lich Luther. Martin aber wirft 'beide Arme in die Luft und lacht und
schreit: »Ich bin hindurch! Ich bin hindurchl«
Ja, er war hindurch, insofern er der Erste war, der auf dem Reichs-
tag in Worms einfach eine grundlegend neue Spielregel in die Welt
setzte und danach spielte. Was künftig gelten soll, so lautet nun die
neue Regel, muss einen Grund in der Bibel haben, vor der allgemein
menschlichen Vernunft Bestand haben und von dem Gewissen eines
jeden Einzelnen verantwortet werden können. Und wenn diese drei
Bedingungen nicht erfüllt sind, dann können Kaiser, Papst und Kon-
zilien beschließen, was sie wollen, es hat für einen freien Christen-
menschen keine Gültigkeit mehr.
Damit, so wird gesagt, habe Luther das Tor zur Neuzeit aufgesto-
ßen. Deshalb sei er einer der Wegbereiter der Aufklärung gewesen.
Ganz so einfach war es aber auch wieder nicht. Zwar hört es sich
tatsächlich sehr neuzeitlich an, wenn sich einer im 16. Jahrhundert
auf Vernunft und Gewissen beruft, aber im Falle Luthers wird dabei
etwas Entscheidendes überhört: Stets hat er sich auf ein im Wort Got-
tes gefangenes Gewissen berufen, nie auf ein autonomes. Und auch
die Vernunft ließ Luther nur gelten, wenn sie in der Schrift wurzelte.
Auf diese ›>Krücken« - Gott und die Schrift- meinten die späte-
ren Aufklärer getrost verzichten zu können. Luther wäre da-
mit wohl kaum einverstanden gewesen.
Wenn es auch übertrieben ist, zu sagen, Luther habe das
Tor zur Neuzeit aufgestoßen: Die Klinke gedrückt und um
einen Spalt geöffnet, das hat er getan. Hindurchgegangen ist
er selber nie. Hindurchgegangen ist er durch die Versuchung,
sein Leben zu retten durch Widerruf. Hindurchgegangen ist
er durch das Feuer innerer Zweifel und Ängste, durch Ring-
kämpfe mit den Mächten dieser Welt und durch Kämpfe um die Wahrheit. Und nun denkt er: Sollen sie mich doch verbrennen, der Ertrag meiner Kämpfe wird bleiben.
Ein Fürst versteckt seinen Untertan vor Papst und Kaiser
Luther war nun also ››durch<<. Die Welt aber war es noch lange nicht.
Die Kirche sowieso nicht. Zwar war klar: Er ist des Todes. Aber wird
danach wieder Ruhe einkehren im Land?
Aus der Rückschau lautet die Antwort: Egal, ob wir ihn umbrin-
gen oder weiter gewähren lassen - es ist vorbei. So oder so haben wir
jetzt so eben den Anfang vom Ende der Alleinherrschaft von Papst
und Kirche erlebt. Das wird allenfalls unter Inkaufnahme von viel Ge-
walt und Blutvergießen noch rückgängig zu machen Sem
Für die damals Lebenden war das aber keineswegs so deutlich zu
erkennen. Zu erahnen war allenfalls: Wenn sie Luther umbringen,
wird es ein Pyrrhussieg sein für die Kirche. Sie haben dann zwar ihn
umgebracht, nicht aber seine neue Lehre. Die ist nun da, und den
Glauben an eine Idee kann man zwar unterdrücken, bestrafen, behin-
dern, wo immer es geht, und man kann auch die Gläubigen umbrin-
gen, aber die Idee wird weiterleben, und wer wird bereit sein, mas-
senhaftes Blutvergießen um der reinen katholischen Lehre willen zu
verantworten?
Man könnte auch den Druckereien im Reich verbieten, Luthers
Schriften weiter zu drucken, aber das erfordert einen hohen Aufwand
an Kontrolle. Und wenn außerhalb des Reichs nachgedruckt wird, ist
man machtlos.
Nein, es war zu Ende. Nur wahrhaben wollte das damals in Rom
niemand. Man glaubte, wieder so weitermachen zu können wie bis-
her, wenn das Ärgernis Luther erst mal aus der Welt sei. Das war ein
Irrtum, an dem die römische Kirche noch lange festhielt, und der
dann tatsächlich ein Jahrhundert später dazu beigetragen hat, dass
Ströme von Blut flossen.
