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High tech vagy low tech? | öko-retro-bio-grín

FLASSBECK (DEUTSCH) 21-48

2018. július 08. 10:06 - RózsaSá

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überhaupt den Freihandel gibt, den die Liberalen beschwö-ren. Braucht man tatsächlich flexible Löhne und Preise, um den Herausforderungen der Globalisierung wirksam begegnen zu können? Und inwieweit überfordern uns heute tatsächlich die Sachverhalte, die unter dem Stich-wort der »Digitalisierung« diskutiert werden?

,Freihandel als Lösung?

Kaum ein Thema brachte in den letzten Jahren mehr Men-schen auf die Straße als TTIP, das geplante Freihandelsab-kommen zwischen den USA und der EU. Viele Menschen haben offenbar ein gutes Gespür dafür, dass bei solchen Abkommen wichtige Werte einer Ideologie geopfert wer-den. Auf der anderen Seite steht die große Mehrheit der Ökonomen, die »den Freihandel« mit Klauen und Zähnen verteidigt. Für sie ist der Freihandel absolut notwendig, da-mit die Wirtschaft effizient arbeitet.Wenn sich jedes Land, so die dahinterstehende Idee, auf die Herstellung der Gü-ter spezialisiert, die es am günstigsten produzieren kann, gewinnt die Welt insgesamt. Nichts ist den liberalen Ökonomen und Politikern so heilig wie der freie Handel. Er ist schließlich das Einzige, was die liberalen Ökonomen zur Erklärung des »Wohl-stands der Nationen« anzubieten haben. Diese »Theorie« basiert im Kern immer noch auf einer Doktrin, die der englische Ökonom David Ricardo vor 200 Jahren postu-liert hat. Damals befürchtete man, dass der freie Handel sogar schaden könnte, weil einige Länder in der Lage seien, alle handelbaren Produkte effizienter herzustellen. Um solche absolute Vorteile auszugleichen.

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müssten unterlegene Länder durch Protektionismus dafür sor gen; dass auch ihre Produzenten eine Überlebenschance hätten. Dagegen stellte David Ricardo sein berühmtes Prinzip; wonach es im internationalen Handel nicht auf die abso-luten, sondern auf die komparativen Vorteile ankomme. Wenn also, das ist ein Beispiel von Ricardo, in einem Land ein Produzent besonders gut Schuhe herstellt, ein Pro-duzent in einem anderen Land aber besonders effizient ist bei der Herstellung von Tuch, dann können die beiden selbst dann miteinander Handel treiben, wenn der Her-steller von Schuhen auch Tuch günstiger herstellen könn-te. Die Spezialisierung, also die Konzentration des Schuh-herstellers auf die Produktion von Schuhen und die des Tuchherstellers auf Tuch, würde für beide nach dem Aus-tausch ein insgesamt besseres Ergebnis erbringen. Schon dieses Beispiel zeigt, wie realitätsfern Ricardos Idee ist. Denn offenbar nimmt er an, dass der Schuster mit der Herstellung von Schuhen vollständig ausgelastet ist, so dass er gar nicht auf die Idee kommt, gleichzeitig Schuhe und Tuch zu produzieren. Es gibt aber in der wirklichen Welt keine voll ausgelastete Volkswirtschaft. Jeder wird, wenn er absolute Vorteile hat, alle Vorteile nutzen und sich nicht auf die Herstellung eines Produkts beschränken.

Zudem unterstellt Ricardo, dass — bei Vollbeschäfti-gung — die Entlohnung der Arbeitskräfte jederzeit und in allen beteiligten Ländern exakt die jeweilige Knappheit von Arbeit und Kapital widerspiegelt. Das ist eine weitere heroische Annahme. Für den internationalen Handel sind nämlich nominale Größen entscheidend, weil sie — zusam-men mit den Währungsrelationen — die für den Handel entscheidenden Preise bestimmen.

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Was passiert zum Beispiel, wenn, wie das sehr oft zu be-obachten ist, die Inflationsraten zwischen den Ländern weit auseinanderlaufen? Nehmen wir beispielsweise an, die Zuwächse der ausbezahlten Löhne in einem Land über-schritten den Produktivitätsfortschritt weit stärker als in einem anderen. Dann verteuern sich die Produkte des ers-ten Landes systematisch, und die Nachfrage nach diesen Produkten geht zurück, obwohl sich an den Knappheiten von Arbeit und Kapital nichts geändert hat bzw. beide vollkommen gleich sind. Es müsste dann zumindest einen funktionierenden Me-chanismus geben, der dafür sorgt, dass die weit auseinan-derlaufenden Preise und Löhne — in internationaler Wäh-rung gerechnet — ausgeglichen werden. Nun könnte man vermuten, dieser Mechanismus sei der Devisenmarkt. Die-se Vermutung ist jedoch falsch.Währungen sind heute zum Spielball von Spekulanten geworden und werden von ih-nen oft über Jahre in die vollkommen falsche Richtung getrieben, da sie Inflations- und Zinsdifferenzen in unter-schiedlichen Währungsräumen ausnutzen, um kurzfristi-ge Gewinne zu machen. Auf diese Weise werten die Wäh-rungen von Ländern mit hoher Inflation auf und die von Ländern mit niedriger Inflation ab, was genau das Gegen-teil dessen ist, was zum Handelsausgleich beitragen könn-te. Ricardos Verteidigung des Freihandels läuft also auch an dieser Stelle ins Leere. Damit aber nicht genug. Die neoklassische Theorie des internationalen Handels unterstellt zudem, dass Direktin-vestitionen (also die Verlagerung von Sachanlagen); die von Produzenten aus Ländern mit hoher Produktivität in Ländern mit niedriger Produktivität und niedrigen Löh-nen getätigt werden, jederzeit von den relativen Preisen

