KAPITEL VII
Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
Beginn der “Big Science”
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Ein entscheidendes Ereignis im Leben von OTTO HAHN und LISE MEITNER
war die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.
Bei der großen Jahrhundertfeier der Universität Berlin am 11. Oktober l9l0
hatte KAISER WILHELM I. den Plan bekanntgegeben, „selbständige
Forschungsinstitute als integrierende Teile des Wissenschaftlichen Ge-
samtorganismus" zu schaffen. Die Notwendigkeit. an den Instituten
immer speziellere Forschung zu treiben war in Widerspruch geraten
zu den Erfordernissen der akademischen Lehre, wo es darauf an-
kommt, das Gesamtgebiet übersichtlich darzustellen.
Geistige Grundlage der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde die im
Jahr zuvor von ADOLF von HARNACK ausgearbeitete Denkschrift. Sein
Hauptbeispiel war gerade die radioaktive Forschung: „Ganze Diszi-
plinen gibt es heute. die in den Rahmen der Hochschule überhaupt
nicht mehr hineinpassen, teils weil sie so große maschinelle und in-
strumentelle Einrichtungen verlangen. daß kein Universitätsinstitut
sie sich leisten kann. teils weil sie sich mit Problemen beschäftigen. die
für die Studierenden viel zu hoch sind und nur jungen Gelehrten vor-
getragen werden können. Dies gilt zum Beispiel für die Lehre von den
Elementen und den Atomgewichten. wie sie sich gegenwärtig ausge-
bildet hat. Sie ist eine Wissenschaft für sich: jeder Fortschritt auf die-
sem Gebiete ist von der größten Tragweite für das Gesamtgebiet der
Chemie; aber im Rahmen der Hochschule kann diese Disziplin nicht
mehr untergebracht werden, sie verlangt eigene Laboratorien."
Bei der Abfassung der Denkschrift wurde HARNACK von dem Medizi-
ner AUGUST PAUL VON WASSERMANN und dem Chemiker
EUGEN FISCHER beraten. So gehen die Ausführungen über die
Radioaktivität mit großer Wahrscheinlichkeit auf FISCHER zurück.
Als nach der offiziellen Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
am 10. Januar 1911 sehrrasch feststand, daß als erstes Institut das Kaiser-
Wilhelm-Institut fürChemie entstehen sollte, fragte EMIL FISCHER
seinen Radiochemiker.ob er eine Stelle an dem neuen Institut haben wolle.
Direktor des Instituts und zugleich Leiter der Abteilung für anorgani-
sche und physikalische Chemie wurde ERNST BECKMANN, zweiter Di-
rektor und Leiter der Abteilung für organische Chemie RICHARD
WILLSTÄTTER. OTTO HAHN erhielt eine eigene kleine Abteilung und
eine Berufung auf (zunächst) fünf Jahre. Wenig später kam auch LISE
MEITNER an das neue Institut.
Kurz zuvor hatte OTTO HAHN ein Fräulein EDITH JUNGHANS kennenge-
lernt. „Am 5. Oktober 1912 zeigte ich Fräulein JUNGHANS das gerade
fertiggestellte Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie und auf dem an-
schließenden Spaziergang in den nahegelegenen Grunewald verlobten
wir uns."
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Eröffnung der ersten Kaiser-Wilhelm-Institute 1912:
Wilhelm II., Emil Fischer und Adolf von Harnack (von links nach rechts).
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Am 12. Oktober war feierliche Einweihung des neuen Instituts in An-
wesenheit KAISER WILHELM I. „Dem Kaiser sollte etwas gezeigt were
den“, erzählte später OTTO HAHN, „und ich wurde gebeten, ihm einige
schöne radioaktive Präparate zu demonstrieren. Dies geschah mit ei-
nem Mesothorpräparat von etwa einem Drittel Gramm Radiumäqui-
valent, sehr nett auf einem Samtpolster in einer kleinen Schachtel
montiert und einem emanierenden Radiothorpräparat dessen Ema-
natinn sehr hübsch über einem Leuchtschirm hin- und herwehte. Vor-
her allerdings hatte es noch eine unerwartete Schwierigkeit gegeben.
Am Tage vor der Eröffnungsfeier des lnstituts kam ein Flügeladjutant
des Kaisers zu einer Generalprobe in das Institut. Als ich den hohen
Offizier in das verdunkelte Zimmer führen wollte um ihm die radio-
aktiven Präparate zu zeigen. erklärte der Flügeladjutant: ,Ausge-
schlossen, wir können Majestät nicht in ein völlig dunkles Zimmer
Schickenf. Es gab nun längere Diskussionen rnit dem Adjutanten und
dem um Hilfe angerufenen EMIL FISCHER. Das Ergebnis war ein klei-
nes rotes Lämpchen als Kompromiß. Als dann am nächsten Tag der
Kaiser kam, hatte er nicht die geringste Hemmung, auch in den dunk-
len Raum zu gehen, und alles wickelte sich programmgemäß ab. LISE
MEITNER stand zunächst bescheiden im Hintergrund, aber sie konnte
nicht verhindern, daß auch sie Seiner Majestät vorgestellt wurde, der
dann leutselig ein paar Worte sagte."
35 Jahre später war OTTO HAHN selbst Präsident der Gesellschaft. Er
setzte sich dafür ein, den Namen des Kaisers als Bezeichnung für die
Gesellschaft zu erhalten, während LISE MEITNER durch ihre späteren
Erlebnisse im Berlin der dreißiger Jahre und im Ausland erkannt hat-
te, daß die historische Kontinuität in Deutschland nicht zu pietätvoll
gepflegt werden sollte.
Für den Kaiser waren Wissenschaft, Heer und Marine glänzendes
Spielzeug. Kriegerische Reden und Heldenposen gehörten dazu; von
der eigengesetzlichen Dynamik eines solchen Spieles ahnte er nichts.
Ohne es zu wollen, hatte er Schuld am Ausbruch des Krieges. „All
seine unberechenbaren und brüsken Handlungen während der letzten
Jahre sind das Werk pangermanistischer Drahtzieher, die ihn verführ-
ten, ohne daß er sich dessen bewußt wurde.“ Dies war die Meinung
EINSTEINs.
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Laue als Reserveoffizier im Jahre 1904. Später sagte Einstein über seinen
Freund, daß er sich „schrittweise von den Traditionen der Herde losgerissen“
habe „unter der Wirkung eines starken Rechtsgefühls. “ Einstein meinte damit
Laues Entwicklung vom Offizier and loyalen Staatsdiener zum Kämpfer
gegen die Tyrannei des Dritten Reiches.
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Schon in den ersten Kriegstagen 1914 wurde OTTO HAHN eingezogen.
Mitte Januar 1915 wurde er zu FRITZ HABER, dem Leiter des Kaiser-
Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie, beordert. FRITZ HABER
hatte 1908 das Verfahren der Hochdruck-Ammoniak-Synthese erfun-
den, dem jetzt im Kriege eine entscheidende Bedeutung zufiel. Er war
Jude und ein glühender deutscher Patriot.
