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PRECHT DEUTSCH 125-150

2019. január 04. 12:34 - RózsaSá

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Frei leben

Grundeinkommen und Menschenbild

Berlin. Regierungsviertel. Im Spätsommer 2017. Auf der Wie-se vor dem Reichstag spielen Migrantenkinder Fußball, Journalisten lümmeln sich auf Liegestühlen im Sand, am Spreebogen dösen Rücksacktouristen im Schatten des Kanzleramts, neugierige Passanten inspizieren den Garten des Schlosses Bellevue. Eine Allegorie der Ruhe und des Friedens; das Idealbild einer blühenden Zeit, in die Gegenwart gefallen aus der italienischen Frührenaissance. Ein Fresko, heiter und be-schwingt wie jenes von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Pubblico in Siena: Folgen einer guten Herrschaft. Ende der 2010er Jahre gehört Deutschland immer noch zu den reichsten Ländern der Welt. Die Arbeitslosenquote ist gering, es herrscht »Fachkräftemangel«. Die ungezählten Touristen, die die entspannteste Metropole der westlichen Welt besuchen, knipsen mit ihren Smartphones. Sie lieben das Dörfliche, das Verdöste. Kein Vergleich zu Städten wie London, Paris oder New York oder den gehetzten Megacitys Asiens. Noch liegt die Arbeitslosenquote bei neun Prozent; das ist weit mehr als im Bundesdurchschnitt. Aber man könn-te schon jetzt meinen, in Berlin arbeiten die wenigsten, so gelassen wirkt alles. Und weil niemand, der hier knipst, einen Fotolaboranten und ein Studio braucht, über Airbnb ein Zimmer bucht und absehbar auf ein selbstfahrendes Auto

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per App zurückgreift, werden es wohl bald auch immer weniger sein. Wovon werden die Menschen in Berlin dann leben? Die Verwaltungen bauen Tausende Mitarbeiterstellen ab in den Ämtern oder Krankenhäusern. Versicherungen und Banken entlassen ihre Leute in Scharen. Wer oder was fängt sie auf? Die Frage beschäftigt öffentliche und private Forschungsins-titute, sie wird auf dem Weltwirtschaftsforum heiß diskutiert, und sie beschäftigt die CEOs, die künftige Entlassungen vor-bereiten. Nur in der großen Politik scheint sie nicht angekommen zu sein. »Vollbeschäftigung« nannte Angela Merkel ihr Ziel bis 2025.36 Das erinnert an Kaiser Wilhelms Satz vom Pferd. Nie war Realitätsverlust in der Bundesrepublik größer! In Davos, auf den Podien der großen Zeitungen und in den Think-Tanks der westlichen Welt dagegen befasst man sich mit dem entgegengesetzten Szenarium. Wird es möglich sein, dass die Beschäftigungsquote erhalten bleibt, weil alle einfach weniger arbeiten? Lafargue, den hier niemand kennt, lässt grüßen. Die Idee hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ih-rem Charme verloren. Immerhin würde sie verhindern, dass zu viele ausgegrenzt werden. Dass sich die Arbeitgeber und Gewerkschaften in der deutschen Metallindustrie im Februar 2018 darauf einigten, dass Arbeiter nach Wunsch dort nur noch achtundzwanzig Stunden arbeiten, ist ein Schritt in die-se Richtung — selbst wenn das Motiv nicht die zukünftige Massenarbeitslosigkeit ist. Die Frage ist allerdings, für welche Branchen das Lafargue-Modell taugt. Im öffentlichen Dienst hat es wahrscheinlich Perspektive. Kindergärtner und Leh-rerinnen können dies sicher tun. In den Verwaltungen dagegen wäre die Arbeitszeitverkürzung wohl nur ein Modell auf Zeit, bis die meisten gar nicht mehr gebraucht werden. Und einen Topmanager, Außenminister, Bundesligaprofi, Projektmanager oder Chefarzt, der Teilzeit arbeitet, wird es auch in Zukunft nicht geben.

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Das größere Thema ist daher ein anderes: Wann und wie kommt das »bedingungslose Grundeinkommen«? Ein festes Mindesteinkommen, das zum Leben reicht — für die Idee be-geistern sich so unterschiedliche Gemüter wie der ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich, der zyprische Wirtschafts-nobelpreisträger Christopher Pissarides von der London School of Economics, der Künstliche-Intelligenz-Forscher Dileep George, die Silicon-Valley-Großinvestoren Joe Schoendorf, Marc Andreessen und Tim Draper, die deutschen Unternehmer Götz Werner und Chris Boos, die Topmanager Joe Kaeser und Timotheus Höttges sowie der ehemalige griechi-sche Finanzminister Yanis Varoufakis. Doch die Motive sind nicht immer dieselben. Für das Silicon Valley steht fest, dass die Daten von Armen nichts wert sind. An wen soll man sie verkaufen, wenn diese sich die angebotenen Produkte nicht leisten können? Die Datenökonomie hat kein Interesse an kollektiver Verarmung; sie bedroht ihr Geschäftsmodell. Andere sorgen sich um Altersarmut, wachsen-de Proteste, soziale Unruhen und bürgerkriegsähnliche Zu-stände, wenn Millionen auf Sozialhilfeniveau herabsinken. Und wiederum andere, wie Varoufakis, sehen das Grundein-kommen als Mittel grundlegender Partizipation und Umverteilung, vielleicht sogar als Instrument eines Systemwechsels; ein Gedanke, den bereits der französische Sozialphilosoph Andre Gorz vorausgedacht hat. Solche unterschiedlichen Motive gehören zur Idee des Grundeinkommens, seit Thomas Morus es in Utopia zum ersten Mal skizzierte. Als Morus' Freund, der spanische Humanist Juan Luis Vives, den Gedanken aufnahm, argumentierte er mit der Pflicht eines Christenmenschen, die Ärmsten nicht

