68 Da möchte man nicht mit Nebensächlichkeiten behelligt werden,
also wurden die deutschen Augustiner angewiesen, dieses Mönchs-
gezänk doch bitte schon auf ihrem Ordenskonvent im April 1518 in
Heidelberg selbst aus der Welt zu schaffen. So vergingen wertvolle
Monate, während denen sich Luthers Thesen weiter im Reich verbrei-
teten. Er selbst findet unterdessen Zeit, seine 95 wissenschaftlichen,
auf Latein verfassten Thesen in gut verständlichem Deutsch fur das
Volk zu schreiben und Anfang April als >>Sermon von Ablass und Gna-
de<< zu veröffentlichen.
In dem Sermon vereinfacht, verscharft und erweitert Luther, was
er sich in seiner Turmstube erarbeitet hat. Der für Rom und Alb-
recht so geschäftsschädigende Ablass-Sermon verbreitete sich noch
schneller in noch höherer Auflage als die 95 Thesen. Bis 1520 er-
scheinen zwanzig Auflagen, Luther wird zum ersten Bestseller-Autor
der Welt. Am 26. April 1518 sollte dann der vorlaute Augustinermönch
Luther in Heidelberg nach dem Willen Roms vom Generalkapitel des
Ordens zum Schweigen und zurück ins Glied befordert werden. Dazu
musste er jedoch erst einmal angehört werden. Also hatte Luther das
Wort, und als er fertig war, passierte das Gegenteil. Statt Luther zu
disziplinieren, solidarisierten sich die Augustinermonche mit ihm.
Von Luthers Wortgewalt hatte man bei den Dominikanern, den Fug-
gern und in Rom offenbar noch keine Vorstellung. Während seines
Vortrags herrschte angespannte Stille, in der die Zuhörer spurten,
dass dieser Mann nicht labert, sondern Wahrheiten ausspricht, ge-
féihrliche Wahrheiten, die man selbst vielleicht auch schon einmal so
ahnlich gedacht, aber nicht auszusprechen gewagt hatte.
Da die Anhörung offentlich war, hatten auch viele Neugierige —
Theologen, Wissenschaftler, Laien, Mönche anderer Ordensgemein-
schaften — die Chance genutzt, diesen Luther selbst einmal zu er-
leben. Sie gingen tief beeindruckt nach Hause. Zwei der Zuhörer,
Martin Bucer und Johannes Brenz, waren so mitgerissen, dass sie spa-
ter selber in den Kreis der Reformatoren hineinwuchsen, und Bucer
69 war damals sogar ein Mitglied der »feindlichen<< Dominikaner, die
Luther auf dem Scheiterhaufen sehen wollten.
Diese erste Runde war also an Luther gegangen, was in Rom of-
fenbar zu der Erkenntnis führte, dass man sich doch selber um den
Fall kummern musste. Daher wurde nun das Raderwerk eines Ketzer-
prozesses in Gang gesetzt. Wenige Monate nach seinem Heidelberger
Auftritt erhielt Luther am 7. August 1518 eine Vorladung nach Rom.
Das hatte das fruhe Ende Luthers und der Reformation sein kon-
nen, aber nun schaltet sich erstmals ein machtiger Verbündeter ein:
sein Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, dem
Luther nie persönlich begegnen wird, der aber nun lebenslang sei-
ne schutzende Hand uber ihn halten wird. Ob aus Begeisterung fur
Luthers Thesen oder machtpolitischem Kalkul oder weil Luther die
Wittenberger Universität beruhmt machte, wissen wir nicht. Viel-
leicht war’s von allem ein wenig, aber diese Erfahrung, dass die welt-
liche Obrigkeit ihn, den Mönch und Gottesdiener, vor der geistlichen
Obrigkeit, dem angeblichen Stellvertreter Christi und der heiligen
Mutter Kirche schützen muss, wird Luthers weiteres Denken tiefer
beeinflussen als ihm vielleicht selbst je bewusst war.