„HABER erklärte mir“, erzählte später OTTO HAHN, „daß die erstarrten
Fronten im Westen nur durch neue Waffen in Bewegung zu bringen
seien, wobei man in erster Linie an aggressive und giftige Gase, vor al-
lem Chlorgas. denke, das aus den vordersten Stellungen auf den Geg-
ner abgeblasen werden müsse. Auf meinen Einwand, daß diese Art
von Kriegsführung gegen die Haager Konvention verstoße, meinte er,
die Franzosen hätten wenn auch in unzureichender Form, nämlich
mit gasgefüllter Gewehrmunition - den Anfang hierzu gemacht. Auch
seien unzählige Menschen zu retten, wenn der Krieg auf diese Weise
schneller beendet werden könne.“
Im Pionierregiment 36 trafen sich die Berliner Kollegen wieder: JAMES
FRANCK, GUSTAV HERTZ, WILHELM WESTFAHL und ERWIN MADELUNG.
Noch Ein Jahr zuvor hatten sie im Hause PLANCKs Chorwerke von Haydn
und Brahms aufgeführt und im Kolloquium um die neue Physik gerungen.
Jetzt lernten sie, mit Gas Menschen umzubringen.
OTTO HAHN wurde an allen Fronten eingesetzt. In Polen leitete er ein-
mal einen Gasangriff mit einer Mischung aus Chlor und Phosgen.
Beim anschließenden Vormarsch traf er auf einige gasvergiftete Rus-
sen. „lch war damals tief beschänıt und innerlich sehr erregt. Erst ha-
ben wir die russischen Soldaten mit unserem Gas angegriffen, und als
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wir dann die armen Kerle liegen und langsam sterben sahen, haben wir
ihnen mit unseren Selbstrettern das Atmen erleichtert. Da wurde uns
die ganze Unsinnigkeit des Krieges bewußt. Erst versucht man, den
Unbekannten im feindlichen Graben auszuschalten, aber wenn man
ihm Auge in Auge gegenübersteht, kann man den Anblick nicht ertra-
gen und hilft ihm wieder. Doch retten konnten wir die armen Men-
schen nicht mehr.“
Wie viele andere meldete sich auch MAX VON LAUE. freiwillig beim
Kriegsausbruch: Seiner Meinung nach geschah Deutschland Unrecht.
Er lehnte sogar einen Ruf in die Schweiz ab, um das Schicksal seines
Volkes zu teilen. Da aber LAUE wegen eines Nervenleidens l911 sei-
nen Abschied als Reserveoffizier genommen hatte, wurde er jetzt von
der Musterungskommissien abgewiesen.
Im Juli 1915 rückte LISE MEITNER ins Feld. Durch ihre Arbeit war sie
Spezialistin auf dem Gebiet der Strahlenphysik geworden und diente
nun ihrem Vaterland Österreich in Frontspitälern als Röntgenologin.
Wie in der Wissenschaft war EINSTEIN auch im politischen Urteil sei-
nen Kollegen um Jahre voraus. Für ihn war vom ersten Tage an der
Krieg ein zu verachtendes Unternehmen. „Die internationale Kata-
strophe lastet schwer auf mir internationalem Menschen“. sagte er zu
PAUL EHRENFEST. „Man begreift schwer beim Erleben dieser großen
Zeit, daß man dieser verrückten. verkommenen Spezies angehört, die
sich Willensfreiheit zuschreibt. Wenn es doch irgendwo eine Insel für
die Wohlwollenden und Besonnenen gäbe. Da wollte ich auch glühen-
der Patriot sein.“
Aus der I. Auflage:
Über den Kriegsdiener hat Professor Walther Gerlach, ein Freund, der Hahn’s Wesen wohl am ehrlichsten zu schildern weiß, gesagt: “Hahn wurde - wie die Freunde James Franck, Gustav Hertz und andere - auf Veranlassung von Fritz Haber mit Arbeiten für den Gaskrieg beauftragt. Dieser brachte ihn an vordersten Stellungen aller Fronten, die Entwicklung und Erprobung neuer Kampf- und Schutzstoffe mehrfach in Lebensgefahr...Wir haben in späteren Jahren öfter über diese Kriegsarbeiten gesprochen: eigentlich war es doch fürchterlich, was wir da machten, aber es war damals so, mehr sagte Hahn nicht, so unreflektiert, wie er es in seiner Selbstbiographie darstellt, hier wie an anderen Stellen früher Gelebtes und Erlebtes nicht mit später Gedachten verschleiernd. Diese, auch sich selbst nie schonende Ehrlichkeit ist wohl der tiefste Grund für Vertrauen, Achtung und Liebe, die ihm entgegengebracht wurden.”
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Otto Hahn und seine Kollegen als Offiziere im Ersten Weltkrieg.
Von links nach rechts; Hahn, Kurtz, Madelung, Westphal, Hertz.
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Eigenhändig geschriebene autobiographische Skizze Einsteins (1916/17).
KAPITEL VIII
Die Allgemeine Relativitätstheorie
Harmonien des Makrokosmos
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„Sie dürfen mir nicht böse sein, daß ich erst heute antwortete“, schrieb
ALBERT EINSTEIN im November 1915 an ARNOLD SOMMERFELD, „aber
ich hatte im letzten Monat eine der aufregendsten, anstrengendsten
Zeiten meines Lebens, allerdings auch eine der erfolgreichsten.“ Mit-
ten im Ersten Weltkrieg. als an den Fronten bei Arras und Ypern, bei
Belgrad und Lemberg Tag um Tag zehntausend Menschen getötet
wurden, fand EINSTEIN mit den Grundgleichungen der Allgemeinen
Relativitätstheorie tiefverborgene kosmische Harmonien. In den ewi-
gen Gesetzen der Natur kommt nach seiner Überzeugung die Existenz
Gottes zum Ausdruck, nichts aber habe Gott zu tun mit den Niederun-
gen der Menschenwelt. „Ich glaube an SPINOZAs GOTT“. sagte EIN-
STEIN, „der sieh in der Harmonie des Seienden offenbart, nicht an ei-
nen Gott, der sich mit den Schicksalen und Handlungen enschen
abgibt.“
Von der Richtigkeit seiner Theorie war EINSTEIN überzeugt. als er sah,
daß sich aus den Gleichungen als erste Näherung das Newtonsche Mas-
senanziehungsgesetz ergab. Seit ISAAC NEWTON Ende des l7. Jahrhun-
derts erstmalig die Keplerschen Planetengesetz abgeleitet hatte, war
sein Gravitationsgeset: immer wieder neu bestätigt worden. Alle Ar-
gumente für NEWTON galten nun auch für EINSTEIN. Schon frühzeitig
hatte sich EINSTEIN über Effekte zweiter Näherung Gedanken ge-
macht; diese Phänomene mußten es dann ermöglichen, zwischen den
beiden Theorien zu entscheiden.
„Das Herrliche, was ich erlebte". berichtete EINSTEIN im November
l915, „War nun, daß sich nicht nur NEWTON Theorie als erste Nähe-
rung, sondern auch dic Perihelbewegung des Merkur als zweite Nähe-
rung ergab. FREUNDLICH hat eine Methode, die Lichtablenkung. . .zu
messen. Nur die Intrigen armseliger Menschen verhindern es, daß
diese letzte wichtige Prüfung der Theorie ausgeführt wird. Dies ist mir
aber doch nicht so schmerzlich, weil mir die Theorie besonders auch
mit Rücksicht auf die qualitative Bestätigung der Verschiebung der
Spektrallinicn genügend gesichert erscheint.“
Zur Beobachtung der Lichtablenkung am Sonnenrand während einer
Sonnenfinsternis hatte der junge Astronom ERWIN FREUNDLICH schon
Mitte 1914 eine Expedition nach Rußland unternommen. aber der
Kriegsausbrueh machte das Projekt hinfällig. Das waren „die Intrigen
armseliger Menschen“, von denen EINSTEIN geschrieben hatte.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden von England aus Ex-
peditionen zur Beobachtung der am 29. Mai 1919 in den Tropen statt-
findenden totalen Sonnenfinsternis gesandt, eine nach Nordbrasilien,
eine auf die portugiesische Insel Principe an der afrikanischen Küste.