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ohne Fürsorge zu lassen. Die Aufklärer Montesquieu, James Harrington, Thomas Paine und Thomas Spence entwickelten die Idee weiter zu einer allgemeinen Verpflichtung des Staates, für alle zu sorgen; Harrington, Paine und Spence dachten allerdings nicht an Geldzahlungen, sondern an das Recht auf eigenen Grund und Boden. Zu Beginn der industriellen Revolution schlossen sich zahlreiche englische und französische Denker dem Konzept an, ein staatliches Grundeinkommen zu zahlen. Der Philosoph und Ökonom John Stuart Mill, der große englische Denker des 19. Jahrhunderts, sah in einem garantierten Minimum die geschickteste Kombination aller Formen des Sozialismus. Und im 20. Jahrhundert machten sich Erich Fromm und Martin Luther King für ein Grundeinkommen stark, ein Psychoanalytiker und ein Bürgerrechtler. Man muss allerdings sehen, vor welchem sozialen Hintergrund es jeweils gefordert wurde. Wenn der rechtskonserva-tive US-amerikanische Ökonom Milton Friedman Anfang der Sechzigerjahre von einer negativen Einkommenssteuer sprach, die Geringverdienern ein Minimum garantiert, so war der angedachte Betrag äußerst gering. Das Gleiche gilt für das Konzept des US-Ökonomen James Tobin. Als ein Staat, der seinen Bürgern keine mit Westeuropa vergleichbare Grundsicherung garantiert, sind die Bedingungen in den USA völlig andere als in den wohlhabenden unter den EU-Staaten. In Anbetracht dessen sind die Vorstellungen von einem Grundeinkommen, wie sie heute aus dem Silicon Valley kommen, für Westeuropa kein Maßstab. Dass eine neue Form der Grundsicherung im Zeitalter von immer weniger Erwerbsarbeit kommen muss, darauf kann man sich schnell einigen. (Es sei denn, man bestreitet schlichtweg das sich abzeichnende Problem.) Globalisierung und Digitalisierung verändern unsere Arbeits- und Lebenswelt so

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grundlegend, dass sie zwangsläufig zu einer anderen Gesell-schaft führen werden. Fragt sich nur zu welcher? Zu einer Welt, in der zwar die Produktivität und die Gewinne steigen, aber selbst die meisten Angehörigen der Mittelschicht nicht mehr davon profitieren, sondern arbeitslos werden und verarmen? Oder zu einem neuen Gesellschaftsvertrag, der sich den veränderten Umständen anpasst, um das Gute zu bewahren, vielleicht sogar zu vergrößern? Ohne einen großen Eingriff in die bisherige Wertordnung der Arbeits- und Leistungsgesellschaft, die ihr Ideal von Tüchtigkeit an Erwerbsarbeit bindet, wird es keinen neuen Gesellschaftsvertrag geben. Wirbt man in Deutschland für das BGE, das bedingungslose Grundeinkommen, das jeder Bürger unabhängig von seiner Bedürftigkeit erhalten soll, kommt als Erstes reflexartig die Frage: Wer soll das bezahlen? Die Frage — so automatisiert, dass augenscheinlich keiner danach fragt, warum man sie sogleich stellt — ist befremdlich. Warum sollte sich das BGE nicht finanzieren lassen? Schließlich leben wir im reichsten Deutschland, das es je gab. Und die Produktivität steigt durch die Digitalisierung noch einmal rasant an. Computer und Roboter kosten keine Sozialabgaben, beziehen keine Rente, kein Ur-laubs- oder Müttergeld. Sie schlafen nicht, sondern arbeiten ohne Mühen Tag und Nacht. Bezahlbar ist das BGE auf jeden Fall — allerdings sicher nicht auf althergebrachte Weise, nämlich über die Besteue-rung von Arbeit. Insofern greift jede Kritik, die meint, die Steuersätze für sämtliche Arbeitenden müssten astronomisch steigen, ins Leere. Die Pointe am BGE ist, dass die Steuersät-ze auf Erwerbsarbeit gerade nicht steigen und möglicherweise sogar sinken! Wenn der Zeit-Redakteur Kolja Rudzio meint, »je mehr das Grundeinkommen die Menschen von schnöder Erwerbsarbeit befreit, desto stärker untergräbt es seine eigene Finanzierung « (37), so verfehlt er den entscheidenden Punkt. Wie sollen denn im Zeitalter von immer weniger Erwerbstätigen diese den Sozialstaat

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finanzieren? Das funktioniert nicht einmal beim bestehenden Sozialsystem! Denn auch das bricht zusammen, wenn steuerbefreite Computer und Roboter zu Millionen Tätigkeiten erledigen, die früher Menschen gemacht haben. Erstaunlicherweise fällt dies auch dem linken Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge nicht auf, wenn er das bestehende Sozialsystem für die Zukunft bewahren möchte, das BGE aber für unbezahlbar hält: »In diesem Fall müssten riesige Finanzmassen bewegt werden, die das Volumen des heutigen Bundeshaushaltes (ca. 300 Mrd. Euro) um ein Mehrfaches übersteigen, die öffentliche Armut vermehren dürften und die Verwirklichung des BGE per se ins Reich der Utopie verweisen.«" Dass viele Linke heute »Utopie« für einen negativen Begriff halten, ist traurig genug — immerhin stand gerade die Linke historisch stets für neue, sozialere Gesellschaftsideen. Doch wieso sieht Butterwegge gerade beim BGE, dass sich die öffent-liche Armut vermehrt, und nicht, dass dies unweigerlich gerade dann geschieht, wenn das BGE nicht eingeführt wird? Doch der Armutsforscher, der die Bewegung für das Grundeinkom-men für »sektenhaft« hält, gehört weiterhin zu denen, die den großen Umbruch auf dem Arbeitsmarkt für reine Science-Fiction halten: »Die Digitalisierung, der demografische Wandel und die Globalisierung sind die drei großen Erzählungen un-serer Zeit. Sie sollen den Leuten Angst machen, damit sie sich mit weniger als heute zufriedengeben. Schon bei der Mecha-nisierung, Motorisierung und Elektrifizierung wurde geweissagt, dass uns die Arbeit ausgeht. Aber die menschenleere Fabrik gibt es bis heute nicht.«" Für Butterwegge ist die Erwerbsarbeit, anders als für Marx,

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Lafargue und Wilde, offensichtlich ein großer Segen. Und sei-ne Ängste dürften ähnlich sein wie die des österreichischen Schriftstellers Jakob Lorber Mitte des 19. Jahrhunderts: »Aber es wird kommen am Ende eine Zeit, in der die Menschen zu einer großen Klugheit und Geschicklichkeit in allen Dingen gelangen werden und erbauen werden allerlei Maschinen, die alle menschlichen Arbeiten verrichten werden wie lebende, vernünftige Menschen und Tiere; dadurch aber werden viele Menschenhände arbeitslos, und die Magen der armen, arbeitslosen Menschen werden voll Hungers werden. Es wird sich dann steigern der Menschen Elend bis zu einer unglaublichen Höhe. «40 Und auch die Philosophin Hannah Arendt bietet sich ideologisch als Schwester im Geiste an: »Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit aus-gegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein? «(41) Kein Wunder, dass für Butterwegge der Ruf nach dem Grundeinkommen so etwas wie eine neoliberale Verschwö-rung gegen den Sozialstaat ist, unterstützt von einigen irreggleiteten linken Träumern. Bevor es um die Finanzierung geht, sollte man daher fragen, wie hoch das Grundeinkommen eigentlich sein müsste, damit sich die Menschen gerade nicht »mit weniger zufriedengeben« müssen. Wer in Deutschland Arbeitslosengeld II (Hartz IV) bezieht, der erhält alleinstehend einen Regelsatz von 416 Euro. Dazu kommt ein Mietzuschuss je nach Region bis zu 590 Euro und etwa 130 Euro Unter-stützung zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Eini-ge kleinere Beträge wie Warmwasser oder Umzugskosten mit eingerechnet, bekommt ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger in Deutschland je nach Wohnregion zwischen 950 und 1200 Euro im Monat. In dieser Situation ist es in der Tat befremdlich, wenn der Unternehmer Götz Werner ein