Der Kurfürst gehort zu denen, die den Kaiser wahlen dtirfen,
ein Privileg, das ihm Macht und Einfluss verschafft. Und so kann er
durchsetzen, dass Luther nicht in Rom, sondern in Deutschland ver-
hort wird. Hier konnte der Kurfürst notfalls eingreifen, bevor man
Luther auf dem Scheiterhaufen verbrennt. Das Verhor sollte wahrend des Augsburger Reichstags 1518 statt- finden, auf dem die >>causa Luther<< aber nur ein Tagesordnungspunkt weit hinten ist. Hauptzweck ist die Aufstellung einer Streitmacht ge-
gen die Turken. Dafür brauchen Kaiser Maximilian und Papst Leo die
deutschen Kurfiirsten, also auch Friedrich den Weisen.
Hinzu kommt: Kaiser Maximilian ist amtsmüde, will Konig Karl von
Spanien inthronisieren. Das aber liegt nicht im Interesse des Papstes,
da kame zu viel weltliche Macht in einer Hand zusammen, und in Rom
fährt man besser mit schwachen Kaisern. Die Wahlfürsten aber sind
70 nicht abgeneigt, Karl zu wählen. Nur der Kurfürst Friedrich hat Be-
denken und könnte daher zu einem Verbündeten des Papstes werden -
ausgerechnet dieser Lutherfreund. Das verlangt diplomatisches Fin~
gerspitzengefühl, degradiert gleichzeitig Luther zu einem Rädchen
im großen Getriebe der Weltpolitik, was aber gut für ihn ist. Das Räd-
chen zu eliminieren ist nicht vordringlich, eilt nicht, viel wichtiger
ist es, eine Streitmacht gegen die Türken und einen genehmen Kaiser
zu bekommen. Für komplizierte diplomatische Angelegenheiten hat der Papst
seinen Kardinal Cajetan, einen intelligenten Kirchenkarrieristen. Er
hat den klaren Auftrag, Luther zu vernehmen und zum Schweigen zu
bringen, aber so, dass ihm nichts passiert. Cajetan soll ihn freundlich
behandeln, damit der Kurfürst nicht vergrault wird. Am 12. Okto-
ber 1518 soll dieses Verhör stattfinden. Im Prinzip bekommt Luther
damit, was er sich knapp ein Jahr zuvor gewünscht hatte: die Gele-
genheit, seine Thesen mit einem ranghohen Kirchenfunktionär zu
diskutieren. Andererseits waren die äußeren Bedingungen nicht ganz
so, wie er sie sich vorgestellt hatte. Er wollte nicht verhört, sondern gehört werden. Und er wollte nicht hinter verschlossenen Türen, sondern öffentlich disku-
tieren, und nicht nur mit einem einzigen Abgesandten des L
Papstes, sondern mit der ganzen Community der Kirche und ^
der Theologie. Aber Luther war zu diesem Zeitpunkt natürlich schon nicht
in der Lage, die Bedingungen zu diktieren, und musste schon
sein, dass er wenigstens die Bedingung ››in Rom« losgeworden
Die andere Bedingung aber, eine wissenschaftliche
auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die würde er sich
kämpfen, dachte Luther. Er würde sich nicht vernehmen
ein Angeklagter, sondern diesen Cajetan in einen theologischen Disput verwickeln. Doch davon weiß Cajetan nichts. Luther wird einfach wiederrufen müssen,
72 denkt Cajetan. Allein schon, weil wir so freundlich sind. auf die die üblichen Mittel - Drohung, Folter, Zwang - zu verzichten, müsste dieser Störenfried doch gerne und dankbar die Chance ergreifen, durch Widerruf fröhlich am Leben zu bleiben.