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von Arbeit und Kapital gelenkt werden. Man nimmt folg-lich an, dass der westliche -Produzent eines mobilen Tele-fonS, der seine Produktion nach China verlagert, für die Produktion in China eine völlig neue Technologie erfin-det, die wesentlich arbeitsintensiver als die zu Hause ver-wendete ist, um dem niedrigeren Preis von Arbeit in China Genüge zu tun. Diese Annahme ist nicht mehr fragwür-dig, sie ist lächerlich. Die neoklassische Gleichgewichtstheorie unterstellt, dass Unternehmen keinen Gewinn machen. Vor allem dürfen die Unternehmen in der neoklassischen Logik kei-nen Gewinn machen, der sich aus einem monopolisti-schen Vorsprung ergibt. Wenn also mobile Telefone in China produziert werden, dann wird nach dieser Vor-stellung die erfolgreiche westliche Technologie wegge-worfen, und man erfindet für China eine neue arbeitsin-tensivere Technologie. Mit der stellt man dann das gleiche Produkt in gleicher Qualität her und bietet es auf dem Weltmarkt genau zum gleichen Preis an. Damit verzichtet der Produzent — wiederum laut neo-klassischer Theorie — auf den Gewinn, den er gemacht hät-te, wenn er die höhere westliche Produktivität mit den niedrigeren chinesischen Löhnen kombiniert hätte. Dann hätte er nämlich seine Lohnstückkosten, also den Lohn pro Stunde, dividiert durch den (realen) Produktionswert pro Stünde, deutlich senken können. Diese Chance nimmt der Unternehmer jedoch nicht wahr, da er ja keinen »Ex-tra-Gewinn« machen darf. Direktinvestitionen haben heute so gewaltige Effekte, dass man zum Beispiel den chinesischen Handel in keiner Weise mehr mit dem Handel eines westlichen Industrie vergleichen kann Der chinesische Händel besteht

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nämlich zum großen Teil aus dem Handel mit Produkten westlicher Unternehmen, die ihren Standort in China ha-ben. Man schätzt, dass es sich bei sechzig bis siebzig Pro-zent der gesamten Exporte Chinas nicht um Exporte von chinesischen Unternehmen handelt, sondern um Exporte ausgelagerter westlicher Unternehmen. Dies zeigt, dass die klassische Begründung für den Freihandel nicht auf tö-nernen, sondern auf gar keinen Füßen steht. Daraus folgt, dass die gesamte Freihandelsideologie dieser Welt auf einer Theorie beruht, die nicht nur unrea-listisch, sondern eindeutig falsch ist. Der internationale Handel mag folglich frei sein, wir wissen jedoch nichts darüber, ob er auch effizient ist. Die Gleichsetzung von Effizienz und Freiheit ist es aber, die als Grund und Rechtfertigung für den Abschluss von TTIP und anderen Freihandelsvereinbarungen vorgetragen wird. Wir wissen folglich auch nicht, ob die Liberalisierung des Handels effizient ist. Die Idee, dass jeder Eingriff in den freien Handel schädlich und ineffizient ist, ist einfach falsch. Ein Land beispielsweise, das sich gegen massive Importe aus einem anderen Land wehrt, in dem Unter-nehmen mit extrem hohen Monopolgewinnen hohe Pro-duktivität mit niedrigen Löhnen kombinieren, ist nicht zu verurteilen. Eine dagegen gerichtete protektionistische Maßnahme kann insgesamt die Wohlfahrt auf der Welt verbessern, weil sie verhindert, dass im Prinzip gesunde Unternehmen im Inland durch solche Monopolgewinne geschädigt werden. Noch schlimmer als all diese Effekte ist, dass einige Län-der versuchen, in merkantilistischer Manier viel mehr zu exportieren, als sie importieren. »Globale Ungleichgewich-te« heißt dieses Phänomen, das in krassem Gegensatz zur

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Freihandelsdoktrin steht. Deutschland ist hier als soge-nannter Exportweltmeister der größte Sünder weltweit. Für den wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg, den der internationale Handel für die beteiligten Länder hat, sind Überschüsse oder Defizite im Handel viel wichtiger als potenzielle »Produktivitätseffekte«. In Wirklichkeit gibt es, sobald nennenswerte und dauerhafte Außenhandels-salden auftreten, für die Handelspartner überhaupt keinen Anreiz mehr, mit einem Land Abkommen abzuschließen, das seine Überschüsse verteidigt. Weder gewaltige Wechselkursänderungen noch Direkt-investitionen noch Lohndumping sind Gegenstand der Freihandelsideologie. Das heißt, Verteidiger des Freihan-dels fällen ihre Urteile auf Basis einer Doktrin, die mit der realen Welt nichts zu tun hat. Was die globalisierte Wirtschaft viel dringender braucht als eine doktrinäre Auseinandersetzung über Handelspolitik, ist ein Wäh-rungssystem, das verhindert, dass sich einzelne Länder über Lohndumping oder ähnliche Maßnahmen über lan-ge Zeit ungerechtfertigte absolute Vorteile verschaffen können.

Rigide Löhne und die Drohung mit der Globalisierung

Die Liberalen haben in der Diskussion um die Folgen der Globalisierung schon früh die Agenda vorgegeben, mit einem gewaltigen politischen Paukenschlag und mit einer massiven Drohung zugleich. Weil, so ihre mit Aplomb vor-getragene These, nach dem Fall der Berliner Mauer viele Länder in Osteuropa und in Asien (mit China als einer neuen wirtschaftlichen Supermacht) ihre Grenzen für den

 

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Warenaustausch öffneten, könne der Westen nicht so wei-termachen wie bisher. Angesichts des Auftauchens neuer Teilnehmer an der internationalen Arbeitsteilung hätten sich die Knappheitsverhältnisse zwischen Kapital und Ar-beit in der gesamten Welt fundamental verändert. Weil in den Entwicklungs- und Transformationslän-dem Arbeit reichlich vorhanden, Kapital aber knapp sei, müssten sich die Preise für Kapital und Arbeit auf der glo-balen Ebene an diese neuen Knappheitsrelationen anpas-sen. Arbeit müsse billiger und Kapital teurer werden. Inflexible Löhne in den Industrieländern würden unwei-gerlich Arbeitslosigkeit nach sich ziehen.Verteilungskämp-fe in den reichen alten Ländern würden das Kapital außer Landes treiben, weil es immer die Alternative gebe, sein Kapital in einem aufstrebenden Staat anzulegen. Vermutlich hat keine These die internationale Diskus-sion um die Folgen der Globalisierung so stark dominiert wie diese einfache, ja primitive Ableitung, die sich direkt aus der neoklassischen »Theorie« eines »Arbeitsmarktes« ergab. Diese Theorie ist zwar nicht zu halten, aber die gegen sie vorgebrachten Argumente waren ebenfalls äu-ßerst dürftig. Der entscheidende Grund: Die »progressi-ven Ökonomen« weigerten sich, die neoklassische Arbeits-markttheorie vollständig zu verwerfen. Hätten sie sich von Anfang an nicht auf die Knappheitsverhältnis-These eingelassen, sondern die Rolle der Löhne als Stabilisator der inländischen Nachfrage hervorgehoben, hätten sie zeigen können, dass es keineswegs so ist, dass die chinesi-schen Arbeiter die Löhne in Deutschland mitbestimmen. In Wirklichkeit geht es bei der Öffnung der Märkte und damit bei der Globalisierung nur um Strukturwandel und um wirtschaftliche Dynamik. Beides kennt der Neoliberalismus nicht und für beides hat er folglich keine Ant-wort.

