt. Ab jetzt hat Luther keine Angst mehr. Und
den anderen, die diese Angst noch haben, wird er sie nehmen.
Es ist heute fast nicht mehr zu begreifen, wie sich aus solch einer
Frage nach dem gnädigen Gott und der gefundenen Antwort darauf so
umwälzende Entwicklungen ergeben konnten, die noch immer nach-
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wirken und die gesamte weitere Geschichte bis auf den heutigen Tag
beeinflussen und es weiter tun werden. Auch der Bruder Martinus
hatte es zunächst nicht gleich begriffen. Eleutherius, der Befreite,
wird aber nun recht bald in eine lokale Angelegenheit verwickelt werden,
auf die er ganz naiv einfach seine taufrische Erkenntnis anwendet.
Und entzündet damit ein Feuer, das ganz Europa erfassen wird.
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Wie alles anfing
Das Feuer wäre vermutlich nie entbrannt, wenn zu Luthers Turmerlebnis
nicht ein zweites, eher geringfügiges Erlebnis hinzugekommen
wäre: das Beichtstuhl-Erlebnis. Ohne dieses Zweite wäre Luther
zwar der Urheber einer geistesgeschichtlich bedeutsamen Erkenntnis
gewesen, aber sehr wahrscheinlich nicht zum Reformator geworden.
Dieses Zweite ereignet sich an einigen Tagen im Jahr 1517 im
Beichtstuhl der Wittenberger Stadtkirche. Dort nimmt Luther den
Wittenbergern die Beichte ab.
Einige Beichtende, deren Zahl im Jahr 1517 rasant steigt, kommen
mit amtlichen Bescheinigungen zu ihm und meinen, die Beichte
eigentlich gar nicht mehr nötig zu haben, denn der Papst selbst habe
ihnen schon längst alle Sünden erlassen. Auf so einem Schein steht
beispielsweise:
Wir tun kraft der uns verliehenen Gewalt durch diesen Brief kund
und zu wissen, dass der M. Menner von dem von ihm verübten Totschlag
freigesprochen ist. Wir befehlen allen und jedem Einzelnen,
kirchlichen Amtspersonen und Laien, dass niemand diesen M. Menner
irgendwie wegen dieses Totschlages anklage, verurteile oder verdamme.
Kostenpunkt: 7 Dukaten.11 Unterschrift: der Papst.
Ein Ablassbrief. Gekauft von einem Totschläger. Erworben vom
Dominikanermönch Johann Tetzel. Tatsächlich unterschrieben vom
Papst.
Luther weiß: Der Papst sammelt mit diesen Ablassverkäufen Geld
für den Bau des Petersdoms. Die Ablasspraxis der Kirche gibt es schon
lange. Dagegen gibt es nichts einzuwenden, denkt Luther, der damals
noch ein sehr frommer, ziemlich gehorsamer und eifriger Diener seiner
Kirche war.
Aber: Sieben Dukaten für einen Totschlag? Straffreiheit nicht
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nur im Himmel, sondern schon auf Erden, und das alles ohne einen
Hauch von Reue und Buße? Einen Dom zur Ehre Gottes mit Blutgeld
erbauen?
Es kommt noch schlimmer. Die Beichtenden sehen keinerlei Anlass
zur Reue und zu dem Versprechen, ihre Untaten künftig zu unterlassen,
denn davon war bei diesem Deal nie die Rede. Wenn es also
dem Herrn Menner künftig einfällt, noch jemanden zu erschlagen,
dann spart er eben so lange, bis er wieder sieben Dukaten zusammenhat,
und schreitet zur nächsten Tat.