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Grundeinkommen von 1000 Euro für jeden fordert, dabei aber gleichzeitig alle Sozialleistungen einschließlich des Wohngelds gestrichen sehen möchte. (42) Für den größten Teil aller bisherigen Hartz-IV-Empfänger bedeu-tet dies, dass sich ihre finanzielle Situation verschlechtert. Von Werners hehrem Ziel, ein menschenwürdiges Leben für jeden zu ermöglichen, ist der Vorschlag weit entfernt. Wer in München 590 Euro Wohngeld erhielt und die Miete nun selbst zah-len muss, dem bleiben 410 Euro, von denen er auch noch die Kranken- und Pflegeversicherung bezahlen muss! Was in der Maske des Humanitären daherkommt, ist offensichtlich nicht gut zu Ende gedacht. Und es befeuert Butterwegges Verdacht, dass sich durch all das die öffentliche Armut nur vermehrt. Ein angemessener Betrag für das Grundeinkommen kann nicht 1000 Euro sein, sondern ein Betrag, der deutlich über dem bisherigen Hartz-IV-Satz liegt, also mindestens 1500 Euro. Butterwegges Verelendungsthese wäre damit entkräftet. Doch spätestens hier regt sich der nächste linke Un-mut. Warum sollten alle, also auch Milliardäre, in Deutsch-land 1500 Euro vom Staat geschenkt bekommen? Das linke Herz klopft in wildem Zorn, nicht nur bei Butterwegge, son-dern genauso bei Gregor Gysi. (43) Auch hier ist der Gedanken-gang sichtlich nicht zu Ende gedacht. Zunächst einmal fällt der Betrag, den der Staat Deutschland sechzig Milliardären ausschüttet, statistisch nicht ins Gewicht. Wichtiger ist, dass durch ein verändertes Steuermodell vor allem Millionäre und Milliardäre in Zukunft deutlich mehr Steuern zahlen, als sie durch das Grundeinkommen beziehen; allerdings nicht über die Einkommensteuer, die sich durch Wohnsitzverlagerung und Briefkastenfirmen so fein umgehen lässt. Wie sollte die Besteuerung der Zukunft demnach aussehen? Seit den Tagen

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der ersten industriellen Revolution existiert die Idee einer »Maschinensteuer «. Warum besteuern wir nicht Dampfmaschinen, Traktoren und zukünftig Computer und Roboter? Der Gedanke ist alt und klingt hübsch, konnte aber bislang zu keinem historischen Zeitpunkt überzeugen. Denn eine Wertschöpfungsabgabe bremst genau die Wertschöpfung aus, die man braucht, um eine entsprechende Grundsicherung für alle zu finanzieren. Zudem ist völlig ausgeschlossen, dass ein einziges hochindustrialisiertes Land sie beschließt, während andere es nicht tun. Wenn Bill Gates die Vorstellung unlängst wiederbelebt hat, dann auch nicht, weil er damit den Sozialstaat finanzieren möchte. Sein Motiv ist das eines Zauberlehrlings, der die Geister entschleunigen möchte, die er rief — aus Angst, dass die Menschen dem rasanten Fortschritt der Digitalisierung nicht gewachsen sind. Ein ebenfalls beliebtes Konzept ist die negative Einkom-menssteuer, zu der in Deutschland mehrere Varianten disku-tiert werden, etwa das Ulmer Transfergrenzenmodell (TGM) oder das Solidarische Bürgergeld, das der ehemalige Ministerpräsident von Thüringen, Dieter Althaus, ins Gespräch brachte. Das Grundeinkommen soll über Einkommensteuern finan-ziert werden, je nach Modell unter Miteinbezug von Zinsen, Mieteinnahmen und Dividenden. Die meisten dieser Modelle setzen das Grundeinkommen so gering an wie Götz Werner, also um die 1000 Euro. Auch sie nehmen eine Verschlechterung der Bezüge für Hartz-IV-Empfänger in Kauf. Dafür stel-len sie finanziell bessere Anreize etwas hinzuzuverdienen in Aussicht und versprechen einen massiven Abbau der Bürokratie. Demjenigen, der dem BGE grundsätzlich kritisch gegen-übersteht, erscheint die negative Einkommensteuer als die am

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ehesten annehmbare Lösung. Doch genau dieser Reiz ist ihre Krux. Die Idee stammt aus den Vierzigerjahren und hatte in den Sechzigern in Milton Friedman ihren prominentesten Ver-treter. Angesichts von Millionen Menschen, die in Zukunft in den hoch entwickelten Industrieländern ihre Erwerbsarbeit verlieren werden, erscheint sie hingegen regelrecht abstrus; ein Versuch, einen Häuserbrand mit der Gießkanne zu löschen! Wenn immer weniger Menschen einer Erwerbsarbeit nachgehen, werden die Erwerbstätigen mit ihrer Arbeit den Sozialstaat nicht mehr finanzieren können. Und auch der für viele BGE-Skeptiker reizvolle Gedanke, Grundeinkommenbeziehern ohne Erwerbsarbeit bessere Anreize zu geben, sich eine zu suchen, ist unter den Vorzeichen des digital massiv verkleinerten Arbeitsmarkts eine abständige Vorstellung. Erst wenn man verstanden hat, dass das Zeitalter flächendeckender Er-werbsarbeit mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu Ende geht, versteht man die Lage. Für diese neue Situation aber enthält die alte Idee der negativen Einkommenssteuer keine Lösung. Zukunftstauglichere Konzepte haben sich deshalb von dem Einfall, ein Grundeinkommen über Erwerbsarbeit zu finanzieren, verabschiedet. Dazu gehören Götz Werners Vorschlag, statt Einkommen nur den Konsum zu besteuern, die Überlegung, natürliche Ressourcen, vor allem den Wert von Grund und Boden, zu besteuern, eine CO2-Steuer oder die Besteu-erung von Umweltbelastungen (Pigou-Steuern). Jeder dieser Vorschläge hat Vorteile und ist erwägenswert. Allerdings kann nicht jeder, der viel Grund und Boden besitzt, hohe Steuern zahlen. Und die gute Idee, den Kohlendioxidausstoß von Un-ternehmen zu besteuern, scheint unter gegenwärtigen Rechts-bedingungen in Deutschland leider kaum möglich — was allerdings nicht heißt, dass man sie nicht ändern kann. Bleibt also nur die bis heute beste Idee. Warum besteuert