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Am 6. November 1919 wurden die Ergebnisse in einer feierlichen ge-
meinsamen Sitzung der Royal Society und der Royal Astronomical S-
ociety in London offiziell bekanntgegeben. Der Präsident der Royal So-
ciety bezeichnete dabei die Allgemeine Relativitätstheorie als eine der
größten Errungenschaften in der Geschichte des menschlichen Den-
kens: „Es dreht sich nicht um die Entdeckung einer entlegenen Insel.
Es ist die größte Entdeckung auf dem Gebiet der Gravitation, seit
NEWTON seine Prinzipien aufgestellt hat.“
ISAAC NEWTON war das große Vorbild für die Physiker und Astrono-
men. Sein überlebensgroßes Porträt beherrschte die Stirnseite des Sit-
zungssaales. Fast 25 Jahre lang, von 1703 bis zu seinem Tode, hatte er
als Präsident der Royal Society amtiert, und noch mehr als anderswo
galten in London Werk und Methode NEWTONs geradezu als unantast-
bar. Und nun, so schien es den Mitgliedern der Royal Society und der
Royal Astronomical Society wurde verkündet: „NEWTON ist tot, es
lebe EINSTEIN.“
Das war freilich eine Überinterpretation. „Niemand soll denken",
schrieb EINSTEIN, „daß durch diese oder irgendeine andere Theorie
NEWTONS große Schöpfung im eigentlichen Sinne verdrängt werden
könnte. Seine klaren und großen Ideen werden als Fundament unserer
ganzen modernen Begriffsbildung auf dem Gebiet der Naturphiloso-
phie ihre eminente Bedeutung in aller Zukunft behalten.“
Später hat WERNER HEISENBERG den Begriff “abgeschloßene Theorie”
geprägt und als Hauptbeispiel die Newtons Mechanik angeführt.
Nach HEISENBERG heißt es heute nicht mehr: „Die Newtonsche Me-
chanik ist falsch und muß durch die Quantentheorie oder die Allge-
meine Relativitätstheorie ersetzt werden". Sondern man gebraucht jetzt
die Formulierung: „Die klassische Mechanik ist eine in sich geschlos-
sene wissenschaftliche Theorie. Sie ist überall eine streng „richtige“ Be-
schreibung der Natur, wo ihre Begriffe angewendet werden können.“
Der Newtonsche Mechanik wird also heute noch ein Wahrheitsgehalt
zugebilligt, nur wird durch den Zusatz „wo ihre Begriffe angewendet
werden können“ angedeutet, daß der Anwendungsbereich der New-
tonsche Theorie für beschränkt gehalten wird.
„NEWTON, verzeih mir“, schrieb EINSTEIN: „Du fandest den einzigen
Weg, der zu deiner Zeit für einen Menschen von höchster Denk- und
Gestaltungskraft eben noch möglich war. Die Begriffe, die du schufst.
sind auch jetzt noch führend in unserem physikalischen Denken, ob-
wohl wir nun wissen, daß sie durch andere, der unmittelbaren Erfah-
rung ferner stehende, ersetzt werden müssen. wenn wir ein tieferes
Begreifen der Zusammenhänge anstreben.“
49
Die klassische Mechanik NEWTONs ruhte- neben den Begriffen der ab-
soluten Zeit und des absoluten Raumes - auf der Vorstellung einer in-
stantanen Fernkraft. Der mathematische Ausdruck dafür ist das New-
tonsche Massenanziehungsgesetz. Demgegenüber ist der wesentliche
Inhalt der Spezielle Relativitätstheorie von 1905: Jede Energie kann
sich höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Damit wird auch
für die Gravitation eine Wirkung fortschreitend von Raumpunkt zu
Raumpunkt gefordert, das heißt mathematisch eine Feldtheorie. Die
Allgemeine Telativitätstheorie erfüllt diese Forderung.
Die Kollegen fanden die Gedanken EINSTEINs „fesselnd und aufre-
gend, aber schwierig, fast zum Fürchten“. MAX BORN nahm Sonder-
drucke mit auf seine Hochzeitsreise Lind verbrachte damit viele Stun-
den.
In Wien beschäftigte sich mit der EINSTEINschen Theorie auch WOLF-
GANG PAULI, damals noch Schüler des Döblinger Gymnasiums. Als
PAULI im Oktober l9l8 zum Studium der Physik an die Universität
München kam, hatte er eine druckreife Abhandlung im Gepäck, eine
Anwendung der Theorie auf die Bewegung des Planeten Merkur,
SOMMERFELD registrierte erstaunend.
Jede Generation hat ihre Genies. Im 15. Jahrhundert wurden die
hochbegabten jungen Menschen von der Malerei und Bildhauerei an-
gezogen. lm 18. Jahrhundert gingen sie nach Wien und schufen sich
einen Namen als HAYDN, MOZART und BEETHOVEN. Im 20. Jahrhun-
dert war es durch die Relativitätstheorie EINSTEINs die theoretische
Physik, die die große Faszination ausübte.
50
Einstein-Turm in Potsdam. Bewußt gab der Architekt Erich Mendelsohn dem
Bauwerk den Charakter eines Monumentes zur Erinnerung an die epochale Be-
deutung der Relatvitätstheorie.
50
Die Diskussionen über die Relativitätstheorie gingen bald über den en-
geren Kreis der Fachleute hinaus. Vollends erregten die aus London
kommenden Nachrichten - die feierliche Bestätigung der Theorie -
ungeheures Aufsehen in der Öffentlichkeit. Sensation aber machten
nicht so sehr die wissenschaftlichen Aspekte, sondern die politischen:
Seit Ende des Krieges lebten die Menschen in Deutschland in einem
Zustand ständiger Gereiztheit und Unruhe. Sie mochten sich nicht ab-
finden mit der Niederlage. Nach dem Inkrafttreten des Versailler Frie-
denvertrages l920 wirkte der Ausschluß Deutschlands von den olym-
pischen Spielen als neuerliche Ungerechtigkeit und Zurücksetzung.
Als einzige Genugtuung blieben die Erfolge der deutschen Wissen-
schaft. Von den ehemals „drei Pfeilern deutscher Weltgeltung“ stand
nach dem Untergang der Militarmacht und der schweren Beeinträch-
tigung dcr Industrie allein noch die Wissenschaft aufrecht. „Sie ist
heute vielleicht das einzige, um das die Welt Deutschland noch benei-
det“, konstatierte ADOLF VON HARNACK, der Präsident der Kaiser-
Wilhelm-Gesellschaft.