Als sich die beiden erstmals einander gegenüberstehen, erkennen vermutlich beide auf Anhieb, dass sie nicht nur theologisch Antipoden sind. Hier der wenig weltgewandte, mit Tricks und Finessen nicht vertraute Luther, der das holprige Kirchenlatein deut-scher Theologen spricht- dort der weltmännisch-erfahrene
Cajetan, der das elegante Latein der römischen Dichter spricht und
hinter einer höflichen Maske den knallharten Verhandler verbirgt. (26 )
Und so eröffnet der Kardinal das Gespräch mit Luther am 12. Oktober 1518 scheinbar freundlich und ehrerbietig mit der Mitteilung,
dass er nicht disputieren, sondern die leidige Angelegenheit
aus der Welt schaffen wolle. Eine Zeit lang reden die beiden
aneinander vorbei, Cajetan argumentiert juristisch, zitiert Erlasse,
Verfügungen, Dekrete. Luther argumentiert theologisch, zitiert die
Briefe des Paulus, die Evangelien, die Propheten. Der eine beruft
aufs irdische Kirchenrecht, der andere auf Gottes Weltgericht, und
der Ton zwischen den beiden wird zunehmend schärfer. Schließlich
spricht Cajetan Klartext: ››Du wirst widerrufen müssen, ob du willst
oder nicht«
74 Luther bittet sich bis zum nächsten Tag Bedenkzeit aus, sortiert
seine Gedanken, geht noch einmal alles durch und kommt zu dem
Ergebnis: Kirchenrecht, Tradition und Menschenverstand sind für
theologische Sachfragen nicht entscheidend. Das ist allein die Bibel.
Und mit der Bibel lassen sich der Ablass, die Stellung des Papstes und
noch vieles mehr nicht begründen. Genau das sagt er am nächsten Tag dem verblüfften Kardinal. Und noch etwas macht er deutlich: Er möchte nicht, dass über seine Lehre per Befehl, allein durch päpstliche Macht entschieden wird. Er möchte, dass über die Wahrheit oder Falschheit seiner Thesen an Europas
Universitäten öffentlich diskutiert wird.
Der Kardinal und dessen Begleiter sind entsetzt über so viel Stur-
köpfigkeit und den Leichtsinn, mit dem Luther seinen Kopf riskiert.
Sie reden auf ihn ein, können nicht glauben, dass Luther ihr freund-
liches Angebot ausschlägt, bestürmen ihn, er solle doch widerrufen,
nur eines einzigen Wörtleins - revoco - bedürfe es, und alles sei wie-
der im Lot. Nicht für Luther. ››Niemals<<, sagt er.
Ein drittes Gespräch mit Cajetan endet wie die beiden Gespräche
davor. Cajetan probiert es ein viertes Mal. Jetzt legt er alle diplomatische
Höflichkeit ab. Er will die Sache endlich abhaken. Lautstark mono-
logisierend, seine ganze Macht und Amtsautorität ausspielend, mit
Einschüchterung und Drohung fordert er Luther ein letztes Mal auf,
zu widerrufen, sonst _...
»Fast zehnmal fing ich an zu reden<<, berichtet Luther später sei-
nen Freunden, »ebenso oft donnerte er mich nieder und redete allein.
Endlich fing auch ich an zu schreien.<<27
Endlich fing auch er an zu schreien - so geht es jetzt immer wei-
ter.
Der Eindruck, den die beiden Streitparteien voneinander haben,
verfestigt sich nun von Jahr zu Jahr. Für die Deutschen sind die
75 ››Römlinge« aalglatte, geschmeidige, intrigante, korrupte, verlogene,
dekadente Südländer. Für die Italiener sind die Lutheraner die häss-
lichen Deutschen, ungebildete, jähzornige, hochmütige, trunksüch-
tige, unberechenbare, wankelmütige, grobschlächtige Barbaren.“
Wann immer die mächtige Kirche und der ohnmächtige Luther
aufeinanderprallen, spielen die Römlinge ihre Überlegenheit aus, und
vermutlich empfindet Luther auch eine gewisse Unterlegenheit, denn
oft weicht er erst einmal zurück, bis er mit dem Rücken zur Wand
steht. Dann aber springt er wie ein wildes Tier seine Gegner an, über-
schreitet seine Verteidigungslinie und verwandelt seine Ohnmacht
mithilfe seiner Wortmacht in Gegenmacht. Je mehr sie ihn zu drang-
salieren versuchen, desto entschlossener geht er in die Offensive.