95 In ganz Europa begann nun ein schmerzhafter Lernprozess, nicht
nur für die Anhänger Roms, auch für die Anhänger Luthers und so-
gar für Luther selbst, denn es gab nun ein Problem: Wenn es keine
oberste Instanz mehr gibt, die im Konfliktfall entscheidet, was gut,
wahr und richtig ist, wie soll man sich dann noch auf verbindliche
Wahrheiten einigen können? Was tun, wenn verschiedene einzelne
Gewissen trotz ihrer Bindung an Gott zu verschiedenen Ergebnis-
sen kommen? Und das sollte schon bald der Fall sein: dass Luthers
Anhänger zu anderen Schlüssen kamen als Luther und einander alle
widersprachen.
Luther wird dieses Problem bis zu seinem Tod nicht lösen kön-
nen, aber auch seine Nachfolger nicht. Eine Lösung kann es auch
nicht geben in einer Gemeinschaft, die für sich eine letzte Instanz
und oberste Autorität nicht gelten lässt. Daher müssen die Menschen
seit der Reformation reif werden für die Erkenntnis, dass die einzige
absolute Wahrheit, die es nun noch gibt, lautet, dass es keine abso-
lute Wahrheit gibt. Und wenn es sie aber dennoch geben sollte, dann
kennen wir sie nicht, und wer behauptet, in ihrem Besitz zu sein, irrt
sehr wahrscheinlich. Sollte er aber nicht irren, hätte das für die Welt
und alle anderen so lange keine Bedeutung, solange es ihm nicht ge-
lingt, den Rest der Welt von seiner Wahrheit zu überzeugen. Er muss
dann eben damit leben, dass die anderen seiner Meinung nach irren,
das darf er auch sagen, nur eines darf er nicht: Seine eigene Wahrheit
für absolut erklären und keine andere mehr gelten lassen. Und schon
gar nicht darf er seine eigene Wahrheit mit Gewalt gegen alle anderen
durchsetzen.
Der Weg zu dieser Einsicht war in den Jahrhunderten nach Luther
mit erbitterten Auseinandersetzungen, tödlichen Feindschaften, Or-
gien von Gewalt und Strömen von Blut begleitet. Er mündete schließ-
lich in das Grundrecht der Religionsfreiheit und im weltanschaulich
neutralen Staat, der dafür zu sorgen hat, dass keine Religionsgemein-
schaft allen anderen ihren Willen aufzwingt und die eigene Religion
über alle anderen stellt. Der Prozess ist noch nicht zu Ende, wird
9898 seine formelle Entlassung warten. Er bekam sie am 25. April nach-
mittags. In dem Entlassungsschreiben wurde er angewiesen, sich
binnen 21 Tagen an seinen Wohnort zu begeben und ››unterwegen
nicht predigen, schreiben, noch in andere wege das volk regig (zu)
machen<<.31 Die kaiserliche Zusage auf freies Geleit hatte also Bestand.
Zumindest diese Sorge wurde Luthers Sympathisanten genommen.
Die Gesetze hatten aber ebenfalls noch Bestand, und darum muss-
te der Kaiser nun tun, wozu er verpflichtet war: die Reichsacht über
Luther verhängen. Das geschah noch in Worms am 8. Mai, wurde aber erst am 24. Mai öffentlich verlesen und am 26. Mai von Kaiser Karl unterschrieben. Es ging als »Wormser Edikt« in die Geschichte ein, und darin stand über Luther, dass niemand den Ketzer beherbergen,
versorgen, verstecken oder ihm irgendeine Hilfe leisten dürfe, son-
dern jedermann verpflichtet sei, ihn zu ergreifen oder zu denunzieren
und in kaiserlichen Gewahrsam zu überführen. Jeder, der Luther un-
terstützt oder ihm anhängt, verfällt ebenfalls der Reichsacht.
Seine Schriften sind zu verbrennen oder sonstwie zu vernichten.