Daß nun die Theorie eines deutschen Gelehrten von der höchsten wis-
senschaftlichen Instanz Englands anerkannt wurde, erfüllte die Men-
sehen mit wilder Freude. Auf dem Gebiet der Wissenschaft war es also
den stolzen Briten nicht möglich, so sah und sagte man es, die deut-
schen Leistungen zu schmähen. Forscher und Staatsmänner fühlten
sich in ihrer Entschlossenheit bestärkt. die Spitzenstellung der deut-
schen Wissenschaft unter allen Umständen zu bewahren. Ungeheure
Anstrengungen wurden unternommen, und das in einer Zeit der größ-
ten innenpolitischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
So kam es auch um die Jahreswende 1919/20 zur Gründung der Ein-
stein-Stiftung. Ihre Aufgabe war es, die Mittel für eine moderne astro-
nomische Beobachtungsstätte aufzubringen. Die deutschen Gelehr-
ten, die ja den ersten, ohne ihre Schuld mißglückten Versuch in die
Wege geleitet hatten, die Allgemeine Relativitätstheorie zu bestätigen,
sollten in die Lage versetzt werden, die Forschung auf diesem aus-
siclıtsreichen Gebiet wieder aufzunehmen.
In Potsdam bei Berlin entstand das Einstein-Institut, bestehend aus
Laboratorien und dem l8 Meter hohen Turmteleskop. Das von ERICH
MENDELSOHN entworfene Bauwerk, der sogenannte Einstein-Turm,
fand Beachtung als Erstlingswerk eines neuen architektonischen Sti-
les. Bewußt gab der Architekt dem Bau den Charakter eines Monu-
mentes zur Erinnerung an die epochale Bedeutung der Relativitäts-
Theorie.
51
Der berühmte Brief Einsteins an Arnold Sommerfeld vom 28. November 1915:
Hier teilte Einstein erstmalig die richtige Formeln der Relativitäts-
Theorie mit. Fortsetzung und Schluß siehe Seite 52.
52
Brief Einsteins
53
Seit den Jahren des Streites um den Darwinismus hatte keine wissen-
schaftliche Theorie die Gemüter so sehr erhitzt. Nicht nur die Physi-
ker, sondern jeder wollte wissen, was diese EINSTEINsche Relativität ei-
gentlich bedeute, die, wie man hörte, die alten Anschauungen von
Raum und Zeit in radikaler Weise umstürze. Die neue Theorie erwies
sich dabei selbst für Fachleute als außerordentlich schwierig. Zu einem
wirklichen Verständnis vermochten zunächst nur wenige vorzudrin-
gen. Gelegentlich wurde in den Zeitungen spekuliert: Wieviel Men-
sehen können EINSTEIN wirklich begreifen? Fünf oder sieben?
Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie war der altbekannte
Satz von der Gleichheit der schweren und tragen Masse. Bei den Be-
wegungsvorgängen hat als fundamentale Eigenschaft der Körper der
Begriff „Masse“ Bedeutung, für den NEWTON auch „Menge der Mate-
rie“ gesagt hatte. Die „Masse“ spielt erstens eine Rolle beider soge-
nannten Schwere- oder Gravitationswirkung, zweitens bei den durch
einwirkende Kräfte hervorgerufenen Besehleunigungen. Je mehr
Masse ein Körper besitzt, desto „träger“ wird er reagieren. Die beiden
Fundamentaleigenschaften der Masse. Trägheit und Schwere, gehen
nun bemerkenswerterweise immer Hand in Hand. Der doppelt so
schwere Körper ist auch genau doppelt so träge.
Hier setzten EINSTEINs Überlegungen an. Stellt man sich vor, daß in
einem Raumschiff mit undurchsichtigen Wänden Menschen und phy-
sikalische Apparate untergebracht sind, so können die Insassen nicht
unterscheiden, ob das Raumschiff auf der Erdoberfläche ruht und
folglich einem homogenen Gravitationsfeld ausgesetzt ist, oder ob sich
das Raumschiff irgendwo irn freien Weltraum fern von allen Him-
melskörpern befindet und sich mit einer konstanten Beschleunigung
bewegt.
Damals war an eine Weltraumfahrt noch nicht zu denken. EINSTEIN
sprach also statt von einem „Raumschiff“ von einem „geräumigen Ka-
sten“. Heute könnten wir die geschilderte Situation physikalisch reali-
sieren. zu EINSTEINs Zeiten handelte es sich um einen der typischen
,.Gedankenversuche“, die er so sehr liebte.
Wenn im Sonderfall eines homogenen Gravitationsfeldes Schwere
und Trägheit nur verschiedene Ausdrucksweisen für ein- und densel-
ben physikalischen Sachverhalt sind, dann wird das, so lautete EIN-
STEINs Hypothese, auch allgemein gelten: „In einem homogenen Gra-
vitationsfeld gehen alle Bewegungen so vor sich wie bei Abwesenheit
eines Gravitationsfeldes in bezug auf ein gleichförmig beschleunigtes
Koordinationssystem. Galt dieser Satz für beliebige Vorgänge (Äqui-
valenzprinzip), so war dies ein Hinweis darauf, daß das Relativitäts-
prinzip auf ungleichförmig gegeneinander bewegte Koordinatensy-
steme erweitert werden mußte, wenn man zu einer ungezwungenen
Theorie des Gravitationsfeldes gelangen wollte.“
lm Jahre 1908 hatte der Göttinger Mathematiker HERMANN MIN-
KOWSKI in Köln seinen berühmten Vortrag über Raum und Zeit gehal-
ten. Dabei hatte er den dreidimensionalen Raum und die Zeit mathe-
matisch zu einer vierdimensionalen Raum-Zeit-Welt zusammenge-
faßt. EINSTEIN entdeckte, daß die Struktur dieses Raumes, anschaulich
gesprochen seine Krümmung, von der Materieverteilung im Raum be-
stimmt wird.
53
1916 veröffentlichte Albert Einstein nach “mancherlei Irrtümern” die endgültige
Form der Allgeimeinen Relativitätstheorie in der Annalen der Physik, 4. Folge,
Band 49, Seiten 769 bis 822.
53
Schon einhundert Jahre zuvor hatte der große Göttinger Mathemati-
ker CARL FRIEDRICH GAUSS die Frage gestellt: Welche Art von Geo-
metrie ist in unserer Welt verwirklicht? Die Winkelsumme im Dreieck
beträgt, wie jeder Schüler lernt, 180 Grad. Dieser Satz gilt aber nur für
die Euklidische Geometrie. Freilich ist im Kleinen jede Geometrie
näherungsweise euklidisch. Wie ist es aber, wenn man ein großes
Dreieck nimmt, gebildet aus drei weit voneinander entfernten Berg-
spitzen?
Beauftragt mit der Hannoveranischen Landesvermessung hat GAUSS
das Dreieck Brocken, Inselsberg und Hohenhagen sehr genau ausge-
messen. Es ergab sich aber wieder -innerhalb der Meßgenauigkeit -
eine Winkelsumme von 180 Grad. Heute wissen wir, daß das von
GAUSS gewählte Dreieck noch viel zu klein war. Erst im astronomi-
schen Maßstab können sich Abweichungen zeigen.