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Die große Angst

Die größte wirtschaftliche und politische Bedrohung un-serer modernen Gesellschaften geht ohne Zweifel von der Arbeitslosigkeit aus. Arbeitslosigkeit ist zu Recht für vie-le Beobachter wie für die Betroffenen selbst der entschei-dende Hinweis darauf, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher. Doch die Folgerungen, die daraus ge-zogen werden, führen zumeist in die Irre. Ökonomen wie Nicht-Ökonomen, Arbeitgebervertreter wie Gewerk-schafter, besonders aber wohlmeinende Philosophen und kritische Intellektuelle sehen unsere Welt in einem Ge-genstrom der Globalisierung und Digitalisierung, der die liebgewordenen Annehmlichkeiten des Wohlfahrtsstaa-tes unweigerlich hinwegspülen wird. Aus ihrer Sicht verweigern sich nur noch Ewiggestrige und blinde Isolationisten der Einsicht in die historische Notwendigkeit, unseren Lebensstandard radikal infrage zu stellen und individuelle Lebensrisiken wie Arbeitslo-sigkeit, Alter und Krankheit statt durch den Staat in Zu-kunft privat abzusichern. Ist der Wohlfahrtsstaat also am Ende, weil mehr arme Länder dieser Erde aktiv am Welt-handel teilnehmen wollen? Überrennen Millionen Chine-sen die Grenzen der reichen Länder und erzwingen mit Gewalt ihre Teilhabe am allgemeinen Wohlstand auf un-sere Kosten? Wenn ja, wieso haben dann alle reichen Län-der den Absatz ihrer Güter nach China dramatisch er-höht?

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Solche Fragen muss man nicht beantworten, wenn man den Doomsday-Propheten der Globalisierung oder der Digitalisierung geben möchte. Es genügt dafür offen-bar, die entscheidenden Stichworte in den Raum zu wer-fen, und schon ist der verhängnisvolle Kreislauf von Gür-tel-enger-Schnallen und Über-die-Verhältnisse-Leben in Gang gesetzt, der immer mit dem Schleifen des Wohl-fahrtsstaates endet.

Was verlangt die Globalisierung? Jenseits des öffentlich zelebrierten Erschauerns im Ange-sicht der Globalisierung kann man ganz einfache Regeln für das friedvolle Zusammenleben der Nationen auf wirt-schaftlichem Gebiet aufstellen. Alle Regeln, von wem auch immer sie aufgestellt werden, können nur darauf hin-auslaufen, zu fordern, dass jedes Land sich an seine eige-nen Verhältnisse anzupassen hat, also nicht über seinen Verhältnissen leben darf. Mehr kann einfach kein Staat von einem anderen verlangen und mehr kann keine glo-bale Regelung von einzelnen Ländern und ihren Bürgern erzwingen. Mehr zu fordern, würde ja bedeuten, dass man von dem einen fordert, bewusst unter seinen Verhält-nissen zu leben, was logischerweise bedeutet, dass man einen anderen zwingt, über seinen Verhältnissen zu le-ben, denn alle zusammen können weder unter noch über ihren Verhältnissen wirtschaften (Flassbeck & Spiecker 2016). Übersetzt in ökonomische Terminologie bedeutet das: Jedes Land muss seine Ansprüche genau an seine eigene Produktivität an. assen. Auf einzelwirtschaft Ebene

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ist diese Regel unmittelbar einleuchtend: Auf Dauer kann ein Wirtschaftssubjekt nicht mehr ausgeben, als es ein-nimmt, das heißt, jeder muss das, was er beansprucht, auch erarbeiten. Gibt er mehr aus, lebt er über seinen Ver-hältnissen, er verschuldet sich und muss einen Gläubiger finden. Der Gläubiger ist derjenige, der ihm glaubt, dass er seine Schulden eines Tages zurückzahlen kann, seine Produktivität also ausreicht, um das in Anspruch Genom-mene zu begleichen. In der anderen Richtung gilt das Gleiche: Auf Dauer kann man nicht weniger ausgeben, als man verdient. Denn wer unter seinen Verhältnissen leben will, muss einen Schuldner finden, also jemanden, der bereit ist, über sei-nen Verhältnissen zu leben. Wer Gläubiger (oder Netto-Sparer) werden will, muss andere finden, die sich verschul-den wollen. Wenn niemand bereit ist, sich in der Höhe zu verschulden, in der ein anderer sparen möchte, gibt es keinen Abnehmer für das, was dieser andere quasi über seine eigenen gegenwärtigen Wünsche hinaus produzie-ren will. Dann fehlt ihm die Nachfrage, die er für seine Einkommenserzielung benötigt, und der Sparplan schei-tert. Was bedeutet die Regel, sich an seine Produktivität, sich an seine eigenen Verhältnisse anzupassen, für den interna-tionalen Handel? Von der internationalen Arbeitsteilung können auf Dauer alle nur dann profitieren, wenn kein Land seine Wettbewerbsfähigkeit durch Protektionis-mus oder ähnliche Maßnahmen auf Kosten anderer Län-der steigert. Gleichberechtigt miteinander Handel treiben können alle nur dann, wenn kein Land auf Dauer über sei-ne Verhältnisse lebt und keines darunter. Geschieht dies dennoch, werden also durch massive

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Verstöße gegen die allgemeine Regel langfristig Gläu-biger- und Schuldnerpositionen aufgebaut, kommt es zwischen Staaten mit einer je eigenen Währung über kurz oder lang zu Anpassungen der Wechselkurse. Verliert ein Land durch eine ständig anwachsende Schuldnerposition an Kreditwürdigkeit, wird seine Währung abgewertet. Um-gekehrt muss ein Land mit einer immensen Gläubiger-position früher oder später seine Währung aufwerten, das heißt, seine Guthdben im Ausland entwerten. Das Wech-selkursventil, obwohl in vieler Hinsicht problematisch, ist quasi der Beweis dafür, dass probatere Mittel zum Aus-gleich der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungs-fähigkeit von Nationen versagt haben. Länder selbst sind allerdings keine Wirtschaftssubjek-te, sondern bestehen vielmehr ihrerseits aus einer Vielzahl von Wirtschaftssubjekten. Wie kann ohne das Notventil des Wechselkurses dafür gesorgt werden, dass die einzel-wirtschaftliche Regel, jeder habe sich langfristig an sei-ne Produktivität anzupassen, auch auf nationaler Ebene durchgesetzt wird? Ein Land passt sich langfristig automa-tisch an seine Produktivität an, wenn das durchschnittliche reale Pro-Kopf-Einkommen (pro Stunde zum Beispiel) im gleichen Tempo wächst wie die durchschnittliche Pro-duktivität (also der Zuwachs des Realeinkommens pro Stunde). Dies wird logischerweise —und das ist durch viel-fältige empirische Erfahrung bestätigt — am besten da-durch erreicht, dass die Nominallöhne im Durchschnitt der Volkswirtschaft um die Summe aus erwarteter durch-schnittlicher Produktivitätssteigerung und der Zielinla-tionsrate wachsen. Diese einfache Lohnregel impliziert zum einen, dass nicht nur die Beschäftigten, der »Faktor Arbeit«, sondern