Anonyme Publikationen und alle dem katholischen Glauben wider-
sprechenden Druckerzeugnisse sind verboten, ebenso ihr Besitz und
deren weitere Verbreitung. Neue Schriften, die den Glauben betref-
fen, dürfen nur nach einer Prüfung des zuständigen Ortsbischofs und
der nächstgelegenen theologischen Fakultät gedruckt werden. Aber
auch andere Veröffentlichungen sollen nur mit Wissen und Willen
des Bischofs erscheinen dürfen.
Da war er also, der zum Scheitern verurteilte Versuch, das Rad
der Geschichte in die Zeit vor Luther zurückzudrehen. Die Drucker
ignorierten einfach das Wormser Edikt und druckten Weiter. Die Käu-
fer der Drucke ignorierten es ebenfalls und kauften einfach weiter
Luthers Schriften. Sehr viele Menschen im Reich interpretierten das
Edikt als Dokument des höchsten Unrechts, ja als Eingeständnis des
Scheiterns von Kaiser und Papst, denn diese hatten sich als unfähig
erwiesen, den kleinen Bettelmönch mithilfe der Schrift und der Ver-
nunft zu widerlegen. Also musste er im Recht sein.
99 So wurde aus dem Geächteten ein Held, der, von Lucas Cranach
entsprechend gemalt, gezeichnet, in Kupfer und in Holz gestochen
wurde. Rasch kursierte das Bild von Luther, wie er sich auf dem
Reichstag in Worms, tapfer und standhaft dem Kaiser und Papst wı-
dersetzt.
Aber viele fragten sich bang: Was wird jetzt aus ihm? Wıe konnen
wir ihn schützen?
Er war längst in Sicherheit. Sein treuer Kurfürst hatte wieder
einmal vorgesorgt und dem Ganzen eine neue abenteuerliche Wen-
dung gegeben. Auf der Rückreise von Worms nach Wittenberg hat er
Luthers Wagen am 4. Mai nahe der Burg Altenstein in Thüringen von
Reitern überfallen und Luther entführen lassen. Die Reiter trennten
ihn von seinen übrigen Begleitern und brachten ihn auf die Wartburg
im Thüringer Wald bei Eisenach. Die zurückgebliebenen - und nicht
eingeweihten - Mitreisenden erzählten anschließend schockiert von
dem Überfall, und bald glaubte alle Welt, Luther sei nach diesem
Überfall ermordet worden. _
Genau das hatte der Kurfürst mit seinem Manöver beabsichtigt.
Nicht nur das Volk, sondern vor allem der Klerus in Rom sollte glau-
ben, Luther sei tot, damit man sich in Rom beruhige, ablenke und
aufhöre, nach Luthers Verbleib zu fragen und dessen Auslieferung zu
fordern. _
Wie gut der Plan aufging, zeigte sich an der Klage des prominen-
ten Luther-Verehrers Albrecht Dürer: »O Gott, ist Luther tot, wer
wird uns hinfürt das heilig Evangelium so klar fürtragen! Ach Gott,
was hätt er uns noch in 10 oder 20 Jahrn schreiben mögen! O ihr alle
fromme Christenmenschen, helft mir fleißig beweinen diesen gott-
geistigen Menschen und ihn bitten, daß er uns ein andern erleuchten
Mann send.<<32
Luther blieb nun zehn Monate auf der Wartburg, Friedrich wurde
tatsächlich von Rom in Ruhe gelassen, aber nun zeigte sich: Luther
mag tot sein, aber seine Ideen leben. Der totgeglaubte Luther war weı-
terhin imstande, für Aufruhr zu sorgen im ganzen Land, mit seinen
A frei herumvagabundierenden Gedanken, Schriften, Bildnissen. Alles, was er bis zu diesem Zeitpunkt schon geschrieben hatte, verbreitete
sich wie von selbst weiter, jetzt, nach seinem Auftritt in Worms, noch
schneller in noch höheren Auflagen - was für Luther den großen Vor-
teil hatte, dass er sich nun in aller Ruhe ganz auf seinen nächsten
Coup konzentrieren konnte.