54
Die Materieverteilung im Raum bestimmt seine Krümmung. Das war
EINSTEINs physikalischer Gedanke. Um diesen mathematisch durch-
führen zu können, mußte er sich mit der von GAUSS begründeten und
von BERNHARD RIEMANN weiter ausgeführten Theorie der höheren
Flächen beschäftigen. „Das eine ist sicher“, berichtete EINSTEIN, „daß
ich mich in meinem Lehen noch nicht annähernd so gcplagt habe und
daß ich große Hochachtung für die Mathematik eingeflößt bekommen
habe, die ich bis jetzt in ihren subtileren Teilen in meiner Einfalt als
puren Luxus ansah. Gegen dies Problem ist die ursprüngliche [Speziel-
le] Relativitätstheorie eine Kinderei.“
Im November 1915 war es EINSTEIN nach mancherlei Irrtümern end-
lich gelungen, die Feldgleichungen der Gravitation zu finden: „Von
der Allgemeinen Relativitätstheorie werden Sie überzeugt sein, wenn
Sie dieselbe studiert haben werden. Deshalb verteidige ich sie Ihnen
mit keinem Wort.“ Das hatte Einstein an ARNOLD SOMMERFELD ge-
schrieben. Tatsächlich wurde dieser einer der ersten Anhänger der
Theorie und hat in seinen Vorlesungen Generationen von Physikstu-
denten mit den Grundgedanken vertraut gemacht.
Zunächst aber blieb auch für viele Physiker und wohl ausnahmslos alle
physikalischen Laien die EINSTEINsche Theorie ein Buch mit sieben
Siegeln. Unverständnis aber birgt Gefahr.
Am Ende des Weltkrieges war das scheinbar so fest gefügte Gebäude
des Wilhelminischen Staates zusammengebrochen. Um die neuen
Formen des politischen Lebens tobten heftige Auseinandersetzungen.
In Kunst und Literatur brachen sich ebenso neue Ausdrucksformen
Bahn - was Wunder, daß die EINSTEINsche Relativitätstheorie in brei-
ten Kreisen dahingehend mißverstanden wurde, daß Einstein be-
hauptet oder bewiesen habe, „alles ist relativ.“
In dem Für und Wider um die Relativitätstheorie spielte in der politisch
gespannten Atmosphäre EINSTEINs jüdische Abstammung eine erheb-
liche Rolle. Die Publizität, die EINSTEIN - wider seinen Willen - ge-
wonnen hatte, wurde von seinen Gegnern als für den jüdischen Geist
typische Marktschreierei ausgelegt und eine Verabredung EINSTEINs
mit der „jüdischen“ Presse unterstellt.
Die Relııtivitätstlieorie, in Deutschland Zunächst, weil sie den briti-
schen Gelehrten Respekt abgenötigt, als „nationalität“ gefeiert, galt
nun als „jüdischer Weltbluff“. Diesen Meinungsumschlag auf der
rechten, der „völkischen“ Seite des politischen Spektrums hat EIN-
STEIN selbst früh vorausgesehen. Als er, kurz nach der gemeinsamen
Sitzung der Royal Society und der Royal Astronomical Society von der
Londoner „Times“ um einen Aufsatz gebeten wurde, gab er, wie er
schrieb, „zum Ergötzen des Lesers“ noch eine Anwendung der Relati-
vitätstheorie: „Heute Werde ich in Deutschland als ,Deutscher Gelehr-
ter“, in England als ,Schweizer Jude“ bezeichnet. Sollte ich aber einst in
die Lage kommen, als ,béte noire` präsentiert zu werden, dann wäre
ich umgekehrt für die Deutschen ein ,Schweizer Jude“, für die Englän-
der ein ,Deutscher Gelehrter“.“
So ähnlich kam es aueh, jedenfalls in Deutschland. In Berlin bildete
sich, unter Führung eines völlig unbekannten PAUL WEYLAND, eine
Arbeitsgemeinschaft deutscher Naturforscher zur Erhaltung reiner Wis-
senschaft. Die von EINSTEIN ironisch als ,,anti-relativitätstheoretische
54
GmbH“ bezeichnete Gesellschaft bekämpfte die EINSTEINsche Theo-
rie als jüdische Anmaßung und Vergiftung deutschen Gedankengutes.
ln einem Artikel in der „Täglichen Rundschau“ nannte WEYLAND sei-
nen Gegner ALBERT EINSTEIN spöttisch einen neuen ALBERTUS MA-
GNUS. Der Vergleich kommt uns heute geradezu naheliegend vor: In
seiner Epoche konnte jeder der beiden als der größte unter den Ge-
lehrten gelten, ALBERTUS MAGNUS im I3. Jahrhundert, ALBERT EIN-
STEIN im WEYLAND aber vermochte mit seinen abgeschmackten
Witzchen weder dem einen noch dem anderen gerecht zu werden:
„Herr ALBERTUS MAGNUS ist neu erstanden, guckte in die ernsten Arbei-
ten stiller Denker wie RIEMANN, MINKOWSKI, LORENTZ, MACH, GER-
BER, PALÁGYI und andere mehr, räusperte sich und sprach ein großes
Wort gelassen aus. Die Wissenschaft staunte. Die Öffentlichkeit war
starr. Alles brach zusammen. Herr EINSTEIN spielte mit der Welt
Fangball. Er brauchte nur zu denken, und flugs relativierte sich alles
Geschehen und Werden.“
Wer war dieser PAUL WIENAND, der den Schöpfer der Relativitätstheo-
rie mit so fadem Spott traktierte? Er scheint „gar kein Fachmann zu
sein“. konstatierte EINSTEIN: ,Arzt? Ingenieur? Politiker? Ich konnt’s
nicht erfahren.“
Was damals EINSTEIN und den Berliner Physikern nicht gelungen ist,
hat später auch die EINSTEIN-Biographen vergeblich beschäftigt.
„Manchmal, ganz selten zu allen Zeiten“, so etwa hatte STEFAN ZWEIG
in seinen „Sternstunden der Menschheit“ geschrieben, „tritt ein ganz
Unwürdiger auf die Weltbühne, um alsbald wieder zurückzusinken in
das Nichts.“ So spielte in der Geschichte der Wissenschaft PAUL WEY-
LAND nur einmal eine kurze und unrühmliche Rolle.
Am 24. August 1920 organisierte WEYLAND im großen Saal der Berli-
ner Philharmonie eine Massenversammlung gegen die Relativitäts-
theorie. Hier führte er das große Wort. „Mit schwerem Geschütz“, so
berichtete die Vossische Zeitung, „rückte Herr PAUL WEYLAND an. Er
wandte sich gegen die ,Einsteinschen Fiktionen`, ohne auch nur mit
einem Wort zu erklären, worin diese eigentlich bestanden. Physiker,
die für EINSTEIN eintraten, wurden gehörig verdächtigt, dieser selber
beschuldigt, daß er und seine Freunde die Tagespresse und sogar die
Fachpresse zu Reklamezwecken für die Relativitätstheorie eingespannt
hätten, Da man immer noch nicht erfuhr, worum es sich eigentlich
handelte, erscholl wiederholt der Ruf: ,Zur Sache!’. Herr PAUL WEY-
LAND erwiderte auf diese freundliche Aufforderung: ,Es sind entspre-
chende Maßnahmen getroffen, um Skandalmacher an die Luft zu set-
zen!” Nach etlichen Ausfällen gegen die Professorenclique, wobei der
Redner bei SCHOPENHAUER fleißige Anleihe machte, wurde über die
geistige Verflachung unseres Volkes geklagt . . . Daneben klang eine
antisemitische Note an, und EINSTEIN wurde ohne weiteres vorgewor-
Fen, daß seine Formeln über die Perihelbewegung des Merkur einfach
abgeschrieben worden seien.“
54
Albert Einstein (links) mit seinem ältesten Sohn Hans-Albert in Seiner Berliner
Wohnung 1927. Der Sohn war nur besuchsweise in Berlin, er lebte bei seiner
Mutter, der geschiedenen Frau Einsteins.