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auch die Kapitalseite angemessen an der wirtschaftlichen Entwicklung beteiligt wird. Zum anderen erlaubt sie ei-ne stabile Inflationsrate, weil der Abstand zwischen No-minallohnsteigerungen und Produktivitätssteigerung (die Entwicklung der sogenannten Lohnstückkosten) die ent-scheidende Determinante der gesamten Kostenentwick-lung ist, die wiederum die Preisentwicklung weitgehend bestimmt (wie später gezeigt wird). Es ist also gerade die Teilhabe der breiten Masse der Bevölkerung an der Produktivitätsentwicklung via Lohn-kostensteigerung, die mit der Regel für die internationale Arbeitsteilung harmoniert. Dagegen führt eine Strategie des Unter-den-eigenen-Verhältnissen-Lebens, also der Ver-such, die breite Masse über Jahre hinweg nicht an Pro-duktivitätssteigerungen teilhaben zu lassen, mit Sicher-heit in eine nationale und in eine internationale Sackgasse. Deutschland steckt seit Jahren in beiden, weil es den Her-ausforderungen der Globalisierung begegnen wollte, in-dem es selbst den Gürtel enger schnallte, und damit auf die Bereitschaft anderer setzte, eine immer höhere inter-nationale Verschuldung zu akzeptieren.

Handel zwischen Hoch- und Niedriglohnland

In Deutschland verdiente ein Arbeiter im Jahr 2000 etwa 25 000 Euro brutto, ein chinesischer Arbeiter verdiente umgerechnet etwa z i 5o Euro. Wie können zwei Länder miteinander Handel treiben, deren Lohnniveaus so weit auseinanderliegen ? Müssten nicht sämtliche Produkte in China hergestellt worden sein, und müsste nicht Deutsch-land alle Güter von dort importiert haben?

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Nein, denn entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit eines Produktes am Weltmarkt ist — bei gegebener Quali-tät — sein Preis, und dieser wird nicht vom absoluten Ni-veau der Löhne bestimmt, zu denen es produziert wird, sondern von den Löhnen im Verhältnis zur Produktivität, also den Lohnstückkosten. Wie viel Lohn in einem Pro-dukt, einem »Stück«, steckt, hängt von der Höhe des Ka-pitalstocks ab, mit dessen Hilfe es hergestellt wird. Be-steht das Gut zum Beispiel nur aus Handarbeit und wird es an einem Tag von einem Handwerker produziert, so betragen die Lohnstückkosten genau den Tageslohn des entsprechenden Handwerkers. Wird das Gut jedoch mit einer Maschine produziert, die ein Arbeiter bedient, und kann der mittels dieser Maschine zehn Stück am Tag her-stellen, dann betragen die Lohnstückkosten genau ein Zehntel seines Tageslohns. Verdient dieser Arbeiter bei-spielsweise das Fünffache des Handwerkers, kann er ein einzelnes Stück immer noch preiswerter anbieten als sein Konkurrent. Daraus folgt, dass die gegenwärtigen hohen Lohnkos-ten in Deutschland so wenig vom Himmel gefallen sind wie die niedrigen chinesischen. Beide haben sich in klei-nen Schritten aus der Vergangenheit heraus entwickelt. Sie sind der Spiegel der Produktivität, die wiederum auf dem erwirtschafteten Kapitalstock eines Landes beruht. Wer den aktuellen Stand der Lohnstückkosten hierzulan-de für generell zu hoch erklärt, ignoriert die historische Entwicklung von Produktivität und Kapitalstock, oder er behauptet, der (west)deutsche Kapitalstock sei wegen der allmählich stärkeren Öffnung der Märkte seit dem Ende des Ost-West-Konflikts schlagartig obsolet geworden, ent-wertet durch die zunehmende Globalisierung. 34

Diese Vorstellung ist angesichts der Spitzenstellung vieler deutscher Exporteure auf den Weltmärkten (und insbesondere in den Niedriglohnländern) offensichtlich absurd. Der Preis eines Gutes hängt allerdings nicht nur von den Lohnstückkosten, sondern auch von den Kapitalkos-ten ab, also den Kosten, die der in der Produktion einge-setzte Kapitalstock verursacht. Um in unserem Beispiel zu bleiben: Der Arbeiter muss die Maschine erst einmal haben, bevor er mit ihr produzieren kann. Würden die Lohn- und Kapitalkosten der kapitalintensiven Produk-tionsweise zusammen den Produktivitätsvorteil gegen-über der arbeitsintensiven Herstellung überwiegen, wäre das kapitalintensiv produzierte Gut nicht konkurrenz-fähig. Die kapitalintensive Produktionsweise wäre dann entweder gar nicht entstanden oder sie würde von einer arbeitsintensiveren Produktionsweise verdrängt. Doch wer hat jemals beobachtet, dass maschinelle Webstühle Handwebern weichen mussten ? Im Gegenteil: Stets war und ist die Menschheit bemüht, einen möglichst großen Kapitalstock aufzubauen, weil der technische Fort-schritt vergleichsweise wenig produktive Tätigkeiten über-flüssig macht und man sich produktiveren Beschäftigun-gen zuwenden kann, mit denen sich höhere Einkommen und damit ein größerer Wohlstand erzielen lassen. Das heißt nichts anderes, als dass mittel- bis langfristig die Entwicklung hin zu einem ständig steigenden Kapital-einsatz eine Art Naturgesetz in der Welt der Ökonomie ist. Könnten die Weber langfristig so schlecht bezahlt werden, dass sich der Bau eines maschinellen Webstuhls niemals rentiert? Nein, das ist nicht vorstellbar. Das aber bedeutet zwingend, dass weder die historische Entwicklung unse-res Kapitalstocks noch die unserer Löhne ein Irrtum war.