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man nicht den Geldverkehr? Man denke an das Modell, das eine Arbeitsgruppe um den Finanzpolitiker und ehemaligen Schweizer Vizekanzler Oswald Sigg vorschlägt." Danach ist der Zahlungsverkehr der Schweiz etwa dreihundertmal so groß wie das Bruttoinlandsprodukt. Erhebt man auf jeden Geldtransfer eine »Mikrosteuer« von 0,05 Prozent, wäre für die Schweiz ein Grundeinkommen von 2500 Franken finanziert. Für den Normalbürger hätten solche Steuern so gut wie keine spürbaren Konsequenzen. Denn 90 Prozent der Sum-me stammen aus der Finanzwirtschaft, insbesondere aus dem Hochfrequenzhandel. Die Finanztransaktionssteuer wird vor allem deshalb diskutiert, um zu verhindern, dass Spekulationen sich mehr lohnen als Investitionen in die Realwirtschaft. Angesichts des enormen Volumens heutiger Finanzspekulationen eine völlig realistische Befürchtung. Zudem sollte eine solche Steuer für John Maynard Keynes in den Dreißigerjahren Finanzblasen und Börsencrashs verhindern. Kein Wunder, dass angesichts der globalen Finanzmarktkrise die EU-Kommission die Idee einer Finanztransaktionssteuer 2011 aufgriff — unter heftigem Widerstand Großbritanniens, das wie kein anderes EU-Land vom Finanzsektor lebt. Als der Entwurf 2013 fertig war, war nur noch von elf EU-Ländern die Rede. Doch je länger die Krise zurücklag, umso weniger wurde das Konzept weiterverfolgt. Die Lobbys der Finanzindustrie gewannen wieder die Oberhand und fluteten die Wirtschaftsseiten der großen Zeitungen und Zeitschriften mit fadenscheinigen Argumenten. Was auch immer an Einwänden über den volkswirtschaftlichen Nachteil vorgebracht wurde, der Vorteil überwiegt sie bei Weitem. Eine Finanztransaktionssteuer macht die Finanzmärkte stabiler und verringert die Zockerei im Börsencasino. Verlierer sind nur die Extremzocker und niemand sonst. (45)

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Der einzige Einwand von Gewicht ist nicht volkswirtschaftlicher Natur. Es ist die Befürchtung, den Finanzspekulanten blieben jederzeit hinreichend Möglichkeiten, die Steuer zu um-gehen. Einen solchen Einwand zum Grund zu nehmen wäre, als wenn man auf die Bekämpfung von Verbrechen verzichte, weil sie gleichwohl ständig wieder vorkommen. Klar ist, je mehr Länder sich an einer Finanztransaktionssteuer beteiligen, umso besser. Zwei Überlegungen geben hier Grund zum Optimismus. Zum einen geschieht kein gesellschaftlicher Fortschritt dadurch, dass sich achtundzwanzig Regierungschefs darauf einigen. Weder wurde so die Sklaverei abgeschafft noch die Gleichstellung von Frauen durchgeboxt, noch wird so eine Finanztransaktionssteuer in der EU durchgesetzt. Aller gesellschaftliche Fortschritt geht von einzelnen Staaten aus, die dann einen Dominoeffekt in anderen Ländern auslösen. Betrachtet man die Finanztransaktionssteuer in dem Licht, damit zukünftig ein Grundeinkommen an die Bürger zu zahlen, so sitzen viele vorher zerstrittene EU-Länder plötzlich im selben Boot. Denn nun geht es nicht mehr um mehr oder we-niger Rücksicht gegenüber der Finanzindustrie — es geht um ein Riesenproblem, das sich in Frankreich, Deutschland, Polen und Italien gleichermaßen stellt: Wie verhindere ich den gesell-schaftlichen Abstieg der Mittelschichten, wie beuge ich hefti-gen sozialen Unruhen vor? Im Vorzeichen solcher Bedrohun-gen dürfte schnell möglich werden, was gegenwärtig bislang völlig utopisch erscheint. Der Motor des sozialen Fortschritts war noch nie das bessere Argument, sondern immer waren es der Affekt und die Katastrophe. Die Pläne dafür aber müssen jetzt geschmiedet werden und nicht im Zustand des Dramas, der Überforderung und der Schnellschüsse. Wenn eine Mikrosteuer von 0,05 Prozent für jede Finanz-transaktion ausreichen könnte, um ein BGE für die Schweiz

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zu finanzieren, so lässt sich auch ausrechnen, welcher Prozentsatz benötigt würde, um das Gleiche für Deutschland zu tun. Der Prozentsatz wäre sicher höher, aber gewiss immer noch so gering, dass er den meisten Menschen kaum auffällt. Entsprechende realistische Modelle zu entwickeln ist nicht Auf-gabe der Philosophen, sondern der Ökonomen. Einrechnen müssten sie dabei auch die mutmaßlichen Folgen für die Spekulation. Doch selbst wenn die Mikrosteuer einen gewissen Prozentsatz an Zockergeschäften abschafft — was für die Sta-bilität der Finanzmärkte von größtem Wert wäre —, ließe sich das Grundeinkommen in den reichen Ländern auf diese Weise sicher finanzieren. Immerhin beträgt das Volumen des welt-weiten Derivatehandels mit 600 bis 700 Billionen US-Dollar in etwa das Zehnfache des globalen Bruttoinlandsprodukts! Am Geld also dürfte kein BGE scheitern. Und die Mikrosteuer auf Finanztransaktionen wäre zumindest kurz- und mittel-fristig die beste Idee, jedenfalls solange die internationale Finanzwirtschaft noch das ist, was sie heute ist ...