101 XI. Die Erfindung der deutschen Sprache durch Junker Jörg
Nur wenige Menschen leben in den verfallenen Gemäuern der Wart-
burg. Und von den wenigen weiß nur einer, Burghauptmann Hans
von Berlepsch, dass »Junker Jörg«, der neue Gast, der sich da auf unbestimmte Zeit einrichtet, Martin Luther ist. Der lässt sich jetzt die
Haare und einen Bart wachsen, damit bald nichts mehr an den Mönch
Luther erinnert. Der Burghauptmann, sorgfältig instruiert von Kurfürst Friedrich, erwöhnt seinen 38-jährigen Zwangsgast mit erlesenen Speisen und Getränken und lehrt ihn Reiten, Fechten und Jagen. Das Gerücht, dass Luther tot sei, will der Kurfürst so lange wie möglich nähren.Deshalb sollten so wenig Menschen wie möglich Umgang mit Luther haben, und so wenig Menschen wie möglich wissen, dass er tatsächlich noch am Leben sei.
Luther ist über diese Zwangsinternierung nicht gerade glücklich,
so richtig unangenehm ist sie ihm auch nicht. Immerhin be-
er sich an einem sicheren Ort. Außerdem ist ihm die Stadt
der Burg, Eisenach, ein Erinnerungsort, denn hier verbrachte
Wichtige Jahre seines Lebens. Von 1498 bis 1501 besuchte er die
Lateinschule St. Georgen. Hier verdiente sich Luther sei-
Lebensunterhalt als Kurrende-Sänger - wie später auch Johann
Bach, der berühmteste Eisenacher.“
Aber vor allem kann er sich jetzt weitgehend ungestört von äuße-
Eilnflüssen wieder auf seine theologische und schriftstellerische
Afbâit konzentrieren. Im Obergeschoss des Vogteigebäudes hat Ber-
låpåch ihm eine Studierstube einrichten lassen. Dort pflegt er seine
Wêitverzweigte Korrespondenz. So spricht sich, zumindest unter je-
nen lšlmtcweilitieıi. mit denen Luther korrespondiert, doch allmäh-
102lich herum, dass er am Leben ist, wenngleich er die meisten Adressa-
ten über seinen Aufenthaltsort im Unklaren lässt.
Anfangs verfasst Luther Traktate über die Beichte, das Mönchs-
wesen und die heilige Messe. Dann aber beginnt er eine Arbeit, die
Eisenach und die Wartburg bis heute zu einem Erinnerungsort für
alle Deutschen, alle evangelischen Christen, ja eigentlich alle Chris-
ten überhaupt macht. Ende 1521 wagt er sich an die Übersetzung der
Bibel ins Deutsche.
Sie ist das Buch, das für ihn nie einfach nur Handwerkszeug, son-
dern immer schon die einzig gültige Quelle des Glaubens gewesen
ist. »Erstmals im Alter von 20 Jahren hatte Luther in der Erfurter
Universitätsbibliothek eine vollständige Bibel gesehen, sogleich in ihr
gelesen« 34 und seitdem nicht mehr aufgehört, sie zu studieren. Bald
schon kannte er sich in ihr besser aus als die meisten seiner theolo-
gischen Zeitgenossen.
Aus der Bibel erhoffte sich Luther Antworten auf Lebensfragen
für sich und für alle Menschen. Und er hat diese Antworten ja auch
gefunden, vor allem die Hauptantwort, dass es keiner guten Wer-
ke bedürfe, um von Gott angenommen zu werden. Daher erschien
es Luther schon lange selbstverständlich, dass diese gute Botschaft
unverfälscht und für alle verständlich unters Volk gebracht werden
muss. Die ganze Christenheit sollte selbst in der Bibel lesen oder das
Vorgetragene zumindest verstehen, denn nicht jeder war des Lesens
kundig. Aber jeder konnte zuhören, wenn ein Lesekundiger aus der
Bibel vortrug. 1
Luther war nicht der Einzige und schon gar nicht der Erste, der
gefordert hatte, die Bibel zu übersetzen, damit sich jeder Christ unab-
hängig von der Kirche und den Priestern mit den Inhalten des Glau-
bens vertraut machen könne. Schon zweihundert Jahre vor ihm hat
ein bis heute Unbekannter eine beachtliche Übersetzung der Evange-
lientexte zustande gebracht, die heute unter dem Namen »Kloster-
neuburger Evangelienwerk« bekannt sind. Unter Experten wird der
Verfasser ›>ÖBü<< genannt- »Österreichischer Bibelübersetzer«. Man
103 weiß nicht, wie er heißt, welchen Beruf er hatte und was ihn zu seiner
Arbeit motivierte. Dass er in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in
dem damaligen Herzogtum Österreich gelebthat, schließt man aus
den Fundorten der überlieferten Kopien und den in den Schriften ge-
machten Zeit- und Ortsangaben.“
Wissenschaftler zählen bisher insgesamt 70 Übersetzungen von
Bibeltexten ins Deutsche vor der Veröffentlichung der Lutherbibel.