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Ist nun die Produktivität in Deutschland aufgrund des vorhandenen Kapitalstocks um so viel höher als in Chi-na, dass die Lohnstückkosten trotz der unterschiedlichen Lohnniveaus gleich sind, findet keine Verdrängung am Weltmarkt statt, importiert also das Hochlohnland nicht automatisch alles aus dem Niedriglohnland. In den Berei-chen, in denen die deutschen Lohnstückkosten über den chinesischen liegen, findet Handel statt, bei dem die billi-geren Anbieter die teureren auf dem Weltmarkt verdrän-gen. Das ist der internationale Strukturwandel, bei dem Deutschland bisher hervorragend abgeschnitten hat. Hochlohnländer spezialisieren sich auf Güter, die allein mit einer besonderen Technologie hergestellt werden kön-nen. Nur wer über einen entsprechend großen und hoch spezialisierten Kapitalstock und das entsprechende Fach-wissen verfügt, kann auf dem Weltmarkt hoch spezialisier-te Güter anbieten. Das sind in der Regel nicht die Anbieter aus Niedriglohnländern, da diese Länder sich ja gerade da-durch auszeichnen, dass sie (noch) nicht so stark indust-rialisiert und spezialisiert sind. Sobald man also, anders als die meisten ökonomischen Lehrbücher, nicht nur von zwei Handelsgütern auf dem Weltmarkt ausgeht, sondern realistischerweise eine riesige Produktpalette in Betracht zieht, verliert die Vorstellung vom knallharten internationalen Verdrängungswettbe-werb, in dem die reichen Nationen unweigerlich verlie-ren, jede Plausibilität. Das übliche theoretische Modell, in dem Hersteller beliebig zwischen verschiedenen Pro-duktionstechniken wählen können, um sich optimal an das Faktorpreisverhältnis für die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, also das Lohn-Zins-Verhältnis, anzupassen, ist unrealistisch und irreführend.

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Dabei sind es nicht nur Anpassungsfriktionen oder die zeitlich begrenzte Immobilität von Produktionsfaktoren, die dafür verantwortlich sind, dass es keine beliebige An-passung an das Faktorpreisverhältnis gibt. Es geht um et-was viel Grundsätzlicheres. Man kann schlicht ein Handy oder einen Mercedes nicht beliebig arbeitsintensiv produ-zieren. Wollte man das, müsste man erst eine völlig neue, auf höhere Arbeitsintensität zielende Produktionsweise erfinden. Das wäre nicht nur teuer, sondern auch sinnlos. Die kapitalintensive Produktionsweise ist langfristig im-mer die überlegene, weil sie mehr Wohlstandspotenzial und damit die Voraussetzung für auf der ganzen Welt stei-gende Löhne schafft. Daher führte eine durch niedrigere Arbeitskosten getriebene hypothetische Parallelentwick-lung arbeitsintensiverer Produktionsverfahren auf lange Sicht immer ins Aus. Wer das nicht glaubt, suche einen Un-ternehmer, der in China oder Indien mit der Technologie der siebziger Jahre moderne weltmarktgängige Rechner herstellt. Doch selbst wenn das Vorhalten einer arbeitsintensive-ren Produktionsweise technisch möglich wäre, fände es nicht statt. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass es viel rentabler ist, die heute üblichen kapitalintensiven Pro-duktionstechniken mit den Billiglöhnen der aufholenden Länder zu kombinieren. Die dadurch möglichen tempo-rären Monopolgewinne machen jede andere Lösung von vornherein unwirtschaftlich. Nur weil die ökonomischen Standardmodelle unterstellen, Monopolgewinne spielten in den Kalkülen der Unternehmen keine Rolle, hat die herrschende Lehre keinerlei Zugang zu einer realistischen Analyse des internationalen Handels und der Faktorwan-derüng. Tragisch ist dabei, dass sich fachfremde Intellek-

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tuelle — freilich ohne zu wissen, was sie tun — die Annah-men der Standardmodelle zu eigen machen und auf dieser Basis die Globalisierung zu analysieren versuchen.

Handel bei Kapitalwanderung

Befürworter von Lohnkostensenkungen in den reichen Ländern führen als Argument dafür regelmäßig die Mög-lichkeit des Kapitals an, in Niedriglohnländer abzuwan-dern. Die hiesige Arbeitslosigkeit zeige, dass zu wenig im Inland investiert werde. Das läge daran, dass aufgrund der vergleichsweise zu hohen Löhne die Rentabilität des Kapitals zu gering sei. Böten sich außerhalb Deutschlands gewinnträchtigere Anlagemöglichkeiten, würden diese auch genutzt und das Kapital fließe ab. Dieser Mechanismus habe seit Ende des Ost-West-Konflikts und der damit einhergehenden intensiveren Teil-nahme ärmerer Volkswirtschaften am Welthandel eine neue Dynamik erreicht, an die man sich hierzulande anzu-passen habe. Die Knappheitsverhältnisse der Produktions-faktoren hätten sich grundlegend gewandelt: Es stünden eben sehr viel mehr Arbeitskräfte zur Verfügung, zugleich brächten diese aber keinen auch nur annähernd so hohen Kapitalstock mit in die Weltwirtschaft ein wie ihre Kolle-gen aus den Industrienationen, so dass der Faktor Kapital im Vergleich zu Arbeit viel knapper geworden sei. Diese gestiegene Knappheit mache es notwendig, das Kapital durch niedrigere Löhne zum Bleiben zu bewegen, da- die niedrigen Löhne in den aufholenden Volkswirtschaften eine enorme Sogwirkung auf das hiesige Kapital ausübten (vgl. Sinn 2003, S.91 ff.).

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Richtig ist an dieser Sichtweise, dass es für hiesige Un-ternehmer tatsächlich lohnend sein kann, ihre kapitalin-tensiven Produktionstechnologien mit den in den aufho-lenden Volkswirtschaften herrschenden Billiglöhnen zu kombinieren. Das war schon immer eine Möglichkeit, vorübergehende Monopolgewinne zu erzielen, und mag seit 1989 einfacher zu realisieren sein. Auch für Unterneh-mer in den Billiglohnländern selbst besteht ein großer An-reiz, die westlichen Technologien zu kopieren, das heißt, diese zu importieren, um dann in Kombination mit den niedrigen heimischen Löhnen überdurchschnittliche Ge-winne zu erwirtschaften. Denn sofern die Lohnentwick-lung im Niedriglohnland der durchschnittlichen Pro-duktivitätsentwicklung in der dortigen Gesamtwirtschaft folgt, können über Jahre und sogar Jahrzehnte hinweg beachtliche Monopolgewinne erzielt werden, da das Pro-duktivitätsniveau dort aufgrund des niedrigen Ausgangs-wertes des Kapitalstocks noch lange unterhalb dessen lie-gen wird, was in den reichen Ländern erreicht ist. Abwegig ist es jedoch, die Kapitalwanderung in Nied-riglohnländer für die hiesige Arbeitslosigkeit verantwort-lich zu machen. Denn wer die wirtschaftliche Entwick-lung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg oder etwa die Polens seit dem Fall der Mauer betrachtet, stellt fest, dass Kapitalwanderungen nicht schlagartig und in großem Maßstab, sondern allmählich erfolgen. Sonst hätte der Aufbau des westdeutschen Kapitalstocks nach dem Krieg viel schneller geschehen müssen. Auch Polen müsste mit seinen Billiglöhnen nach dreißig Jahren längst hoch industrialisiert sein, wenn die Nettokapitalbewegung von Hoch- zu Niedriglohnländern so gewaltig wäre, wie dies die Globalisierungspessimisten behaupten.