Von allen Fragen, die das BGE aufwirft, ist die Finanzierung mithin das kleinste Problem. Viel spannender sind die psychologischen Fragen, denn hier geht es um das Menschenbild der Gegenwart und der Zukunft. Weltanschauungen treffen hier aufeinander, Glaubensgrundsätze, lieb gewordene Vorurteile, kulturelle Prägungen und Mentalitäten. Besonders die Linke hat sich, wie gezeigt, in die Vorstellung verkämpft, der Mensch brauche zu seinem Glück die Erwerbsarbeit. Doch wer ist »der Mensch«? Bei einer Podiumsdiskussion vor der Entwicklungsabteilung bei Audi erklärte mir ein dort tätiger Ingenieur, der Mensch sei von Natur aus ein »Problemlöser«. Immer wenn etwas nicht optimal ist, bemühe sich der Mensch darum, es zu verbessern. Nun, dachte ich, vielleicht 138

sind so die Ingenieure bei Audi — in meinem persönlichen Umfeld dagegen leben fast nur Menschen, die sich kaum je Gedanken darüber machen, etwas zu verbessern, geschweige denn zu erfinden. Mit dem Begriff »Mensch« sollte man ziemlich vorsichtig sein. Der Mensch ist, mit Nietzsche gesagt, das »nicht festgestellte Tier«. Und: »Wer Menschheit sagt«, meinte der Philosoph Carl Schmitt, »der lügt! « Zu vieles am Menschen ist abhängig von den Bedingungen, unter denen er lebt, um ihn klar zu definieren. Was einem Menschen des europäischen Mittel-alters selbstverständlich war — ein Leben in Gottes Hand oder die Gewissheit, dass bald das Tausendjährige Reich der Got-tesherrschaft auf Erden anbricht —, kommt uns heute eher befremdlich vor, obwohl wir noch immer Mitteleuropäer sind. Dass »der Mensch« nichts mehr mit sich anzufangen weiß und seinen Lebenssinn verliert, wenn er nicht für Geld arbeitet, ist eine steile Unterstellung. Sie stempelt jede Hausfrau, jeden Hausmann, jeden Rentner, jede Luxusgattin, jedes Königskind, jeden Regenwaldbewohner und jeden Massai-Krieger zu einem unglücklichen Menschen. Richtig ist nur, dass in einer Gesellschaft wie Deutschland derzeit viele Menschen sich schlecht und nutzlos fühlen, wenn sie ihre Erwerbsarbeit verlieren und keine neue finden. Ihr Problem dürfte aber kein anthropologisches sein, sondern ein sehr modernes. Dass Menschen durch Erwerbsarbeit etwas »aus sich« oder »ihrem Leben machen« sollen — diese Frage hat sich dem Bauern oder dem Fabrikarbeiter des 19. Jahrhunderts nie gestellt. Dass man seine Talente nutzen, kreativ sein oder sich gar »selbst verwirklichen« soll — all das sind Ansprüche hochmoderner Gesellschaften. Sie entstanden nach und nach im Laufe des 20. Jahrhunderts. Und erst jetzt musste sich

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schlecht vorkommen, wer diese Ziele verfehlte. Doch noch heute gibt es genug Menschen, für die ihre Erwerbsarbeit solche Ansprüche nicht erfüllt. Lebten sie in einer Gesellschaft, die Selbstverwirklichung oder Talent zu nutzen nicht an Er-werbsarbeit koppelt, wäre das ohne Zweifel ein Fortschritt. In der gegenwärtigen Gesellschaft aber bedeutet der Verlust von Erwerbsarbeit zugleich einen Verlust an gesellschaftlicher Anerkennung; einen Anschlag auf das Selbstwertgefühl. Wer dies erleidet, fühlt sich — und da hilft auch keine anthropo-logische Poesie über das angeborene Bedürfnis, kreativ sein zu wollen — als Verlierer der digitalen Revolution. Und daran ändert selbst das BGE nichts, zumal der große Abbau der Bürokratie in den Ämtern diejenigen, die vorher über Hartz-IV-Empfänger urteilten, nun selbst zu Arbeitslosen macht. Und die einzigen Jobs, die sie noch finden — Pakete ausfahren oder im Callcenter tätig sein —, sind kaum mit mehr gesellschaftlicher Anerkennung gesegnet, als gar nicht zu arbeiten. Sol-chen Menschen mit Sprüchen von der neuen Notwendigkeit des »lebenslangen Lernens« zu begegnen ist allenfalls zynisch. Tatsächlich ist der Trend vom guten Beruf zum schlechten Job längst im Gange. 1993 arbeiteten 4,4 Millionen Menschen in Deutschland in nicht sozialversicherungspflichtigen Jobs. 2013 waren es schon 7,6 Millionen, Tendenz weiter steigend. Eine Unternehmenskultur, die ihnen Schutz und Verlässlichkeit bietet, kennen sie nicht mehr. Sie strampeln sich als »Crowdworker« ab oder bieten sich in der „Gig Economy«, zum Beispiel als Uber-Fahrer, feil." Gerade in den südeuropäischen Ländern ist die digitale Schattenökonomie in den letzten Jahren enorm gestiegen und verdeckt damit die Krise der klassischen Arbeitsgesellschaft. Insbesondere in Spanien vermieten Menschen ihre Wohnung über Airbnb iind zahlen nichts mehr in die Sozialversichermigen ein.

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Und was früher schlichtweg nettes Verhalten war — jemanden mit dem Auto mitnehmen, ein Zimmer für kurze Zeit einem Studenten zur Verfügung stellen —, ist nun knallhartes Geschäft. Aus Sozialverhalten wird Geschäftsdenken, und der lange Schatten des Silicon Valley untergräbt die Alltagsmoral; ersprießlich ist das nicht. Die Welt der Erwerbsarbeit ist schon lange nicht mehr das, für das Gegner des Grundeinkommens sie halten. Und zwischen Lohnarbeit und Anerkennung liegt in der deutschen Re-alität des Jahres 2018 ein großes »und«. Erwerbsarbeit kann Anerkennung, Befriedigung und das Gefühl, gebraucht zu werden, bedeuten. Oft genug tut es das nicht. Butterwegges Satz »In einer Arbeitsgesellschaft hängen Lebenszufriedeniheit, sozialer Status und Selbstwertgefühl an der Berufstätigkeit« (47) ist also doppelt problematisch. Erstens stimmt das bei vielen definitiv nicht, und zweitens beginnt gerade diese Arbeitsgesellschaft allmählich zu verschwinden — jedenfalls für eine so große Zahl von Menschen, dass sie nicht weiter die exklusive Leitidee unserer Gesellschaft sein kann. In jedem Fall liefert all dies kein Argument gegen das Grundeinkommen. Denn nicht das BGE macht viele Menschen arbeitslos, sondern die digitale Ökonomie. Das Grund-einkommen ist ein Versuch, materielle Not zu lindern, und das Bemühen, den Zustand, nicht für Lohn zu arbeiten, psychologisch und gesellschaftlich von seinem Äch.tungsfluch zu befreien. Ohne einen Wertewandel, da haben die Kritiker des BGE recht, ist das Grundeinkommen wenig wert. Es ist nicht, wie mancher glühende Anhänger meint, die Lösung, sondern nur ein Baustein dazu. Was ist vor diesem Hintergrund von dem Einwand zu halten, das BGE zerstöre den deutschen Sozialstaat? Nun, dieser Sozialstaat ist ein Kind der Arbeits- und Leistungsgesellschaft des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Er stammt aus einer Zeit, als 141