Von diesen Laienbibeln wurden 14 gedruckt, jedoch handelte es
sich stets nur um Bibelfragmente, für Laien schwer verständliche
Wort-für-Wort-Übertragungen der lateinischen Vulgata, die selbst
schon eine oft ungenaue Übersetzung aus dem griechischen Original
ist. Keine dieser in deutsche Dialekte übersetzten Bibeln schafft es,
die Botschaft der Heiligen Schrift wirklich ››rüberzubringen<<. Luther
erkennt sofort: Durch das Kleben am Wort haben die Übersetzer den
ursprünglichen Sinn des Textes mehr entstellt als wirklich übersetzt.
Statt Wort für Wort wollte Luther daher Sinn' für Sinn ins Deut-
sche übertragen. Aber was heißt schon ››Deutsch«? Es gibt »das Deut-
sche« ja noch gar nicht. Was es gibt, sind drei Varianten des Deut-
schen: das ››Oberdeutsche<< Bayerns, Frankens, Badens, Schwabens
und Österreichs; das ››Niederdeutsche« an Nord- und Ostsee, in Nie-
dersachsen und Westfalen; das ››Mitteldeutsche<< von Sachsen und
Thüringen über Hessen bis ins Rheinland. Im Norden wird kaum ver-
ßtarıden, was im Süden gesprochen wird, und umgekehrt.
Nur das Mitteldeutsche, die Sprache Luthers, wird auch einiger-
maßen in nördlicheren und südlicheren Landesteilen, also in einem
ijroßen geografischen Raum, verstanden. In dieser Schreibsprache
verständigen sich die Beamten der Fürsten mit den Beamten des Kai-
sers. Auch die Kaufleute bedienen sich dieser Sprache. So gesehen ist
es ein glücklicher Zufall, dass Luther im Mitteldeutschen angesiedelt
und mit dieser Kanzlei-Sprache vertraut ist. Sie bildet den Grundwort-
achatz für sein Bibelprojekt.
Daher beginnt Luther nun noch einmal ganz von vorn. Statt an
104die lateinische Vulgata hält er sich ans griechische Original und spä
ter -für die Übersetzung des Alten Testaments - ans hebräische. Aber
bei dem Versuch, den Sinn der griechischen Sätze in deutsche Sätze
zu gießen, gerät er mit seiner mitteldeutschen Kanzlei-Sprache im-
mer wieder an die Grenzen des Sagbaren. Sein Kanzlei-Deutsch taugt
allenfalls als Gerippe. Luther muss, um dem Gerippe eine Gestalt zu
geben, Fleisch und Blut hinzufügen. Aber woher nehmen?
In dieser Not entfaltet sich Luthers Sprachgenie. Auf der Suche
nach dem treffenden Wort geht er mit einer so leidenschaftlichenfAkribie vor, dass er dieses »Fleisch und Blut Hinzufügen« manchmal
'fast im wahrsten Sinne des Wortes betreibt, so zum Beispiel, als er die
im Alten Testament geschilderten Tieropfer zu verstehen versucht.
Er geht deshalb tatsächlich zu einem Metzger und lässt sich die In-
nereien eines Schafes zeigen und benennen und kommt so an einer
anderen Bibelstelle, einem Psalm, auf das Bild, etwas ››auf Herz und
Nieren«prüfen zu lassen. .