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Empfang in der Reichskanzlei 1931 in Berlin. Zu sehen sind von links nach rechts: Plancks Sohn Erwin, damals Oberregierungsrat, später Staatssekretär in der Reichskanzlei, Einstein, Ministerialrat Feßler, Max Planck. Einstein, Max und Erwin Planck trafen sich häufig zu Trioabenden: Max Planck (Klavier), Albert Einstein (Geige) und Erwin Planck (Cello).
Nach den Ereignissen des 20. Juli 1944 wurde Erwin Planck von den Nationalsozialisten hingerichtet.
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Albert Einstein: „Ich fühle mich als nirgends wurzelnder Mensch. Die Asche meines Vaters liegt in Mailand. Meine Mutter habe ich vor einigen Tagen hier zu Grabe getragen. Ich selbst bin unausgesetzt herumgegondelt - überall ein Fremder. Meine Kinder sind in der Schweiz untersolchen Umständen, daß es für mich an ein umständliches Unternehmen geknüpft ist, wenn ich sie sehen will."
Photo von Dr. Erich Salomon.
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Der auf diese Weise Geschmähte war selbst im großen Saal anwesend.
Mit seiner Stieftochter saß er in einer Loge; ab und zu lächelte er. Es
war aber wohl eher ein schmerzliches Lächeln als ein belustigtes.
Nach den persönlichen Vorwürfen der „Reklamesucht“ und des „Pla-
giats“ kam WEYLAND, von den Zwischenrufern gemahnt, zur Sache,
zur Relativitätstheorie. Diese war für ihn nichts weiter als eine „Mas-
sensuggestion“, Produkt einer geistig verwirrten Zeit, wie sie anderes
abstoßende schon die Menge hervorgebracht habe. So steigerte sich
der Demagoge bis zu dem Satz: Die Relativitätstheorie ist wissenschaft-
licher Dadaismus.
Damit war die Verbindung hergestellt zwischen „entarteter Wissen-
schaft" und dem, was später einmal, während des Dritten Reiches,
„entartete Kunst“ heißen sollte. Der Dadaismus war eine im Gefolge
des Ersten Weltkrieges entstandene neue Kunstrichtung; das „ab-
surde Theater“ von heute und die „Pop-Art" sind Fortsetzungen. Sein
Ziel, beim biederen Bürger eine Schockwirkung zu erzielen, hat der
Dadaismus jedenfalls damals vollkommen erreicht. Der Vergleich der
Allgemeinen Relativitätstheorie mit dem Dadaismus war diabolisch:
Die Formeln EINSTEINs mußten auf den physikalischen Laien tatsäch-
lich so unverständlich wirken wie das Wortgestammel dadaistischer
Gedichte. Zudem besaß EINSTEIN. Wie man wußte pazifistische und
sozialistische Sympathien, was der politischen Tendenz der Dadai-
sten entsprach.
So sollte gegen den Dadaismus und gegen den wissenschaftlichen Da-
daismus der Relativitätstheorie das „gesunde Volksempfinden“ mobi-
lisiert werden. Diese Taktik wurde später von den Nationalsozialisten
zur Meisterschaft entwickelt.
Die gegen ihn geschürten Emotionen sollte EINSTEIN sogleich zu spü-
ren bekommen. Täglich brachte die Post anonyme Drohungen. „Wie
weit die Verhetzung geht“. berichtete MAX VON LAUE, „davon hat
meine Frau gestern abend selbst ein Beispiel erlebt: Meine Frau will zu
EINSTEIN, tritt in sein Haus und ist im ersten Augenblick nicht ganz si-
cher, ob es das richtige ist. Sie fragt darum einen gut gekleideten
Herrn, der gleichzeitig eingetreteıı ist und anscheinend dort wohnt:
,Wohnt hier Professor EINSTEIN?“ Antwort: ,Leider noch immer!“
Vor allem dank seiner zweiten Frau ELSA, die sehon lange in Berlin
lebte, hatte Einstein sich in der Reichshauptstadt gut eingelebt. „Hei-
mat“ ist ihm Berlin freilich nicht geworden. „Ich fühle mich als nir-
gends wurzelnder Mensch“, schrieb er an MAX BORN: „Die Asche
meines Vaters liegt in Mailand. Meine Mutter habe ich vor einigen Ta-
gen hier zu Grabe getragen. Ich selbst bin unausgesetzt herumgegon-
delt - überall ein Fremder. Meine Kinder sind in der Schweiz unter
solchen Umständen, daß es für mich an ein umständliehes Unterneh-
men geknüpft ist, wenn ich sie sehen will. So ein Mensch wie ich denkt
es sich als Ideal, mit den Seinen irgendwo zu Hause zu sein.“
Da ihm Berlin aber einzigartige Arbeitsbedingungen und den Gedan-
kenaustausch mit den hervorragendsten Fachkollegen bot, so fühlte er
sich hier wenigstens in Wissenschaftlicher Hinsicht gut aufgehoben.
Die ständigen Nadelstiche der Antisemiten veranlaßten ihn zu einem
berühmt gewordenen Vergleich: „Ich komme mir vor wie jemand, der
in einem guten Bett liegt, aber von Wanzen geplagt wird.“
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Brief von Arnold Sommerfeld an Albert Einstein vom 3. September1920: „Mit
wahrer Wut habe ich, als Mensch und als Vorsitzender der Deutschen Physikali-
schen Gesellschaft, die Berliner Hetze gegen Sie verfolgt. “
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Antwort Einsteins an Sommerfeld am 6. September
1920: „Bald kam [bei mir] die Erkenntnis, daß es falsch
wäre, den Kreis meiner bewährten Freunde zu verlassen. “
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Für das „Berliner Tageblatt" schrieb er seine Antwort an die „anti-re-
lativitätstheoretische GmbH": „Es wird mir vorgeworfen. daß ich für
die Relativitätstheorie eine geschmacklose Reklame betreibe. Ich kann
wohl sagen, daß ich zeitlebens ein Freund des wohlerwogenen, nüch-
ternen Wortes und der knappen Darstellung gewesen bin. Vor hoch-
tönenden Phrasen und Worten bekomme ich eine Gänsehaut, mögen
sie von sonst etwas oder von Relativitätstheorie handeln. Ich habe
mich oft lustig gemacht über Ergüsse, die nun zuguterletzt mir aufs
Konto gesetzt werden"
Daß es nötig war, sich auf diesem Niveau zu verteidigen. deprimierte
EINSTEIN. Dazu kam Kritik von Freunden, wohlmeinenden Freunden.
die freilich aus der Ferne die Wirkung der systematischen Hetzkam-
pagne nicht zu beurteilen vermochten.
EINSTEIN resignierte. Warum sollte er sich all dem weiter aussetzen?