viele Menschen in sozialversicherungspflichtigen Be-rufen arbeiteten und Vollbeschäftigung das gesellschaftliche Ziel war. Aus dieser Zeit erwuchs die von Norbert Blüm sogenannte solidarische Selbsthilfe: der Sozialstaat, aufgebaut auf dem »Prinzip der Gegenseitigkeit«. Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass dies eine gewaltige Errungenschaft der Arbeits- und Leistungsgesellschaft war. Aber auch niemand wird ebenso ernsthaft behaupten können, dass der Sozialstaat intakt ist. Unterspült durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse — Minijobs, Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit, unbezahl-te Praktika usw. —, ist er längst nicht das, was er einmal war. Wenn immer mehr Erwerbsarbeit von Sozialabgaben befreit wird, kann vom »Prinzip der Gegenseitigkeit« nicht mehr die Rede sein. Gleichwohl stört vor allem linke Kritiker des BGE, dass sich das Grundeinkommen vom Leistungsgedanken entfernt. Der Sozialstaat alter Prägung ist eine Leistungsgemeinschaft von Beitragszahlern, die bekommen, was sie verdienen — und sich dabei wechselseitig unterstützen und aushelfen. Ein Grundeinkommen dagegen ist steuerfinanziert, man erhalte es nicht, weil man es sich durch Sozialbeiträge »verdient« habe. Was edel klingt, ist bei Lichte betrachtet oft einfältige Sozialromantik. Wer ein Leben lang einen schlecht bezahlten Beruf mit Sozialabgaben ausgeübt hat, lebt schon jetzt und erst recht in Zukunft von äußerst wenig Geld, oft genug unterhalb der beim BGE avisierten 1500 Euro. Wer das gerecht findet, hat sich auf befremdliche Weise mit dem bestehenden Sozialsystem arrangiert — vielleicht sollte er einmal mit armen Rentnern darüber sprechen? Und ist das wirklich »gerechter« als eine angemessene Mindestsicherung für jeden? Die »Gerechtigkeit« ist ein schillerndes Wort. Immerhin hat jeder Mensch das Recht, sie auszulegen, wie er will. Für einen

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Liberalen ist es gerecht, wenn jeder die gleiche Chance hat, zu Wohlstand zu gelangen, unbegrenzt nach oben. Für einen Sozialisten ist es gerecht, wenn jeder das gleiche Stück vom Kuchen abbekommt. Keine dieser Vorstellungen ist, philosophisch betrachtet, »von Natur aus« gerechter als die andere. Kein Wunder, dass die soziale Marktwirtschaft sich stets um einen Ausgleich beider Vorstellungen bemüht, allerdings unter sich wandelnden ökonomischen Bedingungen. Wenn der Wohlfahrtsstaat bedroht ist, dann deshalb, weil sich die globale Ökonomie rasant verändert. Wer heute glaubt, den deutschen Sozialstaat in seiner bisherigen Form erhalten, ihn wei-ter über Erwerbsarbeit finanzieren zu können und nur die Hartz-IV-Sätze erhöhen möchte, der lebt nicht mehr in der Gegenwart und ist blind für die Zukunft. Ein vergänglicher Zustand lässt sich nicht mit Regeln aufhalten. Man kann einer welkenden Blume noch so oft das Wasser wechseln, das Verwelken lässt sich nicht verhindern. Im Deutschland des Jahres 2018 haben nur noch 53 Prozent der Beschäftigten Arbeit, die nach Tarif bezahlt wird. Paral-lel dazu werden immer weniger Menschen im Alter von ihrer Rente leben können. Dass ihre soziale Sicherung nach wie vor an Erwerbsarbeit gekoppelt ist, wird ihnen zum Verhängnis, denn einen Rentenbetrag von 1500 Euro werden sie nicht haben. Im Fall des BGE aber wären sie hier abgesichert. Wer hingegen ein Leben lang in die Rentenversicherung eingezahlt hat und mehr als 1500 Euro Rente bekommt, der wird den ent-sprechenden Betrag auch erhalten. Das Gleiche gilt anteilig für all die, die einige oder viele Jahre einbezahlt haben. Es wird ihnen angerechnet, sodass sich kein Beitragszahler über eine Ungerechtigkeit des Grundeinkommens ärgern muss. Und wer in Zukunft meint, dass 1500 Euro im Rentenalter für ihn zu

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wenig sind, dem steht es weiterhin frei, eine private Rentenversicherung abzuschließen. Doch selbst wenn es keinem Rentner durch das BGE schlechter geht, sondern vielen besser, rührt sich in manchem noch immer Widerstand. Warum soll jemand, der ein Leben lang für Geldlohn gearbeitet hat, am Ende nicht mehr Rente be-kommen als jemand, der es nie getan hat? Ein solcher Unmut ist verständlich. Wie bei jedem gesellschaftlichen Umbruch werden sich viele als Opfer sehen, selbst wenn sie es nur psychologisch sind und nicht materiell. Es ist nicht nichts, wenn das bedingungslose Arbeitsethos mancher Menschen ( »Ich würde immer arbeiten und nie vom Staat leben.«) durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ersetzt wird. Das Selbstverständnis der klassischen Arbeits- und Leistungsgesellschaft, von Generationen vererbt, ist plötzlich teilweise (natürlich nicht völlig) außer Kraft gesetzt. Nicht nur die Leitfiktion der Leistungsgesellschaft, sondern auch die geldwerte Lebensleis-tung vieler Menschen erscheint plötzlich in anderem Licht. Kein Wunder, dass mancher, der ein Leben lang einer Erwerbsarbeit nachgegangen ist, befürchtet, dass in Zukunft immer weniger Menschen die Motivation haben, überhaupt noch zu arbeiten. Haben wir nicht schon jetzt einen Fachkräfteman-gel in Deutschland und hinreichend junge Menschen, die keinen Handwerksberuf erlernen wollen und lieber nichts tun? Zunächst einmal muss klar sein: Es gibt keine welthistorische Gerechtigkeit! Wer jetzt darüber klagt, dass er ein Le-ben lang für Geld arbeiten musste, während viele es in Zukunft nicht mehr müssen, der darf sich beruhigen: Was für ein Glück, dass er einer Generation angehört, die nicht in einen Weltkrieg musste, während die Väter und Großväter es mussten! Warum sollten künftige Generationen es nicht besser haben dürfen als vorangegangene? Soll man als neunzigjährige