Luther gelingen viele solcher Bilder und Wortschöpfungen, die
bis heute im Deutschen in Gebrauch sind und so frisch wirken wie
am Tag ihrer Erfindung. Er ersinnt Ausdrücke wie Bluthund, _Barm-
herzigkeit, Bilderstürmer, Bosheit, Denkzettel, Gewissensbisse, Feu-
ereifer, Feuertaufe, Friedfertige, Glaubenskampf, Lästermaul, Lock-
vogel, Lückenbüßer, Machtwort, Morgenland, Nachteule, Ordnung,
Richtschnur, Rüstzeug, Schandfleck, Selbstverleugnung, Sicherheit,
Sündenbock, Verdammnis, Winkelprediger und Wortgezänk.
Wir verdanken Luther das »Buch mit sieben Siegeln«, den »Wolf
im Schafspelz« und den »großen Unbekannten«. Metaphern wie »Per-
len vor die Säue werfen<<, »die Zähne zusammenbeißen«, etwas »aus-
posaunen«, »im Dunkeln tappen«, »ein Herz und eine Seele sein«,
»auf Sand bauen« gehen ebenso auf Luther zurück wie »Wes des
Herz voll ist, des geht der Mund über«. Manchmal muss er tagelang
grübeln, um für ein griechisches Wort ein treffendes Wort im Deut-
schen zu finden, und wenn er trotz langen Grübelns nichts gefunden
hat, erfindet er eben ein Wort und übersetzt dann beispielsweise das
griechische ››proskairos« (unstet, vergänglich) mit »wetterwendisch«
oder .kommt auf Begriffe wie geistreich, gnadenreich, gottgefällig
oder kleingläubig.
Hier, bei dieser schwierigen Arbeit am Wort, kommt ihm nun
tatsächlich sein Klosteraufenthalt zugute, aber auch sein in Erfurt
erworbener Magister Artium. Nicht allein dass er hier die erste la-
teinische Bibel in die Hand bekommt und er das Lateinische immer
perfekter lernt, er gerät auch unter den Einfluss des Humanismus,
dessen neuer Geist die Erfurter Universität beherrscht. Deren »zu-
107 rück zu den Quellen« erforderte das Lernen von Griechisch, Hebrä-
isch und Latein - wie es noch bis heute auf den altsprachlichen hu-
manistischen Gymnasien der Brauch ist.
Luther` lernte daher von Anfang an Latein und danach Hebräisch.
Als er selber zu lehren begann und Vorlesungen über den Römer-,
Gtılater- und Hebräerbrief hielt, merkte er, dass er Griechisch können
ıoilte, und so brachte er es sich zwischen 1515 bis 1518 selber bei.
Danach hatte er einen neuen Mitarbeiter an seiner Seite, der im Lauf
der Jahre sein Freund und engster Berater wurde: der humanistisch
gebildete Philipp Melanchthon. Durch ihn lernte Luther das Griechi-
Iche immer besser, vor allem auf der Wartburg.
Zuvor schon, als er nicht nur Theologie-Vorlesungen zu halten
hatte, sondern auch sehr gefragt war als Prediger, hatte er regelmäßig
vor der Frage gestanden: Wie sage ich”s dem Volk? Was steht da in den
biblischen Urtexten, was ist die Botschaft, und in welche Worte muss
ich sie kleiden, damit der Bauer und die Marktfrau es verstehen?
Luther hatte also, als er sich auf der Wartburg an das große Vor-
haben der Bibelübersetzung wagte, schon sehr viel Übung darin, die
griechischen und hebräischen Urtexte so ins Deutsche zu übersetzen,
dass sie verstanden wurden. Er hatte diese Übung auch deshalb, weil
er nach einem sehr modernen Verfahren übersetzte, das er einmal
80 beschrieb: »Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateini-
schen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun,
sondern muss die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, den
flemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das
Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie
es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet«
Genau mit diesem Anspruch, also fast wie ein Journalist, hatte
er gepredigt, und genau so versucht er nun die Bibel zu übersetzen.
Aber nicht nur darin ist er sehr modern. Er ist es auch in seinem
Zweifel an den alten Autoritäten. Darum prüft er nach, was er nach- ~
prüfen kann. Wenn er sich von etwas selbst ein Bild machen kann,
luli cr's. Und vor allem: Er zieht andere zurate, Experten, die sich auf
108bestimmten Gebieten viel besser auskennen als er selbst. Er lässt sich
Edelsteine aus dem Besitz des Kurfürsten Friedrich auf die Wartburg'
bringen und sich die Namen erklären, um die in der Bibel genannten
Edelsteine richtig übersetzen zu können.