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Das überschaubare Ausmaß. von Kapitalverlagerungen erklärt sich einerseits dadurch, dass sie nicht risikolos zu bewerkstelligen sind. So muss etwa das erforderliche »Hu-mankapital« im Niedriglohnland vorhanden sein, also das Know-how auf allen Ebenen des Produktionsprozesses. Die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingun-gen der aufholenden Volkswirtschaft müssen stabil genug sein, um Unternehmen dazu zu bringen, langfristig in die-sem Land zu investieren. Häufig wechselnde Regierun-gen mit unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Konzep-ten können auf in- wie ausländische Investoren ebenso abschreckend wirken wie mangelnde innere Sicherheit. Gegen die Angst vor massiver Kapitalabwanderung in Niedriglohnländer und drohender Kapitalknappheit in Hochlohnländern spricht jedoch noch ein viel grundle-genderes Argument. Fasst man die wirtschaftliche Ent-wicklung als einen Prozess auf, in dessen Verlauf Gewin-ne und damit Kapital entstehen, geht es gar nicht in erster Linie um das gegenseitige Ausstechen der Unternehmer, Arbeitnehmer oder Länder beim angeblich nur sehr lang-sam (via Sparen) vermehrbaren Produktionsfaktor Kapi-tal. Wenn tatsächlich Gewinnchancen in Niedriglohn-ländern genutzt werden können, vermehrt sich das im Entwicklungsprozess der aufholenden Länder so drin-gend benötigte Kapital durch den Prozess selbst. Also auf eine Weise, welche die Kapitalbilanz des Niedriglohn-landes nicht belastet und es ihm erlaubt, mehr Güter als sonst möglich aus den Hochlohnländern zu importieren. Der Import von Kapital und Know-how ist aus der Perspektive des Entwicklungslandes und aus der Sicht der reichen Länder also langfristig vorteilhaft. Aus Sicht des Niedriglohnlandes ist zunächst entscheidend, dass das

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Land wegen seines geringen Kapitalstocks nur mit ei-ner' sehr kleinen Palette vCin, Gütern am Weltmarkt kon-kurrenzfähig sein wird. Jeder ausländische Investor trägt zum Aufbau des Kapitalstocks und damit der Basis für mehr Einkommen und Wohlstand bei. Selbstverständlich findet auch hier ein Strukturwandel statt, und in der Re-gel ein viel gewaltigerer als in den Hochlohnländern. Denn das Nachahmen von Produktionsprozessen für weltmarkt-gängige Produkte funktioniert schneller als das Erfinden und Umsetzen neuer Technologien. Entwicklungsländer können beim Aufbau ihres Kapitalstocks Sprünge im technologischen Wandel realisieren, die den hoch entwi-ckelten Volkswirtschaften nicht möglich sind. In China müssen nicht erst die während der sechziger Jahre in den westlichen Industrieländern vorherrschenden Technolo-gien angewendet werden, sondern Investoren können so-fort die aktuelle Technik einsetzen. Dass mit dem internationalen Strukturwandel immen-se Veränderungen für die Bevölkerung des Niedriglohn-landes verbunden sind, denen meist kein mit unserem ver-gleichbares soziales Sicherungsnetz an die Seite gestellt wird, wird hierzulande oft übersehen. Dennoch stellt die Kombination der niedrigen Löhne mit der Technologie aus den Industrieländern die große Chance dar, wirt-schaftlich aufzuholen und das Wohlstandsgefälle zu den reichen Ländern zu verringern. Der Standortvorteil in Form von Niedriglöhnen ermöglicht es, technologisches Wissen zu importieren, die Palette weltmarktfähiger Pro-dukte nach und nach auszuweiten und so vom Welthandel zu profitieren. Durch die Forderung nach Lohnsenkungen in Hoch-lohnländern wird folglich implizit versucht, die Chan-

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cen der Entwicklungsländer zum Aufholen zu schmälern oder sie ihnen gar gänzlich vorzuenthalten. Diese Posi-tion wird üblicherweise von Leuten vertreten, die strikt gegen Protektionismus sind und den ärmeren Ländern alle Chancen dieser Welt versprechen, wenn sie nur ihre Märkte vollständig öffnen. Wenn aber zugleich die Wett-bewerbsfähigkeit der Industrieländer auf den Weltmärk-ten durch lohninduzierte Preissenkungen steigt, nimmt man den sich entwickelnden Volkswirtschaften zugleich die Märkte weg, da sie ihre wenigen Produkte noch schlech-ter international verkaufen können. Ginge man in die Richtung einer absoluten Angleichung der deutschen Löhne an die chinesischen oder indischen, wäre zudem eindeutig das Wechselkursventil gefordert, weil dann Deutschland gegen die zentrale Regel des inter-nationalen Handels- und Kapitalverkehrs verstieße. Bei Lohnkostensenkungen in Deutschland wäre eine weitere drastische Aufwertung des Euro unvermeidlich. Wechsel-kurse können und müssen systematisch Lohnstückkos-tendifferenzen ausgleichen, aber niemals die absoluten Lohnniveaus. Anders als viele Ökonomieprofessoren wis-sen Devisenhändler nämlich, worauf es im internationa-len Vergleich ankommt. Mindestens ebenso gravierend sind jedoch die Folgen der Lohnsenkungsstrategie im Hochlohnland Deutsch-land für all die Länder, die auf der Industrialisierungslei-ter zwischen den Weltmarktführern und den gering ent-wickelten Ländern stehen, noch dazu, wenn sie dieselbe Währung haben wie etwa Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland. Versuchen deutsche Unternehmen durch Lohnsenkungen auf den Weltmärkten wettbewerbsfähi-ger zu werden, trifft das all diejenigen, die nur etwas nied-