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Frau gegen die Emanzipation sein, weil man, anders als die heutige Jugend, damals nicht davon profitieren konnte? Doch was ist mit der Angst, die Menschen verlören bei einem Grundeinkommen die Arbeitsmoral? Ist sie nicht trotzdem berechtigt? Nun, wenn einige Menschen, die bislang für Geld arbeiten mussten, es nicht mehr zwingend tun müssen, weil sie besser abgesichert sind als zuvor, ist das gewiss keine Katastrophe. Zum einen schwindet ja parallel dazu die Erwerbsarbeit. Und zum anderen geschieht dadurch endlich — und zum ersten Mal in der jüngeren deutschen Ge-schichte! — ein Umbruch auf dem Arbeitsmarkt. Wichtige und nützliche Berufe müssen angemessen bezahlt werden. Wer will noch die ewigen sozialdemokratischen Wahlkampfreden über die alleinerziehende Krankenschwester hören, die endlich anständig bezahlt werden sollte, wenn man weiß, dass die SPD in Jahrzehnten der Regierungsbeteiligung daran nichts Grundsätzliches geändert hat und mit dem bisherigen System viel-leicht auch nicht kann? Wenn jeder 1500 Euro Grundeinkommen erhält, braucht die Toilettenfrau sich nicht mehr mit dem Geldteller irgendwo hinzusetzen. Kein Rentner muss mehr Taxi fahren, weil die Rente nicht reicht. Und die Kranken-schwester und der Altenpfleger werden endlich adäquat bezahlt. Sicher wird der Friseur etwas teurer, in der Gastronomie ändert sich wenig. Warum sollte man nicht mit kellnern 1000 Euro zusätzlich zum Grundeinkommen verdienen? Die Krankenschwester und der Altenpfleger können nun, wenn sie möchten, zu ihrem Grundeinkommen durch Arbeit entsprechend dazuverdienen; der Schritt von der Ausbeutung zu Lafargues Einundzwanzig-Stunden-Woche! Der Anspruch des Erwerbstätigen an die Qualität der Arbeit und vor allem des Arbeitsumfelds steigt. Kein Kellner wird mehr in einem Restaurant mit miesem Arbeitsklima arbeiten wollen. Geschäftsmodelle wie etwa das von McDonald's

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mit seinen schlechten Arbeitsbedingungen gehören der Vergangenheit an. Ein volkswirtschaftlicher Nachteil entsteht dadurch nicht. Wer vorher bei McDonald's gegessen hat, isst nun zu Hause oder in Restaurants mit besseren Arbeitsbedin-gungen. Auf der anderen Seite werden all die Dienstleistungen in Zukunft günstiger, die von Robotern und Computern erledigt werden. Verschiebungen im Preisgefüge gab es schon immer. Der Preis für Fleisch ist in Deutschland heute um ein Vielfaches günstiger als in den Fünfzigerjahren; eine Hand-werkerstunde um ein Vielfaches teurer. Die Motivation, stupider Arbeit nachzugehen, wird durch das BGE auf jeden Fall gedämpft. In der Masse trifft es dabei viele Bereiche, die ohnehin bald voll digitalisiert sind. Wie klein erscheint diese Not gegen den kulturellen Meilenstein im Sinne von Lafargue und Wilde: dass kein Erwerbsloser in Deutschland in Zukunft mehr von tiefer Existenzangst gequält sein muss! In diesem Sinne nennt der Zeit-Redakteur Bernd Ulrich das BGE treffend einen »Gesellschaftsvertrag wider die Angst bei der Arbeit« (48). Auf eine Erziehungskultur mit immer weniger Angst folgt eine weitgehend angstfreie Arbeitskultur. Nur wer glaubt, dass der Mensch zum Arbeiten erpresst werden muss, wird das nicht mögen. Er wird dann aber gleichzeitig nicht weiter behaupten können, dass Lohnarbeit in der Natur des Menschen liegt. Was an Existenzangst verloren geht, bietet auf der anderen Seite manchem den nötigen Spielraum, sich gut und gründlich zu überlegen, was man eigentlich tun will. Für den so oft kritisierten Mangel an Unternehmergeist in Deutschland nicht die schlechteste Voraussetzung, auch wenn dazu bekanntermaßen mehr gehört als eine materielle Grundabsicherung. Natürlich wird es auch mit BGE nicht wenige Menschen geben,

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die sich kaum zu gesellschaftlich sinnvollen Tätigkeiten moti-vieren können — aber die gibt es heute ebenso.

Wer sich für ein solches menschenwürdiges Grundeinkommen einsetzt, will eine andere Gesellschaft; eine, die den Wert des Menschen weitgehend von Erwerbsarbeit entkoppelt. Und dass reiche Gesellschaften ihren schwächeren Mitgliedern ein Auskommen garantieren, völlig unabhängig von Anträgen, Ämtern und Warteschlangen, ist ein großer Schritt in der Geschichte der Zivilisation. Bezahlen müssen diesen Schritt nicht die normalen Erwerbstätigen, sondern Menschen, Firmen, Banken und Institutionen, die mit weit mehr Geld ausgestattet sind, als sie ausgeben können, und damit an der Börse spielen. Ihre Riesengewinne werden ein bisschen kleiner, und manches blitzschnelle Geschäft lohnt sich nicht mehr; die »Leidtragenden« werden es überleben. Selbstverständlich sind damit nicht alle Probleme gelöst. Viel gravierender ist ein strukturelles Dilemma. Dass die Digitalisierung die Produktivität enorm erhöht, wird nur von wenigen bestritten.49 Warum sollte es nicht zu Produktions-gewinnen kommen, wenn Roboter und Computer in Zukunft viel günstiger und viel mehr produzieren als Menschen? Die Folge ist allerdings die prognostizierte Massenarbeitslosigkeit. Menschen, die vorher einen gut bezahlten Beruf hatten, haben nun keinen mehr und leben von weit weniger Geld. Da ist es volkswirtschaftlich völlig belanglos, dass Internetfirmen persönliche Daten auswerten, um ihre Kunden gezielter und manipulativer zu bewerben. Wenn Menschen weniger Geld in der Tasche haben, sinkt das Konsumvolumen, egal wie ausgefuchst ich sie bewerbe. Produktion zu rationalisieren verspricht volkswirtschaftlich mehr Gewinn; Konsum zu ratio-