Einerseits nimmt er es also sehr genau mit seiner peniblen Ar-
beit an Wort und Sinn, denn die Schrift ist ihm heilig. Andererseits
erlaubt er sich auch große Freiheiten dort, wo er es für nötig hält.
Was ihm unwesentlich erscheint, lässt er weg. Da ist ihm nichts hei-
lig. Und natürlich liest er die ganze Bibel unter dem Eindruck seines
››Turmerlebnisses<< und seiner reformatorischen Entdeckung eines
neuen Gottesbildes. Genauso übersetzt er. Er lässt nicht nur weg, was
ihm unwichtig erscheint, er schreibt auch hinein, was nicht drin-
steht, ihm aber wichtig erscheint.
Katholische Kritiker werfen ihm daher vor, er habe den Bibeltext
an vielen Stellen verfälscht, zum Beispiel an jener berühmten Stel-
le des Römerbriefs, an der Luther seine reformatorische Entdeckung
festmacht (Römer 3,21-28). Dort steht: ››So halten wir nun dafür,
dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke durch den
Glauben.<<
Luther schmuggelt hier eigenmächtig das Wort ››allein« in den
Satz, sodass es in allen Lutherbibeln nun heißt: »So halten wir nun
dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein
durch den Glauben« (sola fide).
Und er steht dazu, antwortet seinen Kritikern selbstbewusst:
»Wahr ist's. Diese vier Buchstaben (sola) stehen nicht drinnen. Aber
wo man”s will klar und gewaltiglich verdeutschen, so gehöret es hi-
neln.<<
Modern ist Luther auch darin, dass er gern im Team arbeitet. Auf
seiner Burg und später wieder in Wittenberg versammelt er andere
Talente um sich, Menschen verschiedener Herkunft, um von deren
Wissen und Kenntnissen zu profitieren. Philipp Melanchthon, Pro-
fessor der griechischen Sprache und Kenner des Hebräischen, gehört
natürlich dazu. Johannes Bugenhagen, Professor an der Universität
109und Pfarrer an der Stadtkirche Wittenberg, ist der große ››Lateiner«
der Gruppe. Matthäus Aurogallus, Professor aus Wittenberg, ist der
»Hebräer<<. Georg Spalatin, hochgebildeter Humanist und Theolo-
ge, dient Luther als Verbindungsmann zu Friedrich dem Weisen. Die
Einzelnen Mitglieder des Teams sprechen niederbayerisch, böhmisch,
fränkisch und kurpfälzisch, haben in Heidelberg, Tübingen, Greifs-
wald, Leipzig und Erfurt studiert und gearbeitet. So bringt jeder seine
annschaftliche Sprachfärbung in die Arbeit am Bibeltext mit
lin, und Luther erhält beständig Anregungen für die schwierige Ar-
des Übersetzens.
Trotzdem bringen sie, wie Luther einmal klagt, manchmal in vier
kaum drei Zeilen zustande. Die Übersetzungsarbeit gerät ihm
oft zu einer rechten Qual. Dabei litt er nach eigenem Bekunden häu-
flß unter Visionen. »Tausend Teufeln bin ich au`sgesetzt«, schrieb er.
Aus solchen Erzählungen über sein Ringen ums richtige Wort wird
Gin Ringen mit dem Teufel, und aus seiner Aussage, er habe den Teu-
fel mit Tinte vertrieben, entsteht wieder eine Lutherlegende: die Ge-
lchíchte, dass Luther ein Tintenfässchen auf den Teufel geworfen
habe. Den Tintenfleck habe man lange an der Wand sehen können.
Das stimmt. Bilder zeigen den Fleck, Schriftzeugnisse berichten
davon. Dumm nur, dass die ältesten Zeugnisse dieser Art aus der Zeit
um 1-650 stammen, also rund ein Jahrhundert nach Luthers Tod. Der
Fleck, der nun an der Wand wirklich zu sehen war, ist irgendwann
aufgemalt und ein halbes Dutzend Mal nachgemält oder~an neuer
Stelle angebracht worden. Manch ein Besucher der Lutherstube be-
flhügte sich nicht damit, ihn anzufassen, sondern kratzte gleich ein
Stückchen ab, um ihn als Reliquie mit nach Hause tragen zu können.