Am 27. August 1920 meldeten die Zeitungen. daß die Arbeitsgemein-
schaft Deutscher Naturforscher mit Herrn PAUL WEYLAND an der Spitze
offenbar bereits ihr Hauptziel erreicht hatte: „ALBERT EINSTEIN, an-
gewidert von den alldeutschen Anrempelungen und den pseudowis-
senschaftlichen Methoden seiner Gegner, will der Reichshauptstadt
und Deutschland den Rücken kehren. So also steht es im Jahre 1920
um die geistige Kultur Berlins! Ein deutscher Gelehrter von Weltruf,
den die Holländer als Ehrenprofessor nach Leiden berufen, , . . dessen
Werk über die Relativitätstheorie als eines der ersten deutschen Bücher
nach dem Kriege in englischer Sprache erscheint: Ein solcher Mann
wird aus der Stadt, die sich für das Zentrum deutscher Geistesbildung
hält, herausgeekelt. Eine Schande!"
In mehreren Briefen berichtete MAX VON LAUE nach München an AR-
NOLD SOMMERFELD, der damals als Vorsitzender der Deutschen Physi-
kalischen Gesellschaft amtierte: „Meine Bitte, eine Resolution gegen
die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Naturforscher zustande zu bringen
haben Sie wohl schon erhalten und hoffentlich auch schon überlegt,
wie das einzuleiten ist. Wenn etwas noch geeignet ist. Ihren Eifer anzu-
regen, so ist es gewiß die Mitteilung, daß EINSTEIN und seine Frau fest
entschlossen zu sein scheinen, wegen dieser Anfeindungen Berlin und
Deutschland überhaupt bei nächster Gelegenheit zu verlassen. Dann
erlebten wir zu allem sonstigen Unglück also auch noch, daß national
sein wollende Kreise einen Mann vertreiben, auf den Deutschland
stolz sein konnte, wie nur auf ganz wenige. Man kommt sich manchmal
vor. als lebte man in einem Tollhaus.“
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SOMMERFELD war gleich bedeutend als Forscher wie als Universitäts-
lehrer. Seine Studenten nannten ihn, wegen seines martialisch anmu-
tenden Schnurrbartes, den „alten Husarenoberst“. Über die Kam-
pagne gegen EINSTEIN war er zutiefst empört: „Mit wahrer Wut habe
ich, als Mensch und als Vorsitzender der Physikalischen Gesellschaft,
die Berliner Hetze gegen Sie verfolgt“, schrieb er an EINSTEIN: „Eine
warnende Bitte an WOLF-HEIDELBERG, er möchte die Finger davon las-
sen, war überflüssig. Sein Name ist, wie er Ihnen inzwischen geschrie-
ben hat, einfach mißbraucht worden. Ebenso wird es gewiß mit LE-
NARD stehen. Eine feine Sorte, die WEYLAND-GEHRKE!... Von
Deutschland fortgehn dürfen Sie aber nicht! Ihre ganze Arbeit wurzelt
in der deutschen (+ holländischen) Wissenschaft; nirgends findet sie
soviel Verständnis wie in Deutschland. Deutschland jetzt. wo es so
namenlos von allen Seiten mißhandelt wird, zu verlassen, sähe Ihnen
nicht gleich . . ._ Daß Sie, ausgerechnet Sie, sich ernstlich dagegen ver-
teidigen müssen, daß Sie abschreiben und Kritik scheuen, ist ja wirk-
lich ein Hohn auf jede Gerechtigkeit und Vernunft. . . Ich hoffe, Sie
haben inzwischen schon wieder Ihr philosophisches Lachen gefunden
und das Mitleid mit Deutschland, dessen Qualen sich wie überall in
Pogromen äußern. Aber nichts von Fahnenflucht.“
Leider trog SOMMERFELDs Hoffnung, was PHILIPP LENARD betraf. LE-
NARDs ursprüngliche Hochachtung vor Einsteins wissenschaftlichen
Leistungen hatte sich - wohl hauptsächlich unter dem Eindruck der
Weltberühmtheit, die EINSTEIN innerhalb wcnigcr Monate gewonnen
hatte - in eine unüberbrückbare Gegnerschaft verwandelt. Aus freien
Stücken setzte er sich an die Spitze der Einstein-Gegner.
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Solidaritätskundgebungen für Einstein (1920). Links von den Berliner Kollegen
Laue, Nernst und Rubens, rechts vom preußischen Kultusminister Konrad Haenisch.
60
Sonnenfinsternisexpedition von Erwin Freundlich nach Sumatra zur experimen-
tellen Prüfung der Allgemeinen Relativitätstheorie 1929.
60
LENARD war damals knapp sechzigjährig. Er hatte l905 den Nobel-
preis für seine Kathodenstrahlexperimente erhalten. Nach dem Krieg
war sein Ansehen durch das Ungestüm des politischen Auftretens ge-
sunken, und eingeweihte Kollegen hegten Zweifel an seiner Sach-
kompetenz in Fragen der theoretischen Physik. Trotzdem mußte LE-
NARD als wissenschaftliche Größe ersten Ranges gelten.
Im gleichen Jahre 1905, als LENARD im Zenit seines Erfolges stand,
hatte EINSTEIN als junger Beamter am Schweizerischen Patentamt in
Bern seine Spezielle Relativitätstheorie und zwei weitere epochema-
chende Arbeiten veröffentlicht. Seither hatte er sich, wie LAUE,
NERNST und RUBENs konstatierten, „einen unvergänglichen Platz in
der Geschichte unserer Wissenschaft“ gesichert.
Bei der Versammlung der Gesellschaft Deutscer Naturforscher und
Ärzte in Bad Nauheim kam es am 23. September 1920 zum Zusam-
menstoß. Die Diskussion über die Relativitätstheorie wurde zum dra-
matischen Zweikampf zwischen EINSTEIN und LENARD.
Der große Saal des Badehauses in Bad Nauheim und die Galerie wa-
ren voll besetzt. Fast alle namhaften deutschen Physiker waren zuge-
gen. Der Sonderkorrespondent des „Berliner Tageblattes“ berichtete:
„PLANCK eröffnete die Diskussion. EINSTEIN ist der erste Redner. Un-
willkürlich tritt feierliche Stille ein. . . Es handelt sich zuerst um die
Vorträge. Dann kommt die Generaldiskussion über die Relativitäts-
60
Eine Aufnahme der Sonııerıfinsternis. Durch die Ablenkung der Lichstrahlen
am Sonnenranderscheinen die sonnennahen Sterne ein wenig verschoben.
60
theorie. Sie ist ein Zwiegespräch zwischen Geheimrat LENARD (Hei-
delberg) und EINSTEIN, der sein eigener Anwalt ist . . . Es kommt Le-
ben in die Menge. Die Blicke konzentrieren sich auf die beiden Geg-
ner. Es ist wie ein Turnier. LENARD läßt nicht locker, aber EINSTEIN pa-
riert vorzüglich. Hinter mir steht WEYLAND, der Berliner EINSTEIN-Tö-
ter. Auf dem Boden dieser wissenschaftlichen Versammlung hält sich
WEYLAND im Hintergrund der Ereignisse und gibt sein Interesse nur
durch nervöses Schütteln der Mähne und leise Beifallsrufe bei LE-
NARDS Worten zu erkennen.“
Mit der gewohnten Sachlichkeit führte PLANCK den Vorsitz. Schwer
empfand er seine Verantwortung. Die deutsche Wissenschaft rang um
ihre Anerkennung in der Welt; ein Tumult beim Kongreß der größten
wissenschaftlichen Gesellschaft des Landes - das wäre eine Katastro-
phe für das Ansehen des deutschen Geistes gewesen. Ruhig, ein wenig
zeremoniell, erteilte er den Kontrahenten abwechselnd das Wort.