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rigere Löhne haben als wir und den bisherigen Abstand bei der Ausstattung mit Kapital durch ebendiese Lohn-differenz wettgemacht haben. Diese Länder müssen dann unserem Lohnsenkungspfad folgen, wenn sie nicht sämt-liche Marktanteile verlieren wollen. Dass dies auf mittlere Sicht unweigerlich zu einer Aufwertung des Euro führt und insofern die Bemühungen der Deutschen, sich dem chinesischen Lohnniveau anzunähern, zunichtemacht, ist ein Glück für die Entwicklungsländer, aber eine Katastro-phe für die ärmeren Mitglieder der Währungsunion. Das scheint der für die Währungsunion zuständigen Euro-päischen Zentralbank erst allmählich zu schwanen — von der auf diesem Wege heraufbeschworenen Deflations-gefahr ganz zu schweigen (vgl. Europäische Zentralbank' 2005)

Diese Argumente mögen jene Arbeitnehmer in einem Hochlohnland, die ihren Arbeitsplatz wegen der Verla-gerung eines Produktionsstandortes ihres bisherigen Ar-beitgebers in ein Niedriglohnland verloren haben, nicht wirklich überzeugen, und das ist zweifellos eine schwieri-ge Situation für die Betroffenen. Die Gesellschaft muss für diese Fälle über ein funktionsfähiges soziales Siche-rungsnetz verfügen und Möglichkeiten schaffen, damit die Betroffenen in anderen Wirtschaftszweigen wieder Fuß fassen können.

Trotz dieser sicherlich nicht zu vernachlässigenden Ein-zelschicksale sieht die Situation jedoch aus einer gesamt-

1Dort zwar wurden die relevanten Daten sorgfältig zusammen-gestellt (z.B. Table z, S. 64), die naheliegende Schlussfolgerung wird aber nicht gezogen. Die einmalige Chance, die Eurokrise • in einem frühen Stadium zu vermeiden, wurde hier vertan.

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wirtschaftlichen Perspektive für Deutschland ganz an-ders aus: Deutschland exportiert wesentlich mehr Güter, als es importiert. Das bedeutet, dass der damit einherge-hende Mehr-Absatz von Waren im Ausland die deutsche Wirtschaft stützt und per Saldo Arbeitsplätze schafft. Das dürfte in der Regel zwar in anderen Branchen der Fall sein als in denen, die Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. Aber in der Summe stellt sich Deutschland durch den in-ternationalen Handel in Sachen Arbeitsplätze besser und nicht schlechter. Der notwendige Anpassungsprozess an den interna-tionalen Strukturwandel muss zweifellos sozial abgefe-dert werden. Jedoch so zu tun, als ob eine Wirtschaft wie die deutsche insgesamt in Hinblick auf die Arbeits-plätze der Verlierer bei der Globalisierung sei, ist schlicht falsch. Wer bei der Analyse der Ursachen der gravieren-den Arbeitsmarktprobleme in Europa auf die Globali-sierung verweist, hat nicht gründlich nachgedacht oder verfolgt mit dem Schüren von Angst eine verborgene po-litische Agenda.

Handel bei Wanderung von Arbeit

Was geschieht, wenn einzelne oder auch ganze Gruppen von Arbeitnehmern aus den Niedriglohnländern nicht warten wollen, bis ihnen Kapital zur Verfügung steht, son-dern sich selbst auf den Weg zum Kapital machen, sprich, in die Hochlohnländer einwandern? Ob das wirklich ein Massenphänomen werden könnte oder aus demografi-schen Gründen gar sollte und welche rechtlichen Gren-zen eine solche Wanderungsbewegung einschränken, soll

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hier nicht diskutiert werden. Doch welche ökonomischen Mechanismen laufen zwischen den betroffenen Ländern ab, und welche ökonomischen Spielregeln sollten gelten, um die Wanderung des Produktionsfaktors Arbeit für Herkunfts- (also Niedriglohn-) wie Einwanderungsland (also Hochlohnland) sinnvoll zu gestalten? Arbeitskräfte aus Niedriglohnländern wandern in Hoch-lohnländer, weil sie dort mehr Jobs oder einen höheren Lohn oder beides erwarten. Bei normaler Arbeitsmarkt-situation im Hochlohnland gilt de facto ein sogenanntes Bestimmungslandprinzip, das heißt, die Zuwanderer ver-dienen im Hochlohnland bei gleicher Qualifikation den gleichen Lohn wie die einheimischen Arbeitskräfte. Wel-che wirtschaftlichen Folgen hat das im Hochlohnland? Wenn die zuwandernden Arbeitskräfte reibungslos Jobs finden, ist die Zuwanderung kein Problem für das Hoch-lohnland, sie erhöht sogar das Wachstumspotenzial. Herrscht im Hochlohnland jedoch Arbeitslosigkeit, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass Zuwanderer zum herrschenden Lohn Arbeit finden. Denn warum sollte ein Zuwanderer unter sonst gleichen Bedingungen der inländischen Arbeitskraft, die in der Regel keine Sprach-schwierigkeiten oder sonstige Anpassungsprobleme hat, vorgezogen werden? Finden die Zuwanderer keine Ar-beit, beanspruchen sie Leistungen der sozialen Sicherungs-systeme. Das aber wird keine Gesellschaft in größerem Umfang tolerieren. Denn den Mindestlebensstandard, den eine reiche Gesellschaft durch soziale Sicherungssysteme für ihre Mitglieder zu garantieren versucht, um den sozia-len Frieden und den Zusammenhalt zu sichern, kann sie nicht für den Rest der Welt oder auch nur einen spürbaren Tgil davon zur Verfügung stellen. Wäre sie bereit dazu,

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könnte sie jedenfalls ihre Solidarität viel effektiver über eine massive Erhöhung der Entwicklungshilfe unter Be-weis stellen. Was aber geschieht, wenn die Zuwanderer bei Arbeits-losigkeit im Hochlohnland bereit sind, dort zu einem we-sentlich geringeren Lohn als die heimischen Arbeitskräfte zu arbeiten, und das Gastland bereit ist, das zu tolerieren? Die Zuwanderer erhöhen ja durch diese Bereitschaft die Wahrscheinlichkeit, im Gastland Arbeit zu erhalten. Dass sie sich trotz des niedrigeren Lohnes oft besserstellen als in ihrem Herkunftsland, ist sicher ein zentrales Motiv für die Wanderung) Und welcher inländische Unternehmer wollte diese Gewinnchance (bei gleicher Qualifikation der Arbeitskräfte und unter Vernachlässigung sonstiger Anpassungsschwierigkeiten) nicht nutzen, um seinen hoch effizienten Kapitalstock mit nicht der Arbeitsproduktivi-tät entsprechenden niedrigen Löhnen (diesmal im Inland statt im Niedriglohnland) zu kombinieren? Durch die Außerkraftsetzung des Bestimmungsland-prinzips und die Einführung eines Herkunftslandprin-zips verdrängen die Zuwanderer einheimische Arbeits-kräfte. Diese werden entweder arbeitslos und müssen über die sozialen Sicherungssysteme finanziert werden —ein für die Gesellschaft kaum akzeptabler und auf Dauer nicht finanzierbarer Zustand —, oder sie passen ihre Löhne nach unten an. Gerät auf diesem Weg das Lohnniveau des Hochlohnlandes insgesamt ins Rutschen, treten alle oben