Trotz teuflischer Störungen und gelegentlicher Fortschritte im
Schneckentempo ist die Übersetzung des Neuen Testaments ins Deut-
ßche in der Rekordzeit von nur elf Wochen fertig. Ende Februar 1522
packt Luther seine Sachen, reist nach Wittenberg mit dem Neuen
Teßlament im Gepäck, aber lässt es nicht gleich drucken, sondern von
Mcliınchthon noch einmal gründlich überarbeiten. Pünktlich zur
110Leipziger Messe, die es schon seit dem 12. Jahrhundert gibt, erscheint
im September 1522 die erste, in wenigen Wochen vergriffene Auflage
von 3 000 Exemplaren.“ Diese ››Septemberbibek< ist so rasch ausver-
kauft, dass ihr drei Monate später die nächste Auflage folgt. Bald wird
sie auf den Kanzeln zitiert, im Schulunterricht verwendet, als Volks-
buch geschätzt.
Illustriert ist das Werk mit Bildern aus der Werkstatt des Refor-
mations-Propagandisten Lucas Cranach, von dem schon zahlrei-
che Luther-Bilder in Umlauf sind, auch Bilder vom Junker Jörg auf
der Wartburg. Anderthalb Jahrzehnte nach der ersten Auflage sind
200 000 Stück verkauft. Luther stand mit seinem Wunsch, sich selbst
davon zu überzeugen, was wirklich in der Bibel steht, nicht mehr al-
lein. Die Zahl der verkauften Bibeln zeigt, dass sich zahlreiche seiner
Zeitgenossen ebenfalls nicht mehr mit dem begnügen wollten, was
ihnen die Priester erzählten.
Luther kehrt nie mehr auf die Wartburg zurück und arbeitet
jetzt in Wittenberg an der Übersetzung des Alten Testaments. Dafür
braucht er, weil er sich nun wieder um vieles andere kümmern muss,
wesentlich länger. Es dauert bis zum September 1534, also zwölf Jah-
re, bis erstmals die ganze Bibel auf Deutsch erscheint. Obwohl ihr
Erwerb sehr kostspielig ist- zwei Gulden und acht Groschen, der Mo-
natslohn eines Maurergesellen - findet die Lutherbibel reißenden Ab-
satz, wird ins Niederländische, Französische und Englische übersetzt
und auch in die skandinavischen und slawischen Sprachen. Einmal
erworben wird sie als Familienbibel von Generation zu Generation
weitervererbt.37
»Für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen möchte ich auch
dienen<<,38 soll Luther einmal gesagt haben. Dass er das wirklich getan
hat, davon sind, besonders in katholischen Kreisen, noch heute nicht
alle überzeugt. Aber eines wird man ihm nicht absprechen können:
Er hat den Deutschen die Sprache gegeben, die bis heute von der Ost-
see bis zu den Alpen gesprochen, verändert, verstanden wird.
Das allein macht ihn schon zu einer großen geschichtlichen
111 Figur, der das fast Unvermeidliche widerfährt, die Ironie der Geschich-
te: In den Jahrhunderten nach seinem Tod wird er, der Mann, der sich
gegen die katholische Heiligenverehrung ausgesprochen hatte, selbst
ßum Heiligen. Der Mann, der nichts von Pilgerreisen hielt, löst Pil-
auf die Wartburg aus. Der Schreibtisch des Mannes, der
den katholischen ››Reliquienkram« polemisierte, wird zur Re-
Splitter für Splitter brechen die Pilger aus dem Tisch. Manche
man könne Zahnschmerzen damit heilen, wenn man sich so
Span in den Mund steckt. Irgendwann ist so viel Holz heraus-
dass der ganze Tisch in sich zusammenfällt.39 Heute steht
Nachbildung dieses Tisches in der Lutherstube auf der Burg, in
das Neue Testament übersetzt und die deutsche Sprache erfun-
wurde. Nur der Walfisch-Wirbelknochen, 'der Luther als Fuß-
diente - vermutlich ein Geschenk Friedrichs des Weisen -
das einzig noch erhaltene Stück aus der Lutherstube.