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nalisieren hingegen nicht — jedenfalls dann nicht, wenn nicht gleichzeitig die Kaufkraft steigt. Dass Produktionskraft und Kaufkraft nicht einträchtig ne-beneinander hergehen, ist seit den Siebzigerjahren in vielen westlichen Volkswirtschaften zu beobachten. In Deutschland ist die Produktion weit höher als die Kaufkraft. Die Folge dieser Entwicklung ist bekannt. Je geringer die Kaufkraft im eigenen Land im Vergleich zur Produktion, umso wichtiger wird der Export. Eine andere Möglichkeit, das Feuer künstlich weiter zu entfachen, ist die Verschuldung sowohl des Staates als auch von Privatpersonen — besonders eklatant beispielsweise in den USA. Was aber geschieht, wenn die Kaufkraft durch künftige Entlassungen rapide sinkt? Ist es dann nicht die logi-sche Folge, den »arbeitenden Kunden« und »Prosumenten«, der zahlreiche Dienstleistungen selbst erledigt, die vorher Erwerbsarbeiter taten, angemessen zu entlohnen? Von einer solchen Warte betrachtet wäre das BGE eine Art Entlohnungspauschale für die ausgelagerte und dem Kunden überlassene Arbeit der Unternehmen. Das strukturelle Dilemma ist damit allerdings nicht gelöst. Denn wie hoch müsste ein Grundeinkommen sein, das den Verlust an Kaufkraft durch digitale Rationalisierung tatsächlich auffängt? Die bisher angeführten 1500 Euro wären dafür gewiss noch viel zu niedrig. Ein deutlich höheres Grundeinkommen zu zahlen aber führt unweigerlich zu einer völligen Neuordnung des Arbeitsmarkts und möglicherweise — wir diskutieren das am Ende des Buchs — in ein anderes gesellschaftliches System. Auch bei 1500 Euro erhöht das BGE zumindest die Kauf-kraft derjenigen, die wenig haben, beträchtlich. Das ist gut und wichtig für den Binnenmarkt, führt aber leicht zu Miet-erhöhungen in sozialschwachen Bezirken. Dass hier Staat,

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Land und Kommunen ein scharfes Auge darauf haben und das Nötige dagegen tun müssen, sollte gleich zu Anfang bedacht sein. Und natürlich ist jeder Verwaltungsum- und -abbau einer solchen Größenordnung alles andere als einfach. Insbesondere die Frage, welche Hürden der Staat aufrichtet, um Migranten davon abzuhalten, in ein Land mit einem Grundeinkommen von 1500 Euro einzuwandern. Realistisch betrachtet allerdings stellt sich die Frage unter BGE-Bedingungen nicht anders als heute. Für einen Geflüchteten aus Afghanistan oder dem Sudan ist der deutsche Sozialstaat schon jetzt ein Paradies; das Grundeinkommen wird diesen enormen Anreiz kaum noch verstärken können. Wird es zu einem bedingungslosen Grundeinkommen in Deutschland kommen? Ja, es wird, und zwar spätestens dann, wenn die Zahl der offiziellen Arbeitslosen die Vier- oder Fünf-Millionen-Grenze übersteigt. Die spannende Frage wird dann sein, welches Grundeinkommen eingeführt wird. Eines mit 1000 Euro, bezahlt durch die negative Einkommenssteuer? Das wäre ohne Zweifel kein Menschheitsfortschritt, sondern ein Verhängnis; eine soziale Kahlschlagfantasie, die nichts verbessert, aber vieles verschlimmert. Oder arbeiten wir daran, die Utopie Wirklichkeit werden zu lassen und die vierte in-dustrielle Revolution zu nutzen, um Armut und Repression zu überwinden? Die Frage entscheidet sich nicht allein an der Höhe des Grundeinkommensbetrags. Sie ist auch eine Frage danach, ob wir unsere Gesellschaft durchlässig halten. Tun wir, was wir tun können, um Menschen dazu zu befähigen, ein erfülltes Leben zu leben? In welcher Kultur werden wir leben? Und welche Rolle wird die Technik in ihr spielen?

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Um Menschen zu ermöglichen, frei zu leben, müssen ihre Grundbedürfnisse erfüllt werden. In einer humanen Gesell-schaft der Zukunft sind sie durch ein bedingungsloses Grundeinkommen materiell abgesichert. Damit wird der Missstand beseitigt, dass wir nur das als »Leistung« zählen, was auf Er-werbsarbeit gründet. Die soziale Absicherung wird von diesem einseitigen Leistungsbegriff gelöst, der ohnehin blind ist für die sozialen Lebensleistungen vieler Menschen. Der Zwang, monotone und demoralisierende Arbeit auszuüben, entfällt. Damit sind die materiellen Grundlagen für eine Ge-sellschaftsutopie geschaffen, die den Menschen als freies Individuum begreift.

 

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Gute Ideen für den Tag Neugier, Motivation, Sinn und Glück

Die glücklichsten Menschen der Welt leben nicht im Silicon Valley. Sie leben in Norwegen, gefolgt von Dänemark, Island und der Schweiz. Für ein Land, in dem die Zukunft gemacht wird, getreu dem Google-Motto »Do the right thing«, liegen die USA mit Rang vierzehn nicht allzu gut im Rennen. Tendenz: seit zehn Jahren fallend! Der Weltglücksbericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2017 (World Happiness Report) bescheinigt den Vereinigen Staaten sogar eine Fehlkonditionierung. Wer nur auf Wirtschaftszahlen schaue, der mache seine Gesellschaft unsolidarisch und misstrauisch und forciere die Korruption, den sozialen Unfrieden und die eth-nischen Konflikte.(50) Dass die Technik dem Menschen im Laufe der Zivilisation viele gute Dienste geleistet hat, werden nur wenige bestreiten. Doch dass Technik und Glück deshalb im Gleichschritt durch die Welt marschieren, ist eine steile Behauptung. Singapur, der Sieger des Rankings der am meisten digitalisierten Länder der Welt," liegt im Glücksranking auf Rang sechsundzwanzig hin-ter Argentinien und Mexiko. Die radikale Gleichsetzung von Technik und Glück ist eine Ideologie: eine einseitige Übertrei-bung des Menschenbilds und eine einseitige Interpretation der Geschichte. Nach Ansicht derjenigen, die den World Happiness Report erstellen, liegt das Glück in der sozialen Fürsorge,

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