In Rom ist längst klar, dass dieser Mann auf den Scheiterhaufen
muss. Luther wird klar, dass er sich nichts und niemandem mehr beu-
gen wird, selbst wenn er auf den Scheiterhaufen muss. Er lässt nur
noch einen Herrn über sich zu: Gott.
76 Der Bruch, der Bann und der Beginn einer neuen Zeit
Als Luther nach dem letzten Gespräch mit Cajetan gefragt wird, wie
es denn jetzt weitergehen soll und wo er bleiben wolle, sagt er: »Un-
term Himmel.« Was so viel heißt wie: in Gottes Hand.
Luther weiß jetzt, dass es sich bei dem Personal, mit dem er es zu
tun bekommen hatte und noch zu tun bekommen würde, nicht um
Glaubende und Gottesfürchtige handelt, sondern um Glaubensbeam-
te, professionelle Manager des Kirchenbetriebs, Karrieristen, Funk-
tionäre, die selten oder noch nie um die Wahrheit gerungen, einen
theologischen Gedanken gründlich durchdacht, geschweige denn
existenziell durchlitten hatten. Die vielen Argumente, die sich Luther
für das Gespräch mit Cajetan zurechtgelegt hatte, die befreienden Er-
kenntnisse, die er sich über viele Jahre mühsam erkämpft hatte, die
existenziellen Erfahrungen im Ringen mit Gott ~ das alles hat diesen
Kirchenkarrieristen überhaupt nicht interessiert.
War ja auch nicht mein Job, würde Cajetan heute darauf antwor-
ten. Ich bin doch nicht nach Augsburg gereist, um mich für die aus
dem Ruder gelaufenen Gedanken eines unbedeutenden Mönches aus
der Provinz zu interessieren. Vielmehr lautete mein Auftrag, die Stö-
rung, die von Luther ausging, zu beseitigen und ihm klarzumachen,
dass es nur noch zwei Möglichkeiten gibt: Entweder du widerrufst
und wirst fortan wieder still sein, oder du bekommst einen ››fairen«
Ketzerprozess, der im Feuer enden wird.
Luther in seiner unschuldigen Naivität war diese Klarheit des Ca-
jetan'schen Auftrags vor seinem Gespräch wohl kaum so bewusst. Da-
nach aber war er um eine Erfahrung reicher, zu der sich im weiteren
Verlauf immer mehr ähnliche Erfahrungen gesellten, die ihn seiner
einst geliebten Kirche zunehmend entfremdeten.
76 In unserer heutigen Sprache kann man diese Erfahrungen folgen-
dermaßen zusammenfassen: So wie Cajetan sind sie alle, die rangho-
hen Kleriker. Keine Hirten sind sie, keine Seelsorger, keine Verkün-
der des Evangeliums, keine demütigen Sünder, sondern eitle Manager
des Kirchenbetriebs, gewiss tüchtig, intelligent, fleißig, gebildet,
weltgewandt, manche sogar sympathisch, andere arrogant, faul und
überheblich, aber alle sind zuvörderst Profis der Macht, der sie die-
nen, die ihnen ihr Auskommen sichert, sie mit regelmäßigen Beför-
derungen erfreut, ihnen einen hohen sozialen Status und Privilegien
verschafft. Ihr Bestreben ist es, gemäß ihrer Funktion innerhalb der
Hierarchie der Macht möglichst reibungslos und effizient zu funkti-
onieren. An so etwas wie Wahrheit, die ja doch meistens nur stört, ja
sogar der eigenen Stellung und dem eigenen Betrieb gefährlich wer-
den kann, besteht daher ausdrücklich kein Interesse. Das Schicksal
ihrer anvertrauten Gläubigen ist ihnen schon seit Jahrhunderten so
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