Es wird aus jener Zeit auch berichtet, Räuber hätten dem Tetzel
für wenig Geld Ablassbriefe für Diebstahl und Raub abgekauft, und
ihn hinterher – mit dessen Freibrief in der Hand – überfallen und ihm
die prall gefüllte Kasse abgenommen. Ein glänzendes Geschäft. Wissenschaftlich
belegt ist das aber so wenig, wie die Erzählung, Tetzel
habe für seine Ablassbriefe marktschreierisch mit dem Spruch geworben:
»Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele (aus dem Fegefeuer)
in den Himmel springt!«
Zwar zirkulierte dieser Spruch im ganzen Land, aber manche sagen,
so originell sei Tetzel nicht gewesen, und schreiben Luther die
Urheberschaft zu, der damit das System des Ablasshandels mit einem
einzigen Satz erklärt hatte. Verbürgt jedoch ist, dass Tetzel einmal
geprahlt haben soll, vom Papst persönlich so viel Gewalt und Gnade
bekommen zu haben, dass er sogar jemandem vergeben könnte, der
die Heilige Jungfrau vergewaltigte.
Nicht nur das eigene Sündenkonto konnte durch Geld entschuldet
werden, sondern auch das der verstorbenen Angehörigen. Dadurch
verkürzte sich deren Aufenthaltsdauer im Fegefeuer. Nach
kirchlicher Lehre kamen nur Heilige sogleich nach ihrem Tod in
den Himmel. Normal Sterbliche jedoch mussten erst im Fegefeuer
schmerzhaft von ihren Sünden »weiß gebrannt« werden, ehe sie mit
»weißer Weste« durch die Himmelspforte schlüpfen durften. Und
der Aufenthalt im Feuer dauerte umso länger, je schwärzer die Weste
war.
49
Auch bei diesem Deal erwies sich Tetzel als äußerst rührig und
geschäftstüchtig, und es war Luther selbst, der schimpfend erzählte,
wie skrupellos der Mönch an das Gewissen der Leute appellierte, um
an deren Geld zu kommen: »Der Tetzel machte es zu grob mit dem
Ablass, denn er war so unverschämt zu predigen: Siehe deine Mutter
an, wie sie von den Flammen des Fegefeuers gequält wird! Und das
leidet sie nur deinetwegen, weil du zu geizig bist, ihr mit einem Groschen
zu Hilfe kommen.«12
Das ganze Ablasswesen samt Fegefeuer wird Luther erst etliche
Jahre später auf den Abfallhaufen für religiöse Irrtümer werfen. Jetzt
aber, im Jahr 1517, wo er zum ersten Mal von diesem Tetzel hört, regt
ihn vor allem dessen Marktschreierei auf. Und dass der Sündenerlass
nicht mehr an die Bedingung von Reue und Buße geknüpft wird,
gefällt ihm gar nicht. Am meisten aber quält Luther der Betrug an
seinen Schäflein. Die zahlen Geld für ein Produkt, das gar nicht funktioniert,
aber marschieren im Vertrauen darauf, dass ihre Sünden vergeben
seien, geradewegs in die Hölle. Also: Nicht die Ablasspraxis kritisiert
Luther, sondern nur deren Missbrauch. Er wähnt sich in dieser
Kritik in Übereinstimmung mit dem Papst, der diese Praxis, wenn er
davon wüsste, gewiss unterbinden würde, denkt Luther.
Seinen Schäflein im Beichtstuhl sagt er: Sündenvergebung ohne
Reue und Buße, aber mit Geld – das wird Gott nicht anerkennen.
Das wird ein böses Erwachen geben, wenn ihr einst vor eurem Richter
steht und er euch das Konto mit den Sünden zeigt, von denen
ihr gedacht hattet, sie seien getilgt. Deshalb weigert Luther sich, die
Beichtenden von ihren Sünden freizusprechen und mahnt sie eindringlich,
diesem Tetzel nichts abzukaufen.
Daraufhin gehen diese ins benachbarte Brandenburg nach Jüterbog
oder Magdeburg, wo Tetzel die Ablässe verkauft. Und natürlich
erzählen sie ihm, was Luther ihnen gesagt hat. Und damit nimmt die
Geschichte nun ihren Lauf.
Tetzel wütet und tobt. Seit mehr als zehn Jahren schon betreibt
er im Auftrag des Papstes sein Ablassgeschäft, und noch nie hat es

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