LENARD: „Ich bewege mich nicht in Formeln. sondern in den tatsächli-
chen Vorgängen im Raume. Das ist die Kluft zwischen EINSTEIN und
mir. Gegen seine Spezielle Relativitätstheorie habe ich gar nichts. Aber
seine Gravitationstlheorie? Wenn ein fahrender Zug bremst, so tritt
doch die Wirkung tatsächlich nur im Zuge auf, nicht draußen, wo die
Kirchtürme stehen bleiben!“
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EINSTEIN: „Die Erscheinungen im fahrenden Zug sind die Wirkungen
eines Gravitationsfeldes, das induziert ist durch die Gesamtheit der
näheren und ferneren Massen."
LENARD: „Ein solches Gravitationsfeld müßte doch auch anderweitig
noch Vorgänge hervorrufen, wenn ich mir sein Vorhandensein an-
schaulich machen will.“
EINSTEIN: „Was der Mensch als anschaulich betrachtet, ist großen Än-
derungen unterworfen. ist eine Funktion der Zeit. Ein Zeitgenosse
GALEIs hätte dessen Mechanik auch für sehr unanschaulich erklärt.
Diese ,anschaulichen` Vorstellungen haben ihre Lücken, genau wie
der viel zitierte ,gesunde Menschenverstand.“
EINSTEIN ging auf alle Einwände LENARDs ein und tat das, wie die
Frankfurter Zeitung berichtete, „in vornehmer, bescheidener, ja fast
schüchterner und gerade dadurch überlegener Weise“. Nach vier
Stunden schloß PLANCK die Versammlung. Wenigstens waren äußer-
lich die akademischen Formen gewahrt geblieben. „Da die Relativi-
tätstheorie es leider noch nicht zustande gebracht hat, die zur Verfü-
gung stehende absolute Zeit von 9 bis 1 Uhr zu verlängern, muß die
Sitzung vertagt werden.“ Einen solchen Kalauer hatte man von
PLANCK noch nicht gehört. Es war ihm eine Last von der Seele gefallen.
Was sich da am 23. September 1920 in Bad Nauheim abspielte, waren
die Begleitumstände einer wissenschaftlichen Revolution. Die Allge-
meine Relativitätstheorie machte neue und ganz ungewohnte Aussagen
über die Struktur des Makrokosmos, des Weltganzen, und parallel
dazu veränderte die Quantentheorie die bisherigen Auffassungen über
den Mikrokosmos Atom. Spätestens seit THOMAS S. KUHN und dessen
Buch über „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ wissen
wir, daß ein Zusammenstoß zwischen den traditionellen und den
neuen Denkkategorien geradezu unvermeidlich war.
In der Geschichte der Physik ist also eine Revolution, ein Umsturz im
Weltbild, nichts Einmaliges. Einmalig aber und typisch für die zwanzi-
ger Jahre war die Schärfe, mit der die Auseinandersetzung geführt
Wurde, und das (zumindest unterschwellige) politische Ressentiment
der meisten EINSTEIN-Gegner.
Was war nun das Ergebnis der Nauheimer Diskussion? Die Fronten
hatten sich geklärt, mit großer Mehrheit standen die deutschen Physi-
ker auf EINSTEINs Seite. Besonders die Solidaritätsbeweise von
PLANCK, SOMMERFELD, LAUE, NERNST und anderen hervorragenden
61
Gelehrten hatten EINSTEIN überzeugt. Er dachte nicht mehr daran,
Deutschland und den Kreis seiner „bewährten Freunde“ zu verlassen.
Nur einige wenige Physiker, darunter JOHANNES STARK, der
Nobelpreisträger von 1919, ergriffen die Partei LENARDs. Ihre Versu-
che, die Allgemeinen Relativitätstheorie und die Quantentheorie als „jü-
dische Blendwerke“ verächtlich zu machen, scheiterten, und die Kol-
legen spotteten: „Was man nicht verstehen kann, sieht man drum als
jüdisch an.“ Gegenüber der Allgemeinen Relativitätstheorie vermochte
LENARD keine Alternative aufzuzeigen. Er blieb bei der klassischen
Physik des 19. Jahrhunderts stehen.
Immer mehr traten psychopathische Züge im Verhalten LENARDs her-
vor. Politische tınd wissenschaftliche Ressentiments verbanden sich zu
einer Pseudo-Philosophie. Durch seine später sogenannte Deutsche
Physik erklärte er die schlechte politische Lage wie den vermeintli-
chen Verfall in der Wissenschaft.
LENARD und seine Freunde entwickelten sich zu Außenseitern. Sie
verloren jedes Ansehen und jeden Einfluß. So vollzog sich unter den
Physikern eine Art von Selbstreinigung. Die Gelehrten überwanden
auf ihre Weise den Herrschaftsanspruch des Ungeistes. Gerade weil
LENARD und STARK Wissenschaft und Politik vermengten, wandten
sich ARNOLD SOMMERFELD und andere Physiker entschieden gegen die
„Verquickung von Wissenschaft mit Zeitströmungen. “
Sicher war es richtig, in der Wissenschaft andere als rein wissenschaft-
liche Argumente und Motive nicht gelten zu lassen. Auf der anderen
Seite führte die gleichsam zum Dogma erhobene Trennung von Wis-
senschaft und Politik zu einem Rückzug des deutschen Gelehrten in
seinen Elfenbeinturm. „Der politische Kampf“, so meinte MAX VON
LAUE, „fordert andere Methoden und andere Naturen als die wissen-
schaftliche Forschung.“
Weil das gebildete Bürgertum politische Enthaltsamkeit übte, be-
herrschten die Radikalen die politische Szene. Der deutsche Gelehrte
überließ, wie EINSTEIN sagte. „die Führung widerstandslos den Blin-
den und Verantwortungslosen“ JOHANNES STARK, der beste Freund
LENARDS, gab, wie er stolz berichtete, seine Forschungen auf „und
trat ein in die Reihe der Kämpfer hinter ADOLF HITLER.“
Die schweigende Mehrheit schloß sich im Laboratorium und in der
Studierstube vor dem häßlichen politischen Geschehen ab. Je lauter
die Rufe auf den Gassen, desto stiller die Gelehrten.
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Stiftung der Max-Planck-Medaille durch die Deutsche Physikalische Gesellschaft anläßlich des goldenen Doktorjubiläums von Planck und erste Verleihung an Planck und Einstein. Einstein sagte später über den zwanzig Jahre älteren Freund: „Ich habe kaum einen so tief ehrlichen und wohlwollenden Menschen gekannt. Stets setzte er sich für das ein, was er für Recht hielt, auch wenn es nicht sonderlich bequem für ihn war. Er war stets willens und fähig. neue, ihm fernliegeınde Überzeugungen aufzunehmen und zu würdigen, su daß es nicht ein einziges mal zu einer Verstimmung kam. Was mich mit ihm verband, das war unsere wunschlose und aufs Dienen gerichtete Einstellung. So kam es, daß er, der an einen engeren und weiteren Kreis stark gebundene ernste Mann, mit einem Zigeuner, wie ich es war, einem Unverbundenen, der allem gern die komische Seite abgewann, dıuch fast zwanzig Jahre hindurch in schönster Eintracht lebte.“
ENDE VIII