1Dass diese Rechnung nicht immer aufgehen muss, weil etwa die Lebenshaltungskosten unterschätzt werden, der Wohnraum knapp und entsprechend teuer ist oder die soziale Integration nicht funktionert, steht auf einem anderen Blatt.

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bereits beschriebenen negativen Folgen ein: Nachfra-geausfall im Inland sowie sinkende Gewinne der Unter-nehmen und verschenkte Wachstums- und Wohlstands-möglichkeiten, verstärkter Verdrängungswettbewerb auf den Weltmärkten und/oder Aufwertung der heimischen Währung. Das heißt, dass auch die Herkunftsländer der Zuwande-rer durch die von ihnen ausgelöste Lohnsenkung geschä-digt werden. Zwar wird ihr Arbeitsmarkt möglicherwei-se unmittelbar entlastet,' aber durch die Wanderung wird kein zusätzlicher Kapitalstock im Niedriglohnland auf-gebaut, wie das im Fall der Kapitalwanderung geschieht. Die zurückbleibende Bevölkerung profitiert nicht von den Abwandernden, das durchschnittliche Produktivi-tätsniveau steigt nicht und damit auch nicht das durch-schnittliche Lohnniveau: Es findet kein Aufholprozess statt. Vielmehr sehen sich die Anbieter aus dem Niedrig-lohnland noch wettbewerbsfähigeren Anbietern auf dem Weltmarkt gegenüber; denn die Lohnsenkung im Hoch-lohnland schafft Raum für Weltmarktanteilsgewinne der dortigen Unternehmer mittels Preissenkung. Zwar wird eine Aufwertung der Währung des Hochlohnlandes am Ende diesen Gewinn wieder zunichtemachen, aber die Folgeschäden sind in der Regel enorm. Zudem reißt das. Lohndumping all die Länder mit in die Abwärtsspirale, die mit dem Hochlohnland zusammen Mitglied einer

1Wenn jedoch gerade die fähigsten und flexibelsten Arbeitskräfte die Wanderungswilligen sind, ist die Abwanderung eher als ein »brain drain« für das Niedriglohnland anzusehen und insofern ebenfalls ein Schaden.

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Währungsunion sind oder aus sonstigen Gründen ihren WechIelkurs fixieren. Nur die konsequente Anwendung des Bestimmungs-landprinzips auch bei hoher Arbeitslosigkeit im Hoch-lohnland kann diesen alle Handelsteilnehmer schädi-genden Teufelskreis verhindern. Das bedeutet, dass in Deutschland kein ungebremster Strom von Zuwanderern verkraftet werden kann und — im ureigenen Interesse der uns umgebenden Niedriglohnländer — auch nicht ver-kraftet werden darf. Für jede einzelne Nation, jede sich kulturell zusammengehörig fühlende Gesellschaft oder jeden geografischen Raum der gleichen Entwicklungs-stufe, das heißt ähnlicher Kapitalausstattung, muss ganz strikt das »law of one price« gelten, der Grundsatz des gleichen Lohns für gleiche Arbeit also. Wird dieser Grundsatz durchlöchert, werden Mittel zur Behebung der Krise empfohlen, die eine Abwärts-spirale in Gang setzen: Lohnsenkungen schwächen die Binnennachfrage, lassen dadurch die Gewinne und mit ihnen die Investitionsbereitschaft im Inland sinken. Das stärkt zwar vorübergehend die Exporte, aber nie in dem Maße, wie es zur Kompensation des inländischen Nach-frageausfalls notwendig wäre. Zugleich ist der Staat über-fordert, die Funktion der Sicherungssysteme zu gewähr-leisten, die ja in der Tat nicht für dauerhaftes Versagen der Wirtschaftspolitik geschaffen wurden, sondern zur temporären Abfederung des intertemporalen wie des in-ternationalen Strukturwandels. Die falsche Analyse findet hier sofort den nächsten Schuldigen für die Misere: Der Staat insgesamt, sagt der Neoliberalismus, müsse radikal in seine Schranken gewie-sen werden, wolle man die Herausforderung der globali-

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sierten Märkte meistern. Wen wundert es da noch, dass die Bevölkerung sich zunehmend vor der Globalisierung fürchtet und Fremdenfeindlichkeit auf dem Vormarsch ist? Wer die gesamte Gesellschaft in ihren Grundfesten in-frage stellt, sollte sich nicht nur über die wirtschaftlichen, sondern auch über die politischen Folgen seiner Ratschlä-ge im Klaren sein.

Digitalisierung als Bedrohung?

Der Roboter als Jobkiller?

Ein neues altes Thema macht rasend schnell die Runde. Automation, die Verdrängung des Menschen durch Robo-ter, wird als große Gefahr an die Wand gemalt und die uralte Konfusion »on machinery«, wie der englische Öko-nom David Ricardo es vor 200 Jahren genannt hatte, feiert fröhliche Urstände. Der Punkt, um den es geht, ist allerdings so einfach, dass man sich fragt, wie es sein kann, dass die Menschheit ihn nicht begreift. In dem Buch Das Ende der Massenar-beitslosigkeit haben Friederike Spiecker und Heiner Flass-beck den Zusammenhang so beschrieben:

Ist es nicht eindeutig? Arbeitslosigkeit ist ein unabwendbares Schick-sal: Was gestern noch mehrere Arbeiter am Fließband bewerkstellig-ten, erledigt heute ein Roboter. Wo gestern Arbeiterinnen die fer-tig produzierte Ware wenigstens noch verpacken und beschriften mussten, packt und adressiert heute eine von Computern gesteuerte Verpackungsmaschine. Immer mehr Menschen verlieren ihren Ar-beitsplatz und finden — möglicherweise trotz mehrfacher Umschu-lung — keine neue Verdienstmöglichkeit und werden zu (Langzeit-) Arbeitslosen. Machen wir uns nicht durch den zunehmenden Ein